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BONN / OSTPOLITIK Geheime Denkspiele

aus DER SPIEGEL 21/1970

Fünf Monate lang wartete DDRStaatschef Walter Ulbricht auf Antwort aus Bonn. Am Mittwoch letzter Woche kündigte Bundeskanzler Willy Brandt die mehrfach angemahnte Replik an: ein Bonner Gegenkonzept zu dem von Ost-Berlin im Dezember letzten Jahres präsentierten »Vertrag über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland«.

Die Zeit arbeitete für Walter Ulbricht. Denn Kanzler Brandt will am Donnerstag dieser Woche in Kassel den Anerkennungswünschen des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph weiter entgegenkommen, als er das bisher offiziell getan hat.

In geheimen Denkspielen tüftelten Regierungsbeamte eine Verhandlungsposition aus, die dem Verlangen der DDR nach internationaler Aufwertung Rechnung tragen, es aber zugleich mit Bonns Forderung nach innerdeutschen Regelungen ausbalancieren soll.

Wenn Stoph im Schloßhotel Wilhelmshöhe zum Gipfeltreffen erscheint, kann er erwarten, daß der Bonner Regierungschef ihm

* gemeinsame Bemühungen um die Aufnahme der DDR und der BRD als »vollberechtigte Mitglieder in die Organisation der Vereinten Nationen« (Brandt-Arbeitspapier) anbietet;

* die gegenseitige Entsendung von Hochkommissaren mit diplomatischem Status In die Hauptstädte der beiden deutschen Teilstaaten vorschlägt und

* für das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten eine Absprache offeriert, die sich an Regeln des Völkerrechts orientiert.

Noch Anfang des Jahres hatte Brandts Ostberater Egon Bahr in einem ersten improvisierten Gegenentwurf den Ost-Berliner Wunsch nach voller völkerrechtlicher Anerkennung gänzlich Ignoriert und lediglieb zwischenstaatliche Absprachen vorgeschlagen, die von der Zuschaltung zusätzlicher Telephonleitungen bis zur Regelung des Asylrechts für Flüchtlinge reichten. Bahrs Papier wurde Makulatur, weil Brandt selber einsah, daß Ost-Berlin dies nicht als Verhandlungsgrundlage akzeptieren würde.

Auch in ihrem zweiten Anlauf freilich wollen die Bonner Regierenden nicht davon lassen, der DDR im Austausch für staatliche Aufwertung innerdeutsche Zugeständnisse abzuverlangen. Unklar allerdings ist noch, ob Bonn sie als Bestandteil eines Staatsvertrags oder in einem separaten Abkommen parallel zum Staatsvertrag geregelt haben will.

Einige Brandt-Berater sind der Meinung, man solle Ulbrichts Prozedurvorschlag folgen und »die Beziehungen auf Teilgebieten gesondert vertraglich vereinbaren«. Der Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, Günter Wetzel, dagegen arbeitete in einem nicht-amtlichen Papier das Konzept aus, Anerkennung und menschliche Erleichterungen müßten gleichzeitig in einem Vertragswerk ausgehandelt und paraphiert werden.

Nach seinen Vorstellungen sollen West- und Ostdeutschland Einigkeit erzielen über

* Ausweitung von Handels-, Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen;

* Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wissenschaft, Technik, Kultur und Sport;

* Paß- und Visa-Freiheit für den gegenseitigen Reiseverkehr der Deutschen;

* freien Austausch von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften;

* staatliche Förderung für innerdeutschen Jugendkontakt und gemeinsame Beteiligung an einem europäischen Jugendwerk.

Kanzler Brandt hielt sein Kasseler Projekt lange verborgen. Erst als am Mittwoch letzter Woche ein Delegierter des SPD-Parteitags In Saarbrücken von seinem Parteiführer verlangte, nach dem Treffen in Kassel müsse nun endlich ein Vertrag die Beziehungen zwischen beiden deutschen Teilstaaten regeln, verstand sich Brandt zu einer Ankündigung seiner Absichten: »Ich werde nicht erst nach Kassel, sondern in Kassel Vorschläge dieser Bundesregierung für vertragliche Regelungen zwischen den beiden Staaten auf den Tisch legen und begründen.«

Hinterher erläuterte Brandt, daß nicht die Genossen in Saarbrücken, sondern die Genossen in Ost-Berlin eigentliche Adressaten seiner Rede gewesen seien: »Ich wollte drüben nicht den Eindruck aufkommen lassen, als käme ich ohne was nach Kassel.«

Dieser Eindruck konnte allerdings entstehen, weil Bonn unmittelbar vor der Kasseler Begegnung das Aufnahme-Gesuch Ost-Berlins in die Weltgesundheitsorganisation der Uno (WHO) hintertrieben und damit die DDR verprellt hatte.

Bis zur dreimal verschobenen Abstimmung über einen von Ungarn vorgelegten Aufnahmeantrag der DDR rangen die Bonner Delegationsleiter Professor Ludwig von Manger-König, Staatssekretär im Gesundheitsministerium, und Botschafter Swidbert Schnippenkötter, Bonns ständiger Vertreter in Genf, weisungsgemäß unter den WHO-Mitgliedern um Beistand für die Abblockung der DDR: Nicht die WHO dürfe über die Uno-Reife der DDR entscheiden, sondern allein die Generalversammlung der Vereinten Nationen könne die Vertretung der beiden deutschen Staaten in der Weltorganisation und deren Untergliederungen regeln.

Schnippenkötter bat am Donnerstag letzter Woche, den ungarischen Antrag bis zur nächsten WHO-Konferenz in einem Jahr zu vertagen, und die Mehrheit der Mitglieder stimmte dem zu. Das Kasseler Gespräch war damit laut Stoph »stark belastet«.

Brandt-Berater Conrad Ahlers sah es anders: »Die DDR-Regierung hat seit Erfurt nichts getan, um den Stand der gegenseitigen Beziehungen im innerdeutschen Verhältnis zu verbessern. Warum sollen wir dann unseren Standpunkt ändern?«

Tatsächlich erwähnte DDR-Unterhändler Dr. Gerhard Schüßler, der am vergangenen Dienstag in Kassel zur Ortsbesichtigung erschien, die WHO-Taktik mit keinem Wort. Am Ende des Treffens hatte Bonns Ministerialdirektor Dr. Ulrich Sahm »das Gefühl, daß die Herren der DDR mit den Vorbereitungen zufrieden waren

Zu einer letzten Überprüfung der technischen Vorkehrungen, insbesondere des »heißen Drahtes« vom Konferenzhotel nach Ost-Berlin, treffen sich Schüßler und Sahm zwei Tage vor der Ankunft Stophs noch einmal in Kassel.

Für die Zusammenkunft eröffneten die Vertrags-Ideen des Kanzlers, über die bisher das Bundeskabinett noch nicht informiert wurde, erstmals Möglichkeiten einer Annäherung -- nicht nur zwischen Bonn und den Sowjets, wie die dritte Gesprächsrunde des Kanzler-Staatssekretärs Egon Bahr in Moskau vergangene Woche bestätigte, sondern diesmal auch zwischen Bonn und Ost-Berlin.

Noch allerdings sind die Ausgangspositionen weit voneinander entfernt. Der Ulbricht-Entwurf verlangt, beide Staaten sollten einander völkerrechtlich anerkennen einschließlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und des Botschafter-Austauschs. Die Bundesregierung dagegen hält daran fest, daß die deutsche Nation fortbestehe (so wie es gegenwärtig auch noch in der Verfassung der DDR niedergelegt ist) und die beiden Deutschland deshalb füreinander nicht Ausland sein können.

Ost-Berlin verlangt, daß erst der Staatsvertrag abgeschlossen werden müsse, ehe man über Innerdeutsche Regelungen reden könne, Bonn dagegen besteht auf einer Koppelung beider Themen.

Auch in der Berlin-Frage sind die Standpunkte gegensätzlich: Nach dem Vertragsentwurf der DDR sollen sich beide Staaten verpflichten, West-Berlin als selbständige politische Einheit anzuerkennen; die Bundesrepublik hingegen will von der DDR die Oberhoheit der vier Mächte über ganz Berlin bestätigt bekommen und die Zusicherung erhalten, daß der zivile Verkehr zwischen der BRD und West-Berlin nicht angetastet wird.

Außenminister Walter Scheel stellte vergangene Woche bei seinem Japan-Besuch das Junktim zwischen Berlin-Status und Ostverträgen her: Es »kann mit niemandem ein Vertrag über Grenzen oder Integrität geschlossen werden« solange »die Berlin-Frage nicht gesichert ist und die gewachsenen Verbindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik nicht durch Verträge geregelt sind«.

Sogar über die Laufzeit des künftigen Staatsvertrags gibt es einen Dissens. Der Ulbricht-Entwurf sieht eine Zehn-Jahres-Dauer vor, Bonn hingegen strebt einen unbefristeten Vertrag an, der nur in beiderseitigem Einvernehmen aufgehoben und abgeändert werden könnte.

Deutsche Gründlichkeit bewies beim Verträge-Schmieden der SPD-Stratege Herbert Wehner. Er schlug vor, in einem Passus festzuhalten, daß der Vertrag im Falle der Wiedervereinigung erlösche.

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