TSCHERNOBYL Geheime Grabkammer
Unter den glühenden Reaktorkern trieben Bergleute und Pioniere einen 136 Meter langen Tunnel. Durch ihn wollen sie - mit Hilfe westdeutschen Geräts - einen Betonsockel unter den Reaktor gießen. Von oben schon mit 500 Tonnen Sand, Bor und Blei abgedeckt, wozu auch noch Beton kommen soll, liegt der rumorende Reaktor Nr. 4 des Tschernobyler Lenin-Kraftwerks dann in einem Containment, für Jahrhunderte.
Eine »Grabkammer« nannte Vizepremier Woronin das Gehäuse im Mai, nachdem er den Vizepremier Silajew ohne Angabe von Gründen als Leiter des Aufräumkommandos abgelöst hatte. Vizepremier Schtscherbina, Chef der noch am Tag des GAU vom Kreml eingesetzten Untersuchungskommission, wurde im Juni ausgewechselt gegen Vizepremier Masljukow. Den ersetzte im Juli Vizepremier Gussew, jeweils ohne Angabe von Gründen. So hat Tschernobyl fünf der acht Stellvertretenden Sowjet-Ministerpräsidenten beschäftigt.
Wer schuld war am GAU, welcher Schaden entstanden, wie hoch die Gefahr noch heute ist, bleibt weiterhin geheim. Der geschaßte oder - nach Moskauer Gerüchten - strahlengeschädigte erste Untersuchungsführer Schtscherbina hatte zehn Tage nach dem Jahrhundert-Unglück »örtliche Experten« beschuldigt, »keine korrekte Einschätzung« der Lage getroffen zu haben. Das richtete sich gegen den Direktor des Lenin-Atomkraftwerks, Wiktor Brjuchanow.
Doch den pries die Parteijugendzeitung »Komsomolskaja prawda« noch eine Woche nach der Schtscherbina-Schelte als einen Helden, der Tag und Nacht an der Schreckensstätte rackere. Vier Wochen darauf wurden Brjuchanow und sein Chefingenieur gefeuert: Die beiden hätten versäumt, so der Kündigungsgrund, unter den schwierigen Bedingungen »korrekt und fest« zu führen, vielmehr »Unverantwortlichkeit und Unfähigkeit« gezeigt.
Zwei Stellvertreter Brjuchanows mußten vorher schon wegen mangelnder Pflichterfüllung gehen, ein dritter war »im schwierigsten Moment« geflüchtet. Der Gewerkschaftschef und der Parteijugendleiter am Ort wurden von den Kiewer Parteioberen streng gerügt.
Doch auch die Nachfolger des Kraftwerk-Direktors, des Aufräum-Aufsehers und des Untersuchungsführers haben die Katastrophenfolgen noch nicht voll im Griff. Ein Kipplader fuhr über das Rohr, das verseuchtes Wasser unter dem Reaktor ableiten soll, 110 Liter schossen jede Sekunde heraus, vier Arbeiter riskierten ihr Leben, bis es ihnen beim vierten Anlauf gelang, das Leck abzudichten.
Wie es drinnen im Reaktor aussieht, weiß niemand. Täglich flogen, höchst _(Test eines ferngesteuerten ) _(Räumfahrzeugs. )
gefährlich. Hubschrauber darüber und maßen den Fallout. Jetzt wurde zur Kontrolle von Temperatur und Strahlung im Reaktor und über ihm ein Stahlrohr mit einer Sonde zwölf Meter tief durch den dammenden Berg in das Höllenfeuer gestoßen. Das gelang- per Hubschrauber - erst beim dritten Versuch.
Die 300 Meter langen Verbindungskabel fielen einige Meter zu weit auf verseuchten Boden. Arbeiter aus dem Tunnel zogen »unter Einsatz ihres Lebens« ("Prawda") die Drähte auf weniger radioaktives Territorium.
Das bedeutet, daß in unmittelbarer Nähe des Reaktors noch immer eine bedrohliche Strahlung herrscht: Arbeiter dürfen sich dort nach amtlichen Angaben nur jeweils eine Minute lang aufhalten. Das kann heißen, daß die Radioaktivität wieder gestiegen ist. Denn der Vizechef des »Staatskomitees für Kontrolle der gefahrlosen Durchführung der Arbeiten in der Atomenergiewirtschaft«, Sidorenko, hatte Ende Mai mitgeteilt, in der ersten Woche nach der Explosion habe die Strahlung im Umkreis von 400 Metern um den Reaktor lediglich fünf bis zehn rem in der Stunde betragen (spätestens bei 50 rem soll in der UdSSR evakuiert werden).
In den Betriebsräumen des abgeschalteten, aber intakten Reaktors Nr. 3, der von dem Unglücksblock Nr. 4 nur durch eine Wand getrennt ist, hätte laut Sidorenko im Mai das Personal »ohne großes Risiko« seinen Dienst verrichten können: die Reaktoren 1 und 2 - in einem anderen Gebäude - sollen im Oktober wieder ans Netz gehen. Das Sowjetfernsehen zeigte wiederholt Personen, die unmittelbar neben der Strahlenquelle Nr. 4 sogar ohne ausreichenden Mundschutz herumstanden.
In der ganzen 30-Kilometer-Sperrzone, so meldete Ende Mai Vizepremier Woronin, sinke die Radioaktivität täglich um fünf Prozent. Demnach wäre sie spätestens nach 20 Tagen verschwunden. Ausländer erfuhren einen Meßwert: In der neben dem Atommeiler gelegenen Ortschaft Pripjat zählte Anfang Juni der Vize-Direktor des Moskauer Kernenergie-Instituts, Legasow, zwischen 5 und 40 Millirem je Stunde - mindestens das 200fache des Normalen.
Er gestand auch (dem österreichischen Magazin »Profil"),. daß aus der 100 Kilometer nördlich von Tschernobyl gelegenen Stadt Gomel, weit außerhalb des Sperrgebiets, die Kinder evakuiert wurden. Vier Wochen später berichtete dann auch die Sowjetpresse, ab 28. Mai seien jeden Tag bis zu 10000 Kinder abgereist, dazu Mütter, Schwangere, Alte und Invaliden - obschon die Strahlenbelastung »minimal« sei und »keine objektive Gefahr« bedeute.
Die Transporte aus Gomel gingen vor allem an die Wolga. Vorigen Dienstag teilte die »Iswestija« mit, daß Tausende, die in die Umgebung des Sperrkreises verbracht worden waren, nochmals umquartiert werden, weil sie auch dort »unter Einfluß der Strahlung« geraten.
Als die Deutsche Presse-Agentur am 14. Mai vom Anruf einer Einwohnerin Gomels berichtet hatte, in der belorussischen Stadt falle den Leuten das Haar aus, dementierten Sowjet-Offizielle noch und machten sich lustig: In dem Zustand könne man nicht mehr telephonieren.
Nach dem Leukämie-Tod des Marockaners Samir Ed-Dschich, 22, der in Kiew studiert hatte, nannte die Sowjetagentur Tass am 12. Juli den Verdacht eines Zusammenhangs mit Tschernobyl »verantwortungslos« und zitierte den Sowjet-Mediziner Worobjow: »Selbst unmittelbar nach der Havarie im Kernkraftwerk im April« sei die Strahlung wesentlich niedriger als bei einer Röntgenaufnahme gewesen.
Aber länger anhaltend. Eine Kiewer Lokalzeitung nannte jüngst erstmals, wenn auch ohne Vergleichszahl, einen Meßwert: 0,1 Millirem je Stunde, also noch immer über viermal mehr als die normalen etwa 200 Millirem je Jahr.
Die Sowjetbehörden raten denn auch den Landarbeitern der Ukraine. »Regeln der persönlichen Hygiene einzuhalten«; Trecker mit luftdichten Kabinen werden konstruiert. Die Stadt Kiew am Dnjepr, in dessen Stausee vom Westen her der mit Tschernobyl-Grundwasser angereicherte Pripjat einfließt, bekommt neues Wasser.
An den Ufern des Pripjat hatte man Dämme gegen den Zufluß von Oberflächenwasser _(Messen der Radioaktivität am Kopf der ) _(Brennstä be am 28. Mai. )
aufgeworfen, was offenbar nicht genügte: Jetzt wurde vom Fluß Desna, der sich von Osten her mit dem Dnjepr vereinigt, eine sechs Kilometer lange Wasserleitung direkt nach Kiew gelegt und eine Pumpstation »Rossa300« gebaut, die mit acht atü das Wasser in die ukrainische Hauptstadt drückt. Speziell für Kiews Bäckereien und Molkereien wurden 58 artesische Brunnen gebohrt, 160 bis 330 Meter tief.
Zugleich ging es an die »komplizierte Aufgabe«, so der ukrainische Bauminister Borissowski, das Grundwasser von Tschernobyl daran zu hindern, sich in den Pripjat zu ergießen. Borissowkis Lösung: eine Dränage aus 73 Löchern 40 Meter tief bis zu einer undurchlässigen Schicht, und kleinen Kanälen, aus denen das Wasser herausgepumpt wird.
Es ist wohl gar nicht verseucht, laut Borissowski jedenfalls wird es nun oberirdisch in den Pripjat geleitet. Jetzt, hofft Borissowski, »ändern Ströme und Strömchen im Untergrund ihren Lauf, fort vom Kraftwerk, und können keine radioaktiven Komponenten aufnehmen«. Alles richtet sich: »Um die Verluste auszugleichen, die im Kernkraftwerk Tschernobyl entstanden sind«, hat das Personal dies Kraftwerks von Sumy im Donezbecken versprochen, einen neuen Energieblock vorfristig in Gang zu setzen; die ukrainische Regierung hat zum Stromsparen aufgerufen.
Gefahren gibt es gar nicht, beharren die Medien. Das Wasser des Dnjepr entspreche trotz aller aufwendigen Gegenmaßnahmen »wie bislang den Sanitärnormen«, behauptet Minister Borissowski. In der Lokalzeitung »Prawda Ukrainy« äußern Politiker, es gebe keinen Grund, mit kleinen Kindern Kiew zu verlassen, und Mediziner wundern sich über den »Wunsch von Frauen, die Schwangerschaft zu unterbrechen«. Eben das haben Ärzte in Sowjet-Litauen Schwangeren geraten.
Die Medien halten sich weisungsgemäß zurück, das Parteiorgan »Prawda« selbst begnügt sich jetzt mit der Veröffentlichung von Leserbriefen. »In unseren Zeitungen und aus den Nachrichten des Lokalsenders erfährt man nichts« über Tschernobyl oder Strahlengefahr, schrieb ein »Prawda«-Leser aus Tschernigow, wohin viele der Evakuierten verbracht wurden. Ein Leser aus Gomel beschwerte sich, es würden »wilde Zahlen über die Stärke der Strahlung« genannt. Manche Berichte der staatlichen Medien, klagte der ukrainische Schriftsteller Schtscherbak in der »Literaturzeitung«, brachten nur »künstlich muntere, siegesgewisse Töne«.
Anders klang, was Parteichef Gorbatschow unter Genossen sagte. Sein Bericht vor osteuropäischen Parteiführern über Tschernobyl und die Folgen, so erzählte sein DDR-Kollege Erich Honecker in einem Interview mit der schwedischen Zeitung »Dagens Nyheter«, war »erschütternd«, das Leid der Menschen in und um Tschernobyl sei »unfaßbar«.
Der Sowjetführer, Herr über 44 Kernreaktoren ohne Berstschutz, sprach beim Essen mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 7. Juli im Kreml aus, was ihn seit Tschernobyl bedrückt: die Gefahr einer weltweiten Katastrophe schon bei einem Krieg mit konventionellen Waffen, allein durch Zerstörung eines Reaktors.
Gorbatschow: »Einige wenige konventionelle Artilleriegeschosse würden ausreichen.«
Test eines ferngesteuerten Räumfahrzeugs.Messen der Radioaktivität am Kopf der Brennstä be am 28. Mai.