Zur Ausgabe
Artikel 41 / 67

INDIEN / FAMILIENPLANUNG Geheime Verführer

aus DER SPIEGEL 40/1967

Indiens Schicksalsuhr schlägt 55mal am Tag. Jedes Bumm signalisiert einen unerwünschten Boom: die Ankunft von weiteren tausend Babys.

Die Baby-Uhr -- eine Erfindung des Ministers für Gesundheit und Familienplanung, Sripati Tschandrasekhar, 49, -- soll jetzt im Amtssitz der Ministerpräsidentin Indira Gandhi aufgestellt werden: zur unüberhörbaren Mahnung, »wie verzweifelt unsere Lage ist«.

Das Halb-Milliarden-Volk vermehrt sich alle 24 Stunden um 55 000 Neu-Bürger -- die Bevölkerung einer ausgewachsenen Mittelstadt. Tschandrasekhar will die explosive Geburtenrate innerhalb eines Jahrzehnts entschärfen.

Im Allerheiligsten indischer Fruchtbarkeit, dem Konarak-Tempel, dessen berühmte erotische Skulpturen selbst in Greisen »Feuersbrünste der Lust entfachen« ("Newsweek"), ließ der Minister Plakate kleben: »Überleg es dir hundertmal, bevor du ein unschuldiges Kind in die Welt setzt.«

Der oberste Babyplaner will Millionen Flugblätter mit Verhütungs-Tips auf die Dörfer regnen lassen. Indiens Pop-Barde Mohammed Rafi wird täglich im Radio von der Liebe singen -- von der Liebe ohne Furcht und Folgen. In Läden und Straßenverkaufsständen werben Planungs-Plakate für die staatlich gewünschte Zwei-Kinder-Familie.

Tschandrasekhar, Absolvent der New York University und mit einer New Yorkerin verheiratet, erwägt sogar, Amerikas geheime Verführer aus der New Yorker Madison Avenue in seine Anti-Baby-Bataille einzuspannen: Die Werbefirma J. Walter Thompson bewarb sich um den Auftrag, »Kondome so populär wie Coca Cola« zu machen.

Der Minister, Vater von drei Kindern, hält die Sterilisierung des Mannes für das probateste Mittel. Er meldete sich freiwillig zum Einschnitt und versprach Nacheiferern Transistor-Radios als Prämie. Medizin-Studentinnen des US-Friedenskorps assistieren in vielen Sterilisierungs-Stationen des Landes.

Doch sind die staatlichen Geburtenplaner keineswegs dogmatisch: Sie propagieren jedes Mittel »von der Methode christlicher junger Männer (kalte Dusche) bis zur modernen Pille«. Nur: In Indiens 566 000 Dörfern, wo 80 Prozent der Bevölkerung leben, hat man keine Dusche, und die modernen Mittel scheitern häufig an Armut, Aberglauben und Unkenntnis. So demonstrierten zum Beispiel Planungshelfer die Anwendung von Kondomen der heimischen Marke »Nirodh« (etwa: Freiheit von Furcht), indem sie die Furchtbefreier auf Bambusstöcke zogen. Die Bauern machten es ebenso -- und waren verwundert, als sich Nachwuchs einstellte.

Das Landvolk steht unter dem Einfluß von »Vaidyas« und »Hakims«, von Quacksalbern und Homöopathen. Deren Hauptgeschäft aber ist der Vertrieb von Aphrodisiaka, hausgemacht nach den Rezepten der Liebes-Klassiker »Kamasutra« und »Anangaranga«.

Der ganze Subkontinent hat nur 85 000 westlich geschulte Ärzte, 85 Prozent davon praktizieren in den Städten. Aber in fast jedem Dorf lebt ein Hakim: insgesamt sind es etwa 500 000 -- und sie will Familienplaner Tschandrasekhar jetzt für seinen Feldzug gewinnen.

Der Minister appellierte an die Hakims, in ihren Wurzel- und Kräuterbüchern nach sterilisierenden Mixturen zu suchen. Für jedes Rezept, das billig, einfach und wirksam ist, versprach er ihnen 53 300 Mark. Innerhalb weniger Wochen erhielt das Ministerium 360 Eingesandt, 150 werden inzwischen von Wissenschaftlern getestet.

Vorerst bauen die Familienplaner noch auf die Mittel des Westens -- und auf westliche Unterstützung: Zum erstenmal in der Geschichte der US-Auslandshilfe hilft Amerika einem Entwicklungsland mit Kondomen aus. Mitte September bot Washington Indien 100 Millionen Stück Gummiware als Geschenk.

Zur Ausgabe
Artikel 41 / 67
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren