ZEITGESCHICHTE Geheimnis bewahrt
Dreizehn Minuten nach der ersten Explosion erschütterten drei fürchterliche Stöße das Schiff achteraus von uns an der Steuerbordseite. Die Lichter gingen aus, und das Schiff nahm sofort Schlagseite von etwa 35 Grad an.«
Captain R. F. Nichols, Erster Offizier des britischen Schlachtschiffs »Royal Oak«, erinnert sich noch genau an die Versenkung seines Schiffes durch das deutsche U-Boot »U-47«. In einem waghalsigen Unternehmen hatte Kapitänleutnant Günther Prien sein U-Boot in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 1939 in den Flottenstützpunkt Scapa Flow gesteuert, allen Sperren, Wachbooten, Untiefen und Strömungen zum Trotz.
Das Versteck der britischen Flotte auf den Orkney-Inseln galt bis dahin als absolut U-Boot-sicher. Alle Versuche deutscher U-Boote im Ersten Weltkrieg, in den Marinestützpunkt einzudringen, waren gescheitert.
U-47 feuerte im Über-Wasser-Angriff vier Torpedos auf die »Royal Oak« ab, von denen drei nicht explodierten. Prien konnte ablaufen, nachladen lassen und in erneutem Angriff die »Royal Oak« versenken, das Flaggschiff des Befehlshabers der Home Fleet, Admiral Forbes.
Dicht hinter der »Royal Oak« meinte Prien die Umrisse eines weiteren großen Schiffes entdeckt zu haben, er identifizierte es als das Schlachtschiff »Repulse« und brachte ihm einen Torpedo-Treffer bei.
Für den Scapa-Flow-Erfolg erhielt Prien nach gelungener Rückkehr von Hitler das Ritterkreuz. Der »Stier von Scapa Flow« (Marinejargon) wurde zur Legende deutscher U-Boot-Tradition -- aber ein Rätsel konnte bislang nicht gelöst werden:
So zweifelsfrei die Versenkung der »Royal Oak« war, die Identität des zweiten, von Prien angeblich torpedierten Schiffes blieb bis heute einer der wenigen unaufgeklärten, zwischen Deutschen und Briten hartnäckig umstrittenen Seekriegs-Fälle, jetzt wieder aufgerührt in einer Untersuchung des französischen Marinehistorikers Alexandre Korganoff*.
Von Anfang an hatten die Briten in Abrede gestellt, daß Prien zwei Schlachtschiffe angegriffen habe. Nach der amtlichen britischen Kriegsgeschichte von 1954 bat Prien vielmehr die »Repulse«, eines der größten Kriegsschiffe der Royal Navy, mit der »Pegasus« verwechselt, einem alten, zum Flugzeugmutterschiff umgebauten Schiff, das im Hafen lag, nach britischer Lesart freilich gar nicht getroffen wurde.
Die beiden einzigen noch lebenden Augenzeugen von U-47, der Bootsmaat Dziallas und der Matrosengefreite Hänsel, bestreiten die britische Darstellung. Beide befanden sich während des Angriffs auf der U-Boot-Brücke und halten noch heute an der Darstellung des 1941 gefallenen Prien fest.
Sie wollen, wie der Kommandant, auf dem Schiff hinter der »Royal Oak« eindeutig zwei Schornsteine ausgemacht haben, die »Pegasus« aber hatte nur einen ganz achtern.
* Alexandre Korganoff: »Prien gegen Scapa Flow. Motorbuch Verlag, Stuttgart; 228 Seiten; 29 Mark
Daß ein Kommandant wie Prien aus nur 1500 Meter Entfernung die Silhouette eines Schlachtschiffes mit der eines Flugzeugmutterschiffes verwechselt haben könnte, halten deutsche Marineexperten für fast ausgeschlossen. Immerhin war die »Pegasus« wesentlich kleiner als das Schlachtschiff und besaß mit dem hohen achteren Schornstein die markanteste Silhouette der ganzen Royal Navy.
Klarheit, welches das zweite Schiff war, das Prien angegriffen hat, konnte auch der amerikanische Journalist Gerald 5. Snyder in seiner gerade erschienenen Darstellung vom Untergang der »Royal Oak« nicht schaffen*.
Gemäß der britischen Version stellt Snyder den Vorgang so dar, als ob sich nur die »Pegasus« und kein anderes Schiff in der Nähe der »Royal Oak« befunden habe -- aber einen Beweis dafür liefert er nicht, auch keine Erklärung dafür, daß Prien zwei so ungleiche Schiffe verwechselt haben sollte.
Wenn Prien aber entsprechend der deutschen Version nicht die »Pegasus« torpediert hat, welches Schiff dann? Die »Repulse«, so die britische Marineleitung lakonisch, »befand sich zur fraglichen Zeit auf See.«
Nach einer, wenn auch mehr spekulativen Theorie von Marine-Experten könnte Prien möglicherweise das alte, zum Artillerieschulschiff umgebaute Schlachtschiff »Iron Duke« torpediert haben, das wenig Später. von den Briten unbestritten, in Scapa Flow
* Gerald 5. Snyder: The Reyal Oak Desaster William Kimber, London; 240 Seiten. 5.75 £.
durch einen Nahtreffer deutscher Ju88-Bomber versenkt wurde.
Daß ein Bomben-Nahtreffer ein noch so altes Schlachtschiff versenken könne, erklären die Engländer damit, daß beim Umbau der »Iron Duke« der Seitenpanzer entfernt worden war.
Die Deutschen wiederum behaupten, auch ohne Seitenpanzer könne ein so großes Schiff unmöglich einem Bomben-Nahtreffer zum Opfer fallen, es sei denn, dieses Schiff sei schon schwer beschädigt gewesen -- durch einen Prien-Torpedo.
Die Deutschen argwöhnen, der britische Marine-Stolz sei vom Prien-Erfolg dermaßen getroffen gewesen, daß die Engländer noch heute die Versenkung der »Iron Duke« lieber den deutschen Ju-88 als dem deutschen U-Boot zuschreiben.
Mögliche Erklärung für britische Empfindlichkeit in diesem Punkt: Die »Iron Duke« war zwar alt, aber von großer Symbolkraft: Sie war das Flaggschiff Admiral Jellicoes in der Seeschlacht vor dem Skagerrak 1916.
Spätestens am 14. Oktober 1969 hätten die Briten das Geheimnis um Priens Scapa-Flow-Unternehmung lüften müssen. Zu diesem Zeitpunkt lief die 30-Jahres-Frist ab, während der keine Geheimakten veröffentlicht werden dürfen. Doch trotz verschiedener Anfragen von Marineleuten und Historikern berief sich die Admiralität auf den »Official Secrets Act« und verweigerte weiter jede Akteneinsicht.
»Seit Oktober letzten Jahres«, so der deutsche Historiker Professor Jürgen Rohwer, »haben die Briten über 116 000 deutsche Marine-Funksprüche, die sie im Zweiten Weltkrieg aufgefangen und entschlüsselt hatten, für die Marineforschung freigegeben. Es ist kaum einzusehen, warum sie jetzt nicht auch das Geheimnis um Scapa Flow preisgeben.«