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Titel Geheimnis der Gesundheit

Evolutionsmediziner erforschen, warum wir krank werden: Die meisten Leiden brechen nur deshalb aus, weil der Körper nicht für die moderne Welt gemacht ist. Wer diese Unstimmigkeit durch Ertüchtigung, ausgewogene Ernährung und weniger Hygiene mindert, kann sein Leben erheblich verlängern.
aus DER SPIEGEL 40/2009

Daniel Lieberman öffnet die Tür zur Knochenkammer. Ein Skelett grinst in der Ecke. In Stahlregalen liegen Tausende Pappschachteln.

Wahllos nimmt Lieberman den Karton Nummer 57886 aus einem Regal, hebt den Deckel und holt den bräunlichen Schädel eines Menschen hervor. Mit dem rechten Zeigefinger fährt er über die ebenmäßige Zahnreihe des Oberkiefers: »Sehen Sie nur, wie schön das angeordnet ist«, sagt Lieberman. »Und die Backenzähne sind auch alle am rechten Platz.«

So geht das munter weiter in den osteologischen Sammlungen des Peabody-Museums, das zur Harvard University im amerikanischen Cambridge gehört. Die Schädel, die Lieberman, 45 und Professor für Evolutionsbiologie des Menschen, hervorkramt, stammen aus allen Erdteilen und sind viele hundert Jahre alt. Zahnspangen waren damals noch nicht erfunden, und doch hatten die Besitzer der Schädel erstaunlich gerade Zähne - weil sie bei jeder Mahlzeit noch tüchtig kauten.

»Die Kiefer brauchen mechanische Belastung«, erklärt Lieberman. »Nur so können die Kieferknochen ausreichend wachsen und allen Zähnen Platz bieten.«

In Fütterungsstudien hat Lieberman diesen Zusammenhang wissenschaftlich nachgewiesen, und zwar an Klippschliefern. Das sind murmeltierähnliche Pflanzenfresser, die in Afrika und Westasien beheimatet sind und anatomisch gesehen ihre Nahrung ganz ähnlich wie Menschen mit den Backenzähnen zermalmen. Nun hat Lieberman heranwachsenden Klippschliefern eine artfremde Kost vorgesetzt: zerkleinerte Äpfel, Karotten und Süßkartoffeln, die er zuvor in der Mikrowelle weich gekocht hatte. Drei Monate lang gab es diesen Fraß, dann vermaß Lieberman die Schädel der Tiere und stellte fest: Im Unterschied zu Artgenossen, die hartes, weil getrocknetes Obst und Gemüse zu knabbern bekommen hatten, waren die Kiefer der Breifresser kleiner geblieben: um etwa sechs Prozent.

Ähnlich gehemmt sei das Wachstum der Kauleisten von Menschen, die sich von Fast Food und industriell aufbereiteten Lebensmitteln ernähren, sagt Lieberman. Die Betroffenen hätten in der Folge verkümmerte Kiefer und einfach nicht genug Platz für ihre Zähne - die scheinbar übergroßen Beißer schieben sich kreuz und quer in den Mund. Es entsteht ein unansehnlich schiefes Gebiss, falls es nicht mit Drähten in Form gebracht wird.

Die unter Teenagern zum Normalfall gewordenen Zahnspangen sind nicht die einzigen Anzeichen, wie schlecht der menschliche Körper in die Industriegesellschaft passt. Ob Gefäßverkalkung oder Gicht, ob Bluthochdruck, Depressionen, Diabetes, Fehlsichtigkeit, Fettsucht, Heuschnupfen, Krebs, Kreuzschmerzen, Leistenbruch, Magersucht oder Schüttellähmung - viele Volksleiden entstehen vor allem deshalb, weil Menschen nicht mehr im Gleichgewicht mit ihrem biologischen Erbe leben.

»Fast jeder Aspekt der menschlichen Biologie, der in der Medizin eine Rolle spielt«, erklärt Stephen Stearns von der Yale University in New Haven, Connecticut, »ist durch unsere evolutionäre Vergangenheit geformt worden.«

Stearns gehört zu einer wachsenden Zahl von Biologen und Ärzten, die sich der Evolutionsmedizin verschrieben haben. Sie erforschen, wie seine stammesgeschichtliche Herkunft den Körper geprägt hat - und sie suchen systematisch nach Rezepten, die sich schon in der Steinzeit bewährt haben.

»Die evolutionäre Medizin erlaubt uns, besser zu verstehen, warum wir krank werden«, sagt Detlev Ganten, 68, ehemaliger Chef der Berliner Charité. Der traditionell ausgebildete Arzt und Genforscher hat nun ebenfalls die Bedeutung dieser bisher übersehenen Perspektive erkannt und legt dazu jetzt ein Buch vor.

Die Prävention von Krankheiten werde auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden, prophezeit Ganten: »Wir können lernen, wie wir den Körper und seine biologischen Erfordernisse in Einklang bringen.«

Wer dies beherzigt, der darf sich auf ein deutlich verlängertes Leben freuen. Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke haben das kürzlich an besonders schlimmen Volkskrankheiten dokumentiert: Diabetes Typ 2, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs.

Den Lebensstil von mehr als 23 000 Frauen und Männern aus Brandenburg haben die Forscher etwa acht Jahre lang verfolgt. Ihr Befund: Wer sich jede Woche mindestens dreieinhalb Stunden körperlich ertüchtigte, wer nicht rauchte, sich ausgewogen ernährte (viel Obst und Getreide, wenig Fleisch) und nicht fettleibig war (Body-Mass-Index von unter 30), der wurde reich belohnt: Diese auf die evolutionären Bedürfnisse abgestimmte Lebensweise senkte das Risiko für die Erkrankungen um 78 Prozent.

Viel Bewegung und gesunde Ernährung - so banal das Rezept erscheint, so sehr wird seine verblüffende Wirksamkeit bis heute unterschätzt. »Das Ergebnis hat uns überrascht«, gesteht auch die an der Studie beteiligte Epidemiologin Janine Kröger, 27. »Wir hätten nicht gedacht, dass der Effekt so groß ist.«

Obwohl immer mehr Studien die Erkenntnisse der Evolutionsmediziner eindrucksvoll untermauern, finden sie im modernen Medizinbetrieb noch zu wenig Beachtung. Ganz im Gegenteil. Ärzte doktern oft bloß an Symptomen herum, die eigentlich zu vermeiden gewesen wären. »Ob Plattfüße, Schlaganfall oder Osteoporose - wir erfinden Einlagen, Operationen und Pillen, um mit diesen Erkrankungen leben zu können«, sagt Harvard-Professor Lieberman. »Dadurch entfernt sich unsere Kultur aber nur noch weiter von jener Lebensweise, für die unser Körper gemacht ist. Ich nenne das: Miss-Evolution.«

Die Umwelt in den Industriestaaten passt nicht zur Natur des Menschen - diese wachsende Unstimmigkeit ist einer der wesentlichen Gründe für die explodierenden Ausgaben des Krankheitssystems: Rund 253 Milliarden Euro haben die Deutschen dafür allein im Jahr 2007 ausgegeben - mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Dabei müssen gerade die häufigsten und teuersten Leiden gar nicht sein. Alles in allem wären wohl 70 Prozent der gesamten Krankheitslast zu vermeiden, wenn die Leute sich stärker auf die evolutionären Bedürfnisse von Leib und Seele besännen. Beispiel Diabetes Typ 2: Mehr als 90 Prozent aller Erkrankungen werden durch einen Lebenswandel ausgelöst, für den des Menschen Körper nun einmal nicht evolviert ist: Zum widernatürlichen Bewegungsmangel kommt eine Ernährung voller Industriezucker.

Den brüllenden Hunger der Steinzeit wünscht sich niemand zurück und auch nicht die seinerzeit so erschreckend hohe Sterblichkeitsrate. Antibiotika und Geburtszange, pasteurisierte Milch und Konservendosen, Heizungen und Roboter sind ein Segen. Die heutigen Menschen leben

länger als ihre Vorfahren. Und doch: »Die Menschen hätten erheblich mehr gesunde und glückliche Jahre«, sagt der Mediziner Ganten, »wenn sie jeden Tag ausgedehnte Wanderungen unternähmen.«

Auf den Touren könnten sie getrost auch einmal aufs Schuhwerk verzichten. Es schützt zwar vor Schnittverletzungen, hat aber eine überraschende Nebenwirkung, so eine Studie unter 2300 Kindern in Indien: Jene Mädchen und Jungen, die immer barfuß liefen, hatten nur in 2,8 Prozent der Fälle Plattfüße. Unter jungen Schuhträgern dagegen watschelten 13,2 Prozent. Die Schuhe hatten Muskeln ihrer Füße verkümmern lassen, unterfordert sanken die Fußrücken nach unten.

Doch wer heute mit nackten Füßen los will, gilt als Infektionsherd. »In meinem Fitness-Studio ist es deshalb verboten, die Laufbänder ohne Schuhe zu benutzen«, klagt Lieberman.

Dann also im Freien barfuß laufen - was noch einen weiteren Vorzug haben kann: nämlich den, sich einen Hakenwurm einzufangen. Die in warmen Ländern auf dem Boden herumlungernden Larven bohren sich durch die Haut und lassen sich mit dem Blutstrom in die Lunge spülen, von wo aus sie in die Bronchien gelangen. Der infizierte Mensch hustet die Larven in den Mund, schluckt den Schleim und transportiert die Parasiten auf diese Weise an den Ort ihrer Bestimmung: in den Darm, wo sie zu Würmern heranreifen und Blut an den Zotten saugen.

Das klingt nach blankem Horror - und doch kann zumindest ein milder Wurmbefall gut für die Gesundheit sein. In armen Ländern ist es bis heute die Regel, besiedelt zu sein. Milliarden Erdenbürger teilen ihren Körper mit Haken-, Spul-, Peitschen- und Madenwürmern - und leiden im Unterschied zu den steril abgeschirmten Einwohnern der Industriestaaten äußerst selten an allergischen Erkrankungen.

Eine Studie aus Gabun legt einen direkten Zusammenhang nahe. Tropenmediziner behandelten dortige Kinder mit Anti-Wurm-Mitteln. Doch als die Parasiten verschwanden, stiegen die Fälle der allergischen Reaktionen gegen Hausstaubmilben.

Mensch und Wurm sind im Laufe der Evolution eine innige Beziehung eingegangen. Die Parasiten geben Signalstoffe ab, dämpfen mit ihnen das Immunsystem des Menschen und können deshalb in dessen Körper überleben. Wird den Würmern nun durch Medikamente der Garaus gemacht, verschwindet mit ihnen dieser zügelnde Einfluss. Das Immunsystem kennt dann oftmals kein Halten mehr - und attackiert sogar das Gewebe des eigenen Körpers: Asthma, Heuschnupfen, entzündliches Darmleiden, Multiple Sklerose und weitere Autoimmunerkrankungen können die Folge sein.

»Viele, viele tausend Jahre lang hatten Menschen eine bestimmte Lebensweise. Voriges Jahrhundert hat sich das plötzlich geändert«, sagt Joel Weinstock, 61, ein Facharzt für Magen- und Darmkrankheiten am Tufts New England Medical Center in Boston. »Und einige dieser Änderungen machen uns anfällig für Krankheiten. Die immunologischen Leiden sind eindrückliche Beispiele dafür.«

Weinstock hält ein kleines Glas voller Formalin ans Licht: Darin treibt ein weißer Faden, etwa einen Zentimeter lang: Trichuris suis, ein Peitschenwurm, der im Darm von Schweinen lebt. Das Geschöpf befällt auch Menschen, kann sich in deren Eingeweiden jedoch nicht dauerhaft einnisten; genau deshalb hat Doktor Weinstock das Würmchen zur Behandlung von Patienten auserkoren.

Für eine Studie hat er 29 Menschen ausgewählt, die an der chronischen Darmentzündung Morbus Crohn erkrankt waren. Tapfer tranken die Testpersonen alle drei Wochen einen Trunk, der jeweils 2500 winzig kleine Wurmeier enthielt. Aber es war die Sache wert: Bei immerhin 72 Prozent der Probanden waren die Symptome nach fünf Monaten merklich gelindert.

Obwohl die Wurmkur noch nicht ausgereift ist, bestürmen Patienten aus der ganzen Welt Weinstock, wie sie an die Eier kommen können. »Jeden Tag erhalte ich E-Mails«, sagt er. »Eine war von der Familie eines Kindes, dem ein Teil des Darms entfernt werden soll.«

Viele der verzweifelten Patienten wissen mehr als ihre Hausärzte. Von denen haben die meisten noch nie etwas von der evolutionären Rolle der Würmer gehört und merzen sie reflexartig aus.

Detlev Ganten in Berlin sieht gewaltigen Nachholbedarf. »In der Ausbildung der Mediziner spielt die Evolutionsmedizin leider bisher noch überhaupt keine Rolle«, klagt er. »Dabei sollte die evolutionäre Perspektive das Denken eines jeden Arztes beeinflussen.«

Auf den ersten Blick erscheint es freilich erstaunlich, dass der Homo sapiens nicht robuster aufgestellt ist. Nach dem vom britischen Naturforscher Charles Darwin (1809 bis 1882) beschriebenen Prinzip der natürlichen Selektion setzten sich ja nur die fittesten Individuen durch. So gesehen ist eigentlich jeder heute lebende Durchschnittsbürger ein Überlebenskünstler der Evolution - doch warum strotzt er dann nicht vor Gesundheit und wird fröhlich 100 Jahre alt?

Zug um Zug erkennen die Wissenschaftler, warum dem so nicht ist, warum die Evolution Krankheitsgene nicht einfach aussortiert hat, sondern dem Menschen einen Körper geschenkt hat, der voller Krankheitsfallen und Kompromisse steckt. »No body«, so der Kalauer in englischer Sprache, »is perfect.«

Beispiel Hautkrebs: Als Urmenschen von Afrika aus nach Europa und Asien wanderten und sich dort ansiedelten, führte die natürliche Selektion im Laufe der Jahrtausende zur Entstehung bleicher Haut. Die spärlichen Sonnenstrahlen konnten im bewölkten Nordland besser in die helle Haut eindringen und in ihr die Bildung des Vitamins D ankurbeln.

Doch die Anpassung hat eine Kehrseite: Zugleich ist weiße Haut anfällig für Melanome und andere Hautkrebsarten, und zwar ganz besonders, wenn Menschen ihre helle Pelle zur Mittagszeit am Mittelmeerstrand rösten.

Die weitere Evolution wird diese Verwundbarkeit blasser Menschen kaum mehr beseitigen. Die meisten Europäer, die ein tödliches Melanom entwickeln, haben das normale Fortpflanzungsalter nämlich bereits überschritten. Die Gene für die Hautpigmentierung haben sie schon weitervererbt - die natürliche Selektion hat keinen Angriffspunkt, die Anfälligkeit für Hautkrebs zu korrigieren.

In anderen Fällen geben sich Symptome, die zunächst nach schädlicher Krankheit aussehen, im Lichte der Evolutionsforscher als archaische Mechanismen zu erkennen, die den Körper gesund halten sollen. Fieber zum Beispiel ist eine uralte Strategie, um eine Ansteckung mit Bakterien zu bekämpfen und die winzigen Invasoren in den Wärmetod zu treiben. Auch Schmerzen und Ängste sind ursprünglich als lebensrettende Schutzmechanismen entstanden - heute verursachen sie enorme Kosten im Gesundheitssystem.

Wo sie hinschauen, stoßen Evolutionsmediziner auf solch verblüffende Phänomene. Bis zu 40 Prozent der Menschen im tropischen Afrika etwa tragen die Erbanlage für auffällig geformte rote Blutkörperchen, die unter dem Mikroskop nicht wie eine Scheibe aussehen, sondern wie eine Sichel. Wer von beiden Eltern diese Anlage erbt, leidet bei körperlicher Anstrengung unter schwerer Blutarmut, oftmals mit Schmerzen, Fieber und Kollaps.

Wer aber die Anlage nur von einem Elternteil mitbekommen hat, transportiert ausreichend Sauerstoff im Blut - und ist als Kleinkind besser gegen die Erreger der Malaria gefeit, weil diese sich in den Zellen nicht so gut ausbreiten können.

Die Sichelzell-Anlage ist nur ein Beispiel, wie der Malaria-Erreger das Erbgut des Menschen gewalkt und geknetet hat: Mehr als ein Dutzend veränderte Gene haben Forscher inzwischen gefunden, die sich in der Evolution durchgesetzt haben, weil sie gegen Malaria helfen.

In der hiesigen Bevölkerung haben sich ebenfalls Erbmerkmale ausgebreitet, die heute gesundheitliche Schäden anrichten, einst aber einem guten Zweck dienten. So tragen erstaunlich viele Menschen das Gen für die Mukoviszidose, und zwar einer unter 25 in Mitteleuropa. Wer dieses Gen jeweils von der Mutter und vom Vater erbt, der leidet unter einer schweren Erbkrankheit: Zäher Schleim bildet sich in der Lunge, verstopft die Atemwege und begünstigt schwere Infektionen. Die Betroffenen starben früher in jungen Jahren; erst seit einiger Zeit erreichen die Patienten ein immer höheres Alter, weil sie besser versorgt und behandelt werden.

Wie konnte die Anlage für die unheilvolle Erkrankung von der natürlichen Selektion verschont bleiben? Warum ist sie nicht längst aus dem Genpool aussortiert worden? Das Mysterium glauben italienische Forscher jetzt erklären zu können: Wer nicht zwei, sondern bloß ein Mukoviszidose-Gen geerbt hat, der kann beschwerdefrei leben - und ist vor schweren Durchfallattacken geschützt, die durch Milchtrinken verursacht werden können.

Vor rund 7500 Jahren hat dieser Gendefekt den Nordeuropäern das Leben deutlich angenehmer gemacht, weil sich zu dieser Zeit die Viehwirtschaft ausbreitete. Die Milch der Kühe schmeckte lecker und war nahrhaft, führte aber zu Darmwinden und gefährlicher Diarrhö - es sei denn, man trug zufälligerweise ein Mukoviszidose-Gen.

Ebenso zufällig kam es etwa zur gleichen Zeit zu einer anderen Mutation: Sie erlaubte es, den Milchzucker auch nach der Stillzeit zu verdauen. Weil das ganz ohne Nebenwirkungen geschah, hat sich die entsprechende Mutation schnell in ganz Europa ausgebreitet. Das damit entbehrlich gewordene Mukoviszidose-Gen befindet sich seither auf dem Rückzug, inzwischen überwiegen seine Nachteile.

Nicht nur aus den genetischen, sondern auch aus den anatomischen Anlagen lässt sich erstaunlich viel über den Ursprung von Krankheiten lesen - zumindest, wenn man so gründlich hinschaut wie der Paläontologe und Buchautor Neil Shubin von der University of Chicago*. Er sagt: »Praktisch jede Erkrankung, die uns plagt, besitzt eine historische Komponente, die man von den Säugetieren bis zu den Fischen und noch weiter zurückverfolgen kann.«

Shubin vergleicht den Körper des Menschen mit einem VW Käfer. Der Volkswagen war viele Jahrzehnte auf dem Markt und wurde kaum noch technisch verändert. Der Grund: Das zunächst so erfolgreiche Design mit dem luftgekühlten Heckmotor brachte die Ingenieure später zur Verzweiflung, weil Modifikationen nicht mehr möglich waren.

Ähnlich verhält es sich mit dem menschlichen Leib: Viele seiner Baupläne sind den Fischen entlehnt und können allenfalls in einem engen Rahmen verändert werden. Evolutionäre Neuerungen sind deshalb niemals große Würfe, sondern immer Kompromisse - die den Körper anfällig für Gebrechen und Gefahren machen.

So kreuzen sich zum Beispiel die Nahrungs- und Atemwege; manch einer ist deshalb schon am Hühnerknochen erstickt. Sicherer wäre es, den Mund auf der Stirn zu haben und die Nase in der Kehle. Auch die Lage der Vorsteherdrüse (Prostata) ist ein Notbehelf; sie umgibt die Harnröhre und wird im Alter größer. Etliche Männer können deshalb eines Tages die Blase nicht mehr vollständig leeren und müssen im Stundentakt auf Toilette ein paar Tröpfchen rausdrücken.

Aufgrund biologischer Konstruktionszwänge ist der Mensch eigentlich auch für den aufrechten Gang denkbar ungeeignet. Keine Frage, diese für Säuger so ungewöhnliche Art der Fortbewegung ist auch mit Vorteilen verbunden. Im Vergleich zum

Schimpansen, der im Knöchelgang läuft, verbraucht ein Wandersmann viermal weniger Energie. Auch hat er die Hände frei, um Beeren zu pflücken, Tiere zu jagen, Werkzeuge herzustellen oder Babys zu tragen.

Doch in der modernen Zeit nährt die Bipedie ganze Zweige der Medizin: Mittelohrentzündungen, Hämorrhoiden, Genitalprolaps der Frau, Venenthrombosen, Inkontinenz, Leistenbrüche, Ersticken, Fersensporn, Ballenzeh, Knieschäden - all diese Leiden suchen den Menschen heim, weil er aufrecht geht.

Tragödien spielen sich besonders im Rücken ab: Die Wirbelkörper degenerieren (Spondylose); das Rückgrat verdreht und verkrümmt sich (Skoliose); häufig verrutschen oder bersten die Bandscheiben der unteren Lendenwirbel - Einschlag zwischen L4 und L5.

Wäre der fehlerhafte Mensch tatsächlich nach dem Ebenbild Gottes geformt, dann müsste auch der Schöpfer unter Rückenschmerzen leiden - intelligentes Design sähe anders aus.

Auch die sprichwörtlich schwere Geburt ist eine Folge des aufrechten Gangs. Das Becken der Frau ist im Laufe der Stammesgeschichte immer gestauchter geworden, weil sie so besser gehen kann. Zugleich ist das Gehirn der Babys im Zuge der Evolution größer geworden.

Damit es überhaupt durch den Geburtskanal passt, muss sich ein Kind auf halbem Wege zur Seite drehen. Wenn es aus der Scheide kommt, zeigt sein Gesicht zum Po der Mutter. Deshalb kann sie ihr Kind nicht mit den eigenen Händen auf die Welt holen: Sie würde ihm beim Ziehen zwangsläufig das Rückgrat nach hinten verbiegen. Ebenso wenig kann sie dem Neugeborenen den Schleim aus dem Gesicht wischen und seinen Hals von der Nabelschnur befreien.

Die Zwänge der Biologie haben die Geburt zu einem sozialen Ereignis gemacht. »In allen Kulturen suchen Frauen die Hilfe anderer Menschen, wenn sie ein Kind bekommen«, sagt die Anthropologin Wenda Trevathan von der New Mexico State University.

Aber selbst mit fremder Hilfe erfordert die Geburt Akrobatik von Mutter und Kind. Noch bis vor hundert Jahren zählte die Kindsgeburt zu den häufigsten Todesursachen unter Frauen im gebärfähigen Alter.

Von der Euphorie, welche die Mutter beim Anblick ihres Neugeborenen durchströmt, einmal abgesehen, ist es eine Quälerei: Rund 38 Prozent der Mütter verspüren laut Umfragen schlimme Schmerzen, 56 Prozent sagen sogar, die Pein sei »nicht auszuhalten« - kein Wunder also, dass sich viele Frauen davor fürchten, ein Kind noch auf natürlichem Wege auf die Welt zu bringen.

Doch während viele Mediziner Schmerzen und Ängste als unerwünschte Probleme sehen und mit Medikamenten abstellen wollen, hält Anthropologin Trevathan, die auch ausgebildete Hebamme ist, diese Gefühle für ein wichtiges Erbe der Evolution: »Schmerz und Angst waren früher womöglich vorteilhaft, weil die Frauen deswegen die Unterstützung anderer gesucht haben.« Umso wichtiger sei es deshalb, Frauen im Kreißsaal zu umsorgen und emotional zu unterstützen.

Auch in Zukunft wird das Kinderkriegen kein Kinderspiel werden. Im Gegenteil: Eine Erhebung im Auftrag der Techniker Krankenkasse an allen Frauen, die 2007 in Hessen entbunden haben, hat ein Dickenwachstum offenbart, das über das zum Austragen notwendige Maß offenbar weit hinausgeht: Die Zahl der übergewichtigen Schwangeren ist demnach von 26 Prozent in 1990 auf 34,5 Prozent in 2007 gestiegen. Den mächtigen Damen fällt das Kinderkriegen ganz besonders schwer, sie haben vermehrt Frühgeburten und überdurchschnittlich viele Kaiserschnitte.

Dieser Trend - etwa 28 Prozent aller Entbindungen in Deutschland sind inzwischen Schnittgeburten - könnte sogar die natürliche Selektion beeinflussen, weil er die Geburt von Babys ermöglicht, die einen immer größeren Schädel haben. Am Ende ähneln die Menschen den Englischen Bulldoggen: Die Hunde haben einen grotesken Riesenschädel - und die Welpen müssen überwiegend chirurgisch auf die Welt geholt werden.

In vielen Fällen haben Kaiserschnitte Müttern und Kindern das Leben gerettet. Gibt es jedoch keine besonderen Risiken, ist es offenbar gesünder, den Weg »inter faeces et urinam« (zwischen Kot und Urin) ins Leben zu nehmen. »Gepresst und gestaucht zu werden tut dem Kind gut«, vermutet Anthropologin Trevathan. »Der Druck auf den Schädel setzt im Gehirn womöglich Botenstoffe frei, die für die Entwicklung etwa der Lungen oder des Nervensystems wichtig sind.«

Nimmt es die althergebrachte Route ins Leben, erhält das Baby schon früh Gesellschaft: Wenn sich der Kopf ins Freie zwängt, dann kann er eine kleine Portion Stuhl aus Mamas Mastdarm herausdrücken - und impft sich auf diese Weise mit mütterlichen Darmbakterien, die in seinem Gesicht landen. Diese Bakterien kolonisieren das Kind - die Saat für dessen eigene Mikroflora.

Der in der Evolution entstandene Mechanismus soll dafür bürgen, dass die ersten Besiedler auch wirklich von der Mutter stammen. Denn auf ebendiese Keime ist das Immunsystem des Babys bereits eingestellt - durch Antikörper, die es zuvor über die Plazenta von Mama erhalten hat.

Findet diese natürliche Besiedlung nicht statt, kann das die Reifung des Immunsystems offenbar empfindlich stören. Epidemiologische Studien jedenfalls zeigen: Kaiserschnitt-Kinder tragen ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Diabetes-1 und Asthma.

Die evolutionäre Perspektive hilft, noch weitere Merkwürdigkeiten zu verstehen, die mit dem Niederkommen verbunden sind. Etwa 50 bis 90 Prozent aller Frauen leiden, zumeist in den ersten 20 Schwangerschaftswochen, an Übelkeit und Erbrechen. Die Ursache sei »bisher nicht endgültig geklärt«, berichtet ein Übersichtsartikel aus dem »Deutschen Ärzteblatt« und ergeht sich in Spekulationen: Vielleicht litten die Frauen ja an einer psychosomatischen Störung, die sich »durch die Angst vor der Elternschaft begründen lässt«.

Eine schlüssigere Erklärung haben Evolutionsmediziner der Cornell University in Ithaca, New York, gefunden: Demnach steckt hinter der Schwangerschaftsübelkeit eine Körperlist, um den heranreifenden Fötus vor etwaigen Giften aus der mütterlichen Nahrung zu schützen.

Frauen, denen zu Beginn der Schwangerschaft speiübel ist, entwickeln eine größere Plazenta; sie bringen schwerere Babys auf die Welt und haben weniger Fehlgeburten als beschwerdefreie Frauen. Dazu gehen die betreffenden Schwangeren an die eigenen Reserven; ihr hungernder Körper leitet die knappen Nährstoffe verstärkt den Föten zu.

Besonders schwere Verläufe ("Hyperemesis gravidarum") betreffen etwa ein Prozent der Schwangeren. Sie müssen behandelt werden. Die große Mehrheit der Fälle dagegen verläuft milde: Hier könnte es angebracht sein, auf Medikamente zu verzichten, um den angeborenen Schutzmechanismus nicht zu unterdrücken.

Ein anderes Leiden, das werdende Mütter plagt, ist die sogenannte Schwangerschaftstoxikose: Ohne Vorwarnung entgleitet der Stoffwechsel, und der Blutdruck schießt bedrohlich nach oben.

Fünf bis zehn Prozent der Schwangeren schließlich werden zuckerkrank - auch hier geben Biologen Antworten, warum das so ist. Einer von ihnen ist David Haig von der Harvard University. Während ein Stockwerk tiefer Familien im Museum für vergleichende Zoologie den ausgestopften australischen Beutelwolf bewundern, sitzt Haig vor einem sieben Meter langen Bücherregal und erzählt, dass die Interessen im Leib einer Schwangeren schon mal auseinandergehen können: »Der Fötus und seine Mutter buhlen um die Ressourcen - da findet ein Tauziehen statt.« Der Fötus verlangt mehr Nährstoffe von seiner Mutter, als diese ihm geben will. Seinen Anspruch versucht der ungeborene Nimmersatt mit Hormonen anzumelden, die er heimlich in den Körper der Mutter abgibt, um deren Stoffwechsel zu manipulieren.

Haig hat eine Theorie entwickelt, wie dadurch der Blutdruck steigen könnte: Bestimmte Hormone des Fötus schädigen die Innenwände der mütterlichen Blutgefäße. Dadurch trifft das Blut hier plötzlich auf größeren Widerstand und kann nicht mehr so leicht fließen. Der Blutdruck im Leib der Mutter steigt, wodurch sogleich ein Gefälle entsteht: Das Blut fließt nun vermehrt in die Plazenta, weil dort der Widerstand geringer ist - und der Fötus erhält die ersehnten Nährstoffe.

Damit aber nicht genug: Nicht nur das Körpergewicht, sondern auch das soziale Verhalten im späteren Leben wird womöglich bereits geprägt, wenn der Nachwuchs noch in der Fruchtblase kauert.

Es geht um einen Ringkampf väterlicher und mütterlicher Gene im Gehirn des ungeborenen Kindes, wie der Biologe Bernard Crespi von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby erläutert: Wenn eher die väterlichen Gene dominieren, entwickelt sich das Gehirn hin zum autistischen Spektrum. Das Kind ist vergleichsweise egozentrisch und kümmert sich lieber um Objekte und Muster als um die eigene Mama.

Setzen sich dagegen mehr die mütterlichen Gene durch, gerät das Kind Crespi zufolge völlig anders. Sein Verhalten ist viel wärmer, reicht allerdings auch ins schizophrene Spektrum hinein, mit Stimmungsschwankungen und depressiven Phasen.

In den meisten Fällen kennt dieser Ringkampf keinen Sieger - das Verhalten des Kindes bildet sich innerhalb der Grenzen des Normalen aus. Manchmal aber, vermutet Crespi, läuft die Sache aus dem Ruder, und eine Seite wird übermächtig: Je nach Ausgang würde das Kind autistisch oder aber gemütskrank.

So spekulativ diese Überlegungen noch sind, das Interesse der Forscher an ihnen ist riesig. Schon haben sie damit begonnen, in bestimmten Datenbanken in Dänemark nach dem Zusammenhang zu suchen. »Falls sich eine Verbindung zwischen evolutionären Interessenkonflikten und seelischem Erkranken bestätigen sollte, dann wird es eine der erstaunlichsten Erkenntnisse sein, die uns die evolutionäre Denkweise gegeben hat«, prophezeit der Biologe Stearns von der Yale University.

In einem sind sich die Forscher schon jetzt einig: Seelische Erkrankungen, aber auch Kummer und chronischer Stress scheinen der Preis zu sein, den die Natur für das leistungsfähige Denkorgan verlangt. Menschen haben die meiste Zeit ihrer Stammesgeschichte in überschaubaren Verbänden gelebt - das ist ein Hauptgrund dafür, dass sie soziale Isolation in der Massengesellschaft nur schwer verkraften können.

Die nächsten Verwandten, die Schimpansen, haben diese Sorgen nicht. Ihr Gehirn ist einfach gestrickt - dafür aber bleiben sie von Trübsal, Demenz und anderen Hirnerkrankungen verschont.

Auch was Tumorerkrankungen angeht, hat sich der Mensch offenbar einen Tick zu weit entwickelt. Forscher haben Tausende Affen obduziert - und nur in ein bis zwei Prozent der Fälle Krebsgeschwülste entdeckt. Homo sapiens dagegen ist für Krebs anfällig wie keine zweite Art. Zumindest bei jedem dritten heute lebenden Menschen werden Ärzte irgendwann einen Tumor diagnostizieren.

Wohlstandsmenschen scheinen besonders gefährdet: Nur 19 Prozent der Weltbevölkerung leben in einem entwickelten Land, aber 46 Prozent aller neuen Krebserkrankungen brechen hier aus.

Etwa jede zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Auch diese Epidemie geht wohl auf eine biologische Altlast zurück: Im Unterschied zu fast allen Tierarten hängt der Zyklus der Menschenfrau von äußeren Umständen ab. Leidet sie gerade an Hunger oder ist sie körperlich stark verausgabt, produziert sie weniger Geschlechtshormone. Der Eisprung findet nicht statt. Leistungssportlerinnen kennen das: Ihre Blutung bleibt schon mal aus.

In der prähistorischen Zeit hat dieser Mechanismus verhindert, Kinder in Notzeiten in die Welt zu setzen. Wenn sich umgekehrt ausreichend Nahrung fand, waren Steinzeitfrauen vermutlich die meiste Zeit schwanger, oder sie haben gestillt. Aus all diesen Gründen produzierten sie deutlich weniger Östrogene als heute lebende Frauen und hatten insgesamt vermutlich auch nur 160 Regelblutungen - was gut für ihr Risiko war: Die Brustkrebsrate dürfte damals extrem niedrig gewesen sein.

Ganz anders im Überfluss der Industriegesellschaft: Es mangelt an nichts, das weibliche Fortpflanzungsprogramm läuft auf vollen Touren. Die Frauen bekommen früher ihre Tage, sind aber seltener schwanger, stillen früh ab - und können zeitlebens auf 450 Regelblutungen kommen. Deshalb zirkulieren bis zur Menopause im Körper fast ständig Östrogene - und die erhöhen das Krebsrisiko.

Einer, der das mit einem mulmigen Gefühl betrachtet, ist Mel Greaves vom Institute for Cancer Research in London. Als einer der ganz wenigen Krebsexperten beschäftigt er sich mit dem evolutionären Ursprung von Tumorerkrankungen. Sein Urteil: Aufgrund von Wohlstand, Emanzipation und Verhütung hätten Frauen »eine reproduktive Lebensweise angenommen, an welche sie aus historischer und genetischer Sicht schlecht angepasst sind«.

Das hat sich erstmals vor 300 Jahren unter enthaltsamen und wohlgenährten Nonnen in Italien gezeigt. »Man findet kaum ein Kloster«, wunderte sich damals der Arzt Bernadino Ramazzini, »das nicht diese verfluchte Plage - Krebs - in seinen Mauern beherbergt.«

Frauen nun als Krebsvorsorge das Kinderkriegen zu verordnen, das fordert ernsthaft kein Evolutionsmediziner. Umgekehrt aber erscheint die Praxis mancher Frauenärzte umso unverantwortlicher: Sie empfehlen Frauen in den Wechseljahren noch immer die Einnahme von Östrogen-Präparaten.

Ähnlich wie die weibliche Brust, so leidet auch die männliche Vorsteherdrüse am Überfluss der westlichen Welt. Das Organ wird von Testosteron geflutet, damit es allzeit Gleitflüssigkeit für den Geschlechtsverkehr vorhält. Von Rüden einmal abgesehen hat kein Säugetiermännchen auf Erden eine ähnlich große Vorsteherdrüse - und keines erkrankt so häufig am Prostatakrebs.

Neben dem Testosteron könnte auch Sex in späten Jahren das Risiko erhöhen, spekuliert der Londoner Greaves. Männer seien vermutlich auf »dauernde sexuelle Aktivität« gepolt - aber eigentlich nur bis zum in der Steinzeit üblichen Ende des Fortpflanzungsalters. Geschlechtsverkehr im Alter von mehr als 50 Jahren sei »biologisch gesehen ein exotisches Verhalten, wenn auch sehr verbreitet« in modernen Gesellschaften. Senioren rein prophylaktisch Enthaltsamkeit zu empfehlen, so weit geht Greaves, ein 1941 geborener Großvater, freilich nicht.

Jedoch zeichnen sich auf anderen Gebieten die ersten Heilverfahren aus der Steinzeit ab: Inspiriert vom Wurmforscher Weinstock, haben sich amerikanische und europäische Allergologen jetzt darangemacht, die Welt ihrer Patienten wieder ein wenig unhygienischer zu gestalten. In klinischen Studien zu Erdnussallergie, Autismus, entzündlicher Darmerkrankung und dem Nervenleiden Multiple Sklerose setzen sie Testpersonen den Trunk mit den Wurmeiern vor. Inzwischen stellen Laborarbeiter der Firma Ovamed im holsteinischen Barsbüttel den biologisch aktiven Cocktail serienmäßig her.

Was das Essen betrifft, legen Ärzte eine Rückkehr zu einer Lebensweise nahe, wie sie noch vor 500 Generationen gang und gäbe war. Anthropologen haben Aborigines, Pygmäen, Buschleuten, Indios und anderen Naturvölkern in die Töpfe geschaut und versucht, die Küche des Paläolithikums zu rekonstruieren: Zu 50 bis 80 Prozent bestand die Kost aus Früchten und Gemüse; sie enthielt besonders viel komplexe Kohlenhydrate, aber nur wenige gesättigte Fettsäuren.

Auffällig ist auch der geringe Gehalt an Natriumchlorid, dem heutigen Speisesalz. Ein Mensch in der Steinzeit hat davon jeden Tag drei bis sechs Gramm zu sich genommen; die Vergleichszahl in den Industriestaaten dagegen liegt bei zwölf Gramm Salz und mehr.

Das macht Probleme: Der Stoffwechsel ist noch immer auf Salzmangel eingestellt. Aus evolutionärer Erfahrung versucht der Organismus alles, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass der Körper dehydriert. Dazu hält er Salz und Wasser in der Niere zurück und verengt die Gefäße, wenn das Blutvolumen zurückgeht.

Als die Menschen noch in der heißen, kargen Savanne lebten, war dieses Regulationssystem ein Segen, weil es Wasser und Salz im Körper zurückhielt. Auf Müßiggang sowie Frühstückseier, Pommes und Salzstangen ist es jedoch nicht eingerichtet - und so treibt es in bewegungsfaulen und überernährten Menschen den Blutdruck nach oben.

»Uns bleibt die Wahl, zurück zur Lebensweise der Jäger und Sammler zu gehen und körperlich hart zu arbeiten«, sagt Mediziner Ganten, der selbst regelmäßig trainiert, »oder aber unser evolutionäres Erbe führt zu Bluthochdruck, und wir sterben an Hirnschlag, Arteriosklerose oder Herz- und Nierenversagen - sofern wir nicht mit Medikamenten gegensteuern.«

An der Harvard University ist Daniel Lieberman ebenfalls zu der Überzeugung gekommen, dass der Mensch ein einzigartiges Bewegungstier ist. Er hat Testpersonen auf einem Laufband in seinem Labor gefilmt, die Abläufe studiert und immer wieder Skelette untersucht. Sein Befund: Nicht nur der aufrechte Gang des Menschen, sondern auch seine Fähigkeit, lange und ausdauernd zu rennen, hat ihm seinen kometenhaften Aufstieg ermöglicht.

In puncto Ausdauer sind Menschen hervorragende Athleten, von denen es im Tierreich nicht viele gibt. Geparden mögen im Sprint viel schneller sein, auf der Langstrecke jedoch geht ihnen schnell die Puste aus. Die meisten Säugetiere können nicht länger als eine Viertelstunde am Stück rennen oder traben; Schimpansen schneiden ganz besonders schlecht ab.

Anders die Menschen: Dank der nackten Haut und der Schweißdrüsen können sie die Körpertemperatur selbst dann regulieren, wenn sie sich - wie etwa auf einem Marathon - stundenlang anstrengen. Und dank des Nackenbandes können sie beim Laufen den Kopf hochhalten und nach vorn schauen - bei Hominiden, die vor mehr als drei Millionen Jahren lebten, fehlte das Nackenband noch.

Lieberman zeigt gern einen Film, auf dem rennende Buschmänner in einer gelben Graslandschaft zu sehen sind. In der Hitze des Tages hetzen sie eine Antilope viele Stunden lang, bis diese zusammenbricht. Dann schleudert ein Jäger seinen Speer in das hilflose Tier.

Diese Art der Treibjagd war für die Entwicklung des Menschen entscheidend, glaubt der Anthropologe. Weil sie überragende Dauerläufer waren, erschloss sich den Urahnen eine wirksame Form der Jagd. Als Pfeil und Bogen noch gar nicht erfunden waren, töteten sie die überhitzten Antilopen und Gazellen einfach mit Steinen und Knüppeln und verschlangen das Fleisch. Diese Zufuhr an Proteinen machte es erst möglich, dass den Menschen ein größeres Gehirn wachsen konnte.

Da das Laufen im Erbgut verankert ist, braucht der Körper es wie die Luft zum Atmen. »Ein Mensch sollte immer weiterlaufen, ein Leben lang«, sagt Lieberman, der jede Woche etwa 30 bis 50 Kilometer am Charles River absolviert.

Damit nähert er sich dem Pensum seiner Urahnen aus der Steinzeit an - wenngleich die sogar noch weit aktiver waren. Fred Feuerstein hat vermutlich 40 Kilometer am Tag abgerissen.

Der tägliche Marathon hat ihm gutgetan, wie Untersuchungen an heutigen Jägern und Sammlern vermuten lassen. Sie haben kaum Herz-Kreislauf-Erkrankungen; Bluthochdruck kommt so gut wie nicht vor, seelische Probleme sind rar.

Mit dem Alter hat das nichts zu tun. Denn auch die über 60-Jährigen (acht Prozent der untersuchten Jäger und Sammler) sind gut im Strumpf.

Zwingt man Menschen dagegen die Lebensweise des Westens auf, werden sie umgehend krank.

Erschreckend deutlich kann man das an den Pima-Indianern im Südwesten der Vereinigten Staaten sehen. Vor einer Generation lebten sie ihr hergebrachtes Leben; jetzt ernähren sie sich von Hamburgern, Pizza, Pommes und Limonade. Unter den einst so stolzen Stammesmitgliedern grassiert seither die Fettsucht, sie haben eine der höchsten Raten der Welt von Diabetes Typ 2: Jeder Zweite von ihnen ist zuckerkrank.

Wer jetzt mit den siechen Indianern mitfühlt, kann sich genauso gut selbst bemitleiden. Denn alle Menschen, ganz gleich welcher Ethnie sie angehören, sind anfällig für das Stoffwechselleiden. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten gerade einmal 0,4 Prozent der Menschen in Deutschland Diabetes Typ 2, heute sind daran 10 Prozent erkrankt.

Das Massenleiden ist vielleicht der eindrücklichste Beweis dafür, wie sehr der menschliche Körper noch auf Steinzeit gepolt ist. Seine Muskeln sind darauf optimiert, Energie zu sparen. Deshalb können sie nur dann Zucker aus dem Blut aufnehmen, wenn sie aktiv sind; dabei hilft das Hormon Insulin.

Bei der heute so alltäglichen Bewegungsarmut dagegen richtet das System Schaden an: Die inaktiven Muskeln sind unfähig, Glukose aus dem Blut zu fischen, so dass diese sich immer stärker in den Gefäßen konzentriert. Um den hochschießenden Zuckerspiegel zu regulieren, bildet die Bauchspeicheldrüse große Mengen Insulin. Doch durch die gewaltige Ausschüttung werden die eigenen Körperzellen resistent gegen das Hormon. Der Zuckerstoffwechsel bricht zusammen, der Mensch erkrankt an Diabetes. Übersteigt die Glukosekonzentration einen Schwellenwert, drohen Kreislaufschwäche, schwere Gefäßschäden, Erblindung und Zuckerkoma.

Nicht nur aus Sicht der Evolutionsmedizin, sondern auch aus klinischen Studien ist sonnenklar, was am besten gegen das ganze Elend hilft: körperliche Ertüchtigung. Schon nach einem flotten Spaziergang geht der Blutzucker merklich nach unten.

Doch seltsam: Viele Patienten nehmen diese Heilkraft der Bewegung nicht sonderlich ernst. Etliche Mediziner wiederum vertrauen auf molekularbiologische Forschung, die in Wahrheit keinen zuckerkranken Patienten wieder gesund macht.

»Die Anstrengungen, einen pharmakologischen oder molekularen Sieg über die Diabetes-Epidemie zu erringen, beruhen auf einem Denkfehler«, konstatieren Ärzte im Fachjournal »Diabetes Metabolism Research and Reviews«. »Die Evolution hat uns doch schon mit der besten Medizin versorgt.«

Deren Erfolgsrezept hilft jedem weiter: Denken wie Darwin, handeln wie Feuerstein. JÖRG BLECH

* In seinem Büro an der Harvard University mit Schädeln von Urmenschen und Menschenaffen. * Neil Shubin: »Der Fisch in uns«. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 284 Seiten; 19,90 Euro. * In der Firma Ovamed im holsteinischen Barsbüttel.

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