Zur Ausgabe
Artikel 37 / 85

SPIEGEL Gespräch Geht's nur darum, wie hoch Strauß verliert?

Die Leiter der sieben führenden Meinungsforschungs-Institute über Wählermeinungen und Wahlchancen
Von Werner Harenberg
aus DER SPIEGEL 26/1980

SPIEGEL: Wer wird die Bundestagswahl gewinnen? Diese Frage stellen Ihre Institute auch in diesem Jahr wieder. Sie selbst, die Leiter der führenden deutschen Institute, sollten es besser wissen als die unbekannten Bundesbürger, deren Meinung Sie erforschen. Wir möchten deshalb jeden von Ihnen fragen: Wer wird gewinnen?

INFAS/LIEPELT: Zur Zeit deutet alles darauf hin, daß die Koalitionsparteien das Rennen machen werden, und zwar mit einem besseren Prozentsatz als bei der letzten Bundestagswahl 1976.

SPIEGEL: Vor vier Jahren erhielten SPD und FDP zusammen 50,5 Prozent. Vermuten Sie, daß 1980 das Ergebnis vielleicht sogar ähnlich wie 1972 ausfallen wird? Damals wurde die SPD stärkste Partei vor der CDU/CSU, und SPD und FDP zusammen kamen auf 54,2 Prozent (siehe Graphik).

INFAS/LIEPELT: Ob das Ergebnis ähnlich sein wird wie vor acht Jahren oder irgendwo zwischen dem 1972er und dem 1976er-Ergebnis liegen wird, möchte ich mal dahingestellt sein lassen. Jedenfalls wird es eine klarere und solidere Regierungsmehrheit geben als bisher. So sieht es derzeit aus.

SPIEGEL: Kann sich das Bild noch umkehren?

INFAS/LIEPELT: Es muß am 5. Oktober nicht unbedingt so kommen, denn wir wissen aus unseren Untersuchungen, daß in den siebziger Jahren die Prozesse der Meinungsbildung rascher und kürzer verlaufen sind als in den sechziger oder gar in den fünfziger Jahren. Aber wenn sich die Konstellationen nicht erheblich ändern, wird es für die Wähler sehr schwer sein, ihre Meinung zu ändern.

SPIEGEL: Herr Unholzer, bitte sehr.

INFRATEST/UNHOLZER: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, dann könnten wir davon ausgehen, daß die Grünen nicht den Hauch einer Chance haben, fünf Prozent der Stimmen zu erhalten, daß die SPD ihre Position von 1976 mindestens hält, vielleicht verbessert und daß die CDU/CSU Stimmen verliert. Per Saldo rechne ich mit einem Ergebnis für die Koalition, das besser ist als 1976, aber etwas schlechter als 1972. Aber all das würde nur gelten, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre.

SPIEGEL: Und was gilt für den 5. Oktober, den Tag, an dem wirklich gewählt wird?

INFRATEST/UNHOLZER: Ich möchte warnen vor der Ansicht, es sei alles schon gelaufen. Ich habe einiges gegen vorgezogene Siegesfeiern und gegen S.49 Beerdigungen ohne Leiche. Ich erinnere an das Wahljahr 1972.

SPIEGEL: Seinerzeit »hatte die CDU/CSU gegenüber der sozialliberalen Koalition zu keinem Zeitpunkt eine Siegeschance«, hat die Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie, Frau Professor Elisabeth Noelle-Neumann, geschrieben, allerdings erst nach der für die CDU/CSU verlorenen Wahl.

INFRATEST/UNHOLZER: Dem kann ich nicht beipflichten. Insbesondere im August und September 1972 war keineswegs klar, wie die Wahl ausgehen würde. Es gab Phasen, in denen es so aussah, als könnte die CDU/CSU vielleicht doch gewinnen, wenn auch sehr knapp.

SPIEGEL: Was ist für Sie das Kriterium, wann sprechen Sie von einer Chance?

INFRATEST/UNHOLZER: Wenn der Abstand zwischen Koalition und Opposition sich auf zwei Prozent verringert. Bis zum 5. Oktober sind Entwicklungen denkbar, die die politische Szene verändern, und das allein schon macht eine Prognose, die ohne Wenn und Aber für den Wahltag gelten könnte, meines Erachtens unmöglich.

SPIEGEL: Hängt es davon ab, ob etwas passiert, oder könnte sich der Trend auch umkehren, ohne daß es irgendwelche Ereignisse gibt?

INFRATEST/UNHOLZER: Es müßten politische Ereignisse sein und nicht schleichende Prozesse, davon gehe ich aus.

SPIEGEL: Und könnten Sie etwas darüber sagen, welche Größenordnung solche politischen Ereignisse haben müßten?

INFRATEST/UNHOLZER: Das wäre mir zu gewagt.

SPIEGEL: Was sagt Allensbach?

ALLENSBACH/HERDEGEN: Eine Prognose, wie wir sie unmittelbar vor der Wahl machen und nach der Schließung der Wahllokale veröffentlichen, ist natürlich jetzt nicht möglich. Aber wir können feststellen, daß die Ausgangsposition der CDU/CSU eindeutig schlechter ist als 1976. Sie liegt etwa vier bis fünf Prozent unter ihrem damaligen Niveau. Wenn ich sage, daß auf der anderen Seite SPD und FDP zwei Prozent besser liegen als vor vier Jahren, dann heißt das schon, daß die anderen drei Prozent bei den Grünen zu finden sind. Da ist eine kleine Marge von Unsicherheit, obwohl die Grünen, so wie die Entwicklung verlaufen ist und wie die Prioritäten von der Bevölkerung gesehen werden, keine ernsthafte Chance haben, in den Bundestag zu kommen.

SPIEGEL: Kann es einen Stimmungsumschwung zugunsten der CDU/CSU geben?

ALLENSBACH/HERDEGEN: Eine normale, überschaubare Entwicklung kann keinen Umschwung bringen, der S.51 zu einer absoluten Mehrheit der CDU/CSU führt. Es müßten Ereignisse in einer Dimension stattfinden, die nicht vorhersehbar ist.

SPIEGEL: Im Ausland oder in der Bundesrepublik?

ALLENSBACH/HERDEGEN: Ausgesprochene Fehlgriffe der Regierung, also Elemente der Innenpolitik, könnten das Spektrum der CDU/CSU verbreitern. Die frühere These, außenpolitische Krisen würden der CDU/CSU förderlich sein, war von Anfang an falsch. Lange vor Afghanistan hat unser Institut schon mit hypothetischen Fragestellungen ermittelt, daß solche Krisen die Chancen der Union und ihres Kandidaten nicht erhöhen. Im übrigen ist die Erwartung von Strauß, man brauche nur den Helm fester zu binden, um den Sieg zu schaffen, keine sehr realistische Hoffnung.

SPIEGEL: Frau von Harder, bitte sehr.

GETAS/VON HARDER: Der Wahlausgang steht aus heutiger Sicht vermutlich fest, das glaube ich auch. Wir sollten allerdings nicht vergessen, daß wir in dieser Runde das gleiche tun wie die Bevölkerung: Wir orientieren uns daran, wie die beiden Spitzenkandidaten gegenwärtig beurteilt werden, und wir überdenken zudem als Wahlforscher, welches Potential an Stamm- und Randwählern die Parteien haben. Wir sprechen überhaupt nicht darüber, daß die Wahlkampf-Auseinandersetzung über politische Sachthemen, über Programme der Parteien und ideologische Positionen bislang noch gar nicht richtig eingesetzt hat.

SPIEGEL: Kann es Themen geben, die derart »einschlagen«, daß sich die Chancen umkehren?

GETAS/VON HARDER: Aus heutiger Sicht möchte ich diese Frage verneinen. Probleme wie die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit werden zwar keineswegs bagatellisiert, aber man fängt offenbar an zu lernen, mit diesem Problem zu leben. Das Thema Innere Sicherheit hat in der Bevölkerung, wenn Prioritäten gesetzt werden sollen, einen Rückgang erlebt, wie wir es kaum je in einem anderen politischen Aufgabenbereich gesehen haben.

SPIEGEL: Die Innere Sicherheit war eine Aufgabe, für die immer die CDU/CSU am häufigsten als kompetenteste Partei genannt wurde.

GETAS/VON HARDER: Das ist auch heute noch so, nur sind die Jahre 1980 und 1976 aufgrund der beruhigten Situation nicht vergleichbar. Ein anderes Problem, das Problem der Energieversorgung, hat weit mehr Gewicht bekommen als früher, nur hat bislang keine Partei dem Bürger ein Lösungsmodell vorlegen können, das sie als besonders kompetent ausweisen würde. Das gilt auch für die Sorge um den Frieden und um die Zukunft allgemein sowie für die verschiedenen Probleme einzelner Bevölkerungsgruppen.

SPIEGEL: Herr Tacke, bitte.

EMNID/TACKE: 1972 war eine stark von Emotionen bestimmte Pro-Brandt-Wahl, und die CDU/CSU ist seinerzeit wohl auf ihre Ursubstanz zurückgeworfen worden. Auch 1980 wird eine starke emotionelle Komponente in die Wahl hineinkommen. Die CDU/CSU wird 1980 die Wahl nach dem jetzigen Stand der empirischen Erkenntnis nicht für sich entscheiden können. Sie wird sogar hart kämpfen müssen, wenn sie besser abschneiden will als 1972. Daß die FDP unter fünf Prozent bleibt, ist unwahrscheinlich. Im übrigen will ich nicht wiederholen, was andere schon gesagt haben. Bislang ist im Wahlkampf über Sachthemen überhaupt nicht diskutiert worden. Es ist gut möglich, daß es dazu auch weiterhin nicht kommt und daß das Duell Schmidt/Strauß das einzige Thema bleibt.

SPIEGEL: Herr Sörgel, bitte.

SINUS/SÖRGEL: Wir haben eine einzige Repräsentativbefragung im März gemacht. Ich stütze mich vornehmlich auf das, was bei uns den Hauptteil der Arbeit ausmacht, auf sehr intensive Gespräche mit Kleingruppen oder Einzelpersonen, bei denen die Interviewer mit Leitfäden und nicht mit den sonst üblichen Fragebögen arbeiten.

Zum 5. Oktober und zur Einschätzung des Wählerpotentials: Auffällig ist vor allem eine Status-quo-Orientierung, wie es sie allenfalls in der Adenauer-Ära gegeben hat. Der Tenor der S.53 Aussagen ist etwa: Es möge sich um Gottes willen nichts verändern, denn jede Veränderung bringt Unsicherheit.

SPIEGEL: Geht es auch nach Ihrer Meinung nur darum, wie hoch die Niederlage der CDU/CSU am 5. Oktober ausfällt?

SINUS/SÖRGEL: Soweit man es heute beurteilen kann, geht es nur darum. Trotzdem ist diese Wahl eine der spannendsten, die es bislang in der Bundesrepublik gegeben hat.

SPIEGEL: Warum?

SINUS/SÖRGEL: Für mich ist eine zentrale Frage, wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird. Bislang hat sich in der Bundesrepublik die Anhängerschaft einer großen Partei noch nie mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, daß ihr ein Spitzenkandidat präsentiert wurde, den ein großer Teil der eigenen Anhänger nicht wünscht.

SPIEGEL: Nach den Zahlen einer Umfrage, die wir bei Emnid in Auftrag gegeben hatten, ist 14 von 100 CDU/ CSU-Wählern ein Kanzler Schmidt lieber als ein Kanzler Strauß.

SINUS/SÖRGEL: Die Zahlen der anderen Umfragen, die ich kenne, sind ähnlich. Spannend müßte es für alle Wahlforscher sein, auf welche Weise viele CDU/CSU-Wähler diesen Konflikt in sich selbst austragen. Es ist möglich, daß es am Ende des Wahlkampfes zu einer Überidentifizierung mit dem Kandidaten kommt -- mit allen Verdrängungsmechanismen, die dabei wirken. Aber es ist auch möglich, daß viele CDU/CSU-Wähler den Konflikt für ihre Person durch Wahlenthaltung »lösen« werden. Deshalb rechne ich mit einer geringeren Wahlbeteiligung als bei früheren Bundestagswahlen.

SPIEGEL: Herr Professor Kaase, Sie gelten als einer der renommiertesten Wahlforscher unter den deutschen Professoren, bitte.

KAASE: Wir haben im Verlauf des Wahlkampfes eine kräftige Polarisierung zu erwarten, die durch das Aufeinandertreffen der beiden Bewerber um das Kanzleramt symbolisiert werden wird. Diese Polarisierung wird dazu führen, daß die Parteien ihre Stammwählerschaft voll rekrutieren können. Insofern teile ich die Auffassung von Herrn Sörgel nicht, daß eine geringere Wahlbeteiligung zu erwarten ist.

SPIEGEL: Wie groß ist diese Stammwählerschaft?

KAASE: Bei der SPD wird sie etwa 41, bei der CDU/CSU etwa 44 Prozent ausmachen. Bei den Wählern, die weniger fest oder überhaupt nicht gebunden sind, rechne ich mit einem recht massiven Effekt zugunsten der Koalitionsparteien, und zwar hauptsächlich deswegen, weil der Kanzlerkandidat der Opposition Franz Josef Strauß heißt. Der CDU/CSU wird es angesichts der personellen Konstellation nicht gelingen, wesentlich über ihre Stammwählerschaft hinauszukommen, sie wird am Ende zurückgeworfen werden auf diese Marge.

SPIEGEL: Das würde für die Unionsparteien ein ähnliches Ergebnis wie 1972 bedeuten.

KAASE: Ich könnte mir für die Koalition sogar ein leicht besseres Ergebnis als 1972 denken, weil die Situation insgesamt etwas günstiger für SPD und FDP ist, und zwar sowohl hinsichtlich der politischen Gesamtlage als auch hinsichtlich der Kandidaten.

SPIEGEL: Herr Gibowski, wie stellt sich die Lage für die »Forschungsgruppe Wahlen« dar?

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Bislang ist noch nie eine Regierung in Bonn durch eine Wahl abgelöst worden. Den einzigen Regierungswechsel gab es 1969 nicht durch Veränderung des Wahlergebnisses, sondern durch eine Veränderung der Koalition, als sich die FDP, die zuvor stets mit der CDU/CSU koaliert hatte, für die SPD entschied. Von daher spricht so gut wie alles dafür, daß die Wahlen am 5. Oktober bereits entschieden sind.

SPIEGEL: Mit diesen Argumenten könnten Sie heute auch schon die Wahlen für 1984, für 1988, für 1992 als bereits entschieden bezeichnen, vorausgesetzt lediglich, die FDP bleibt in einer Koalition mit der SPD. Sie verkünden eine Art ewige Wahrheit.

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Diese Aussage gilt, solange wir diese drei Parteien im Bundestag haben. Die Chance der CDU/CSU, die absolute Mehrheit zu bekommen, war 1972 gering, 1976 etwas größer, sie ist 1980 nahe Null -- lediglich vorausgesetzt, daß nicht noch irgend etwas Dramatisches geschieht.

SPIEGEL: Was, zum Beispiel?

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Ich habe keine Vorstellung davon. Die Dramatik müßte sehr groß sein und die Deutschen noch mehr bewegen als der Einmarsch der Russen in Afghanistan, der sich überdies wahrscheinlich umgekehrt ausgewirkt und die Chancen der CDU/CSU vermindert hat. Deshalb scheint mir klar zu sein, was für den 5. Oktober zu erwarten ist. Das hat übrigens S.55 mit der Person Strauß weniger zu tun, als man nach dem, was andere hier am Tisch gesagt haben, annehmen muß.

SPIEGEL: Soll das heißen, auch mit jedem anderen Kandidaten wäre die CDU/CSU ohne Chance?

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Die Qualität der Argumentation wäre eine andere, aber an einem Sieg der SPD/FDP wäre auch dann nicht zu zweifeln.

SPIEGEL: Und die SPD/FDP-Koalition brauchte nicht unbedingt eine Figur wie Schmidt an der Spitze, sie würde auch mit nahezu jedem beliebigen Kandidaten gewinnen können?

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Das haben Sie sehr pointiert gefragt. Ich bin überzeugt, daß sie mit nahezu jedem Kandidaten gewinnen würde, wenn im Laufe der Legislaturperiode ein Wechsel im Kanzleramt erfolgt und der neue Mann als Kanzler in den Wahlkampf geht. Wenn ich mich meinerseits zugespitzt ausdrücken darf: Der Amtsbonus ist wichtiger als die Person.

SPIEGEL: Sieht man in Allensbach die Perspektiven ähnlich? Frau Noelle-Neumann hat vor vier Jahren so deutlich wie kein anderer deutscher Demoskop betont, daß die CDU/CSU den Sieg in der 1976er Wahl nur äußerst knapp verfehlt habe.

ALLENSBACH/HERDEGEN: Wenn die CDU/CSU 1980 wieder 48,6 Prozent erreichen würde wie 1976, so hätte sie die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag. Denn die Stimmen für die Grünen würden größtenteils der SPD und der FDP verlorengehen. Aber allem Anschein nach »verschenken« die Unionsparteien durch die Person ihres Kandidaten zwei oder drei Prozent. Jedenfalls kommt bei fast gleichem Wählerpotential dann doch der Person des Kandidaten mehr Gewicht zu, als es eben anklang.

SPIEGEL: Darüber, wie die Chancen der CDU/CSU mit einem Kandidaten Ernst Albrecht wären, könnte man wohl nur spekulieren.

KAASE: Das sollten wir lassen, aber in den letzten Äußerungen kam ein Strukturproblem unseres Drei-Parteien-Systems zur Sprache, das ich noch etwas deutlicher machen möchte.

Wenn eine einzelne Partei wie die CDU/CSU -- ich spreche von einer Partei, weil es die CSU nur in Bayern, die CDU nur außerhalb Bayerns gibt -- gegen eine Koalition von zwei Parteien antreten muß, dann geht sie mit einem kräftigen Handikap in jede Wahl. Ich würde zwar ihre Chance nicht auf nahe Null setzen, wie es die »Forschungsgruppe Wahlen« eben getan hat, aber die Chance ist äußerst gering. Deshalb habe ich es immer für eine dem System angemessene Strategie der CSU gehalten, eine Vierte Partei zu gründen. Dann hätte sich eine ganz andere Ausgangslage ergeben.

SPIEGEL: Mit wesentlich besseren Chancen?

INFAS/LIEPELT: Ohne jeden Zweifel.

SPIEGEL: So eindeutig haben Sie, Herr Liepelt, sich über die Vierte Partei nie geäußert, solange Sie noch im Gespräch war. Lag das daran, daß Sie Ihrer Partei -- der SPD -- nicht schaden wollten?

INFAS/LIEPELT: Wir haben darüber nie öffentlich diskutiert. Zwei Jahre Durststrecke hätte die Union sicher in Kauf nehmen müssen, mit inneren Konflikten und anderen Schwierigkeiten. Aber auf mittlere Sicht hätte sich das Parteienspektrum verändert, und die FDP hätte damit rechnen müssen, bei den Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Klausel zu scheitern.

SPIEGEL: Ja?

INFAS/LIEPELT: Hätte eine bundesweite CSU als Vierte Partei existiert, so wäre die CDU von ihrem rechten Flügel »befreit« worden und hätte sich das Reservoir erschließen können, aus dem die FDP schöpft. Wem die SPD zu weit links und die CSU zu weit rechts ist, der hätte zwischen FDP und CDU wählen können; S.57 heute sehen viele Bürger keine Alternative zur FDP, denn die Grünen haben ein ganz anderes Potential.

SPIEGEL: Nachdem jeder von Ihnen erklärt hat, daß er aus heutiger Sicht für den 5. Oktober eine Mehrheit der SPD/FDP erwartet, möchten wir wiederum jeden von Ihnen fragen, ob er noch weiter gehen will. Wenn wir der »FAZ« glauben wollen, so ist für die SPD »zum erstenmal in den 117 Jahren ihrer Geschichte die absolute Mehrheit in Sicht«. Halten Sie es für denkbar, daß der 5. Oktober der SPD eine absolute Mehrheit im Bundestag bringt?

GETAS/VON HARDER: Nach meiner heutigen Einschätzung: nein.

INFAS/LIEPELT: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.

INFRATEST/UNHOLZER: Denkbar ist mir vieles, wahrscheinlich ist dies nicht.

EMNID/TACKE: Nach den Zahlen, die mir zur Zeit vorliegen, halte ich das nicht für möglich. Allerdings ist neuerdings die Zahl derer, die Sympathie für die SPD empfinden, größer als die Zahl ihrer Wähler.

KAASE: Wenn man wie ich die Stammwählerschaft der SPD bei 41 Prozent sieht, dann ist es unwahrscheinlich, daß die SPD auch bei einer für sie sehr günstigen Lage so viel Stimmen hinzugewinnen kann, daß sie die absolute Mehrheit der Sitze erringt.

ALLENSBACH/HERDEGEN: Theoretisch für denkbar halte ich es. Aber ich schätze die Wahrscheinlichkeit schon deshalb recht gering ein, weil ich davon ausgehe, daß die FDP die Fünf-Prozent-Hürde überspringen wird.

FG WAHLEN/GIBOWSKI: Vorausgesetzt, die FDP kommt in den Bundestag, wovon ich ebenfalls ausgehe, halte ich eine absolute Mehrheit der SPD für unwahrscheinlich.

SINUS/SÖRGEL: Sie ist nach unseren Befunden derzeit sicher auszuschließen.

SPIEGEL: Noch nie haben sich Deutschlands Meinungsforscher vor einer Wahl so eindeutig darüber geäußert, wer gewinnen und wer verlieren wird. Diese Offenheit hatten wir, wie wir gestehen müssen, nicht erwartet.

EMNID/TACKE: Warum eigentlich nicht?

SPIEGEL: Nun, alle Institute sind -von der »Forschungsgruppe« neuerdings abgesehen -- für politische Auftraggeber, für Regierungen und Parteizentralen tätig, und es gibt de facto eine Zweiteilung. Die einen arbeiten für die CDU/CSU und für Länder mit Unions-Regierungen, die anderen für die SPD und für Länder mit sozialliberalen Regierungen.

GETAS/VON HARDER: Es ist leider so, daß es diese Aufteilung gibt, aber welchen Schluß ziehen Sie daraus?

SPIEGEL: Wir haben bislang noch nie erlebt, daß ein Meinungsforscher öffentlich ein Wort gesagt oder eine Zahl genannt hat, die seinen Auftraggeber hätte ärgern oder gar dessen politische Chancen hätte vermindern können -- außer er hat Zahlen im Auftrag eines anderen Auftraggebers, zum Beispiel einer Zeitung, ermittelt.

GETAS/VON HARDER: Eben dies bestätigt doch nur unsere Unabhängigkeit als Meinungsforschungs-Institute. Ich möchte mich entschieden gegen den Eindruck zur Wehr setzen, daß wir »parteipolitisch« arbeiten und nur für die eine oder die andere Seite tätig sein können.

SPIEGEL: Würden Sie denn zugleich für die SPD und die CDU/CSU arbeiten, wenn beide Seiten Ihnen Aufträge erteilen wollten?

GETAS/VON HARDER: Bei Getas geschieht es ja gelegentlich. Allerdings hat es bislang noch keine Situation gegeben, wo verschiedene Parteien zum gleichen Thema eine Untersuchung in Auftrag gegeben hätten. Aber auch dafür würde es Möglichkeiten geben, zum Beispiel die Bearbeitung in unterschiedlichen S.58 Arbeitsreferaten und durch verschiedene Projektleiter.

SPIEGEL: Würden Sie auch für SPD und CDU/CSU zugleich arbeiten, Herr Liepelt?

INFAS/LIEPELT: Ja, warum denn nicht? Bei den Untersuchungen käme doch dasselbe heraus.

SPIEGEL: Und Sie, Herr Tacke?

EMNID/TACKE: Wenn die eine und die andere Partei keine Exklusivität fordern, würden wir es tun. Allerdings würden wir verschiedene Untersuchungsleiter einsetzen.

SPIEGEL: Infratest arbeitet ja schon seit langem für beide Seiten.

INFRATEST/UNHOLZER: Ja, allerdings sind verschiedene Gesellschaften oder verschiedene Forschungsgruppen für den jeweiligen Auftraggeber zuständig. Anders kann sich das notwendige Vertrauensverhältnis nicht entwickeln.

SPIEGEL: Von Ihnen, Herr Sörgel, würden wir gern hören, welche Rolle Sie für angemessener halten, diejenige eines gleichsam neutralen Fachmannes, der sich darauf beschränkt, seine Ergebnisse abzugeben und zu erläutern, oder diejenige eines Beraters, der auch Empfehlungen abgibt.

SINUS/SÖRGEL: Ich möchte auf keine dieser beiden Rollen verzichten. Spaß macht dieses Gewerbe gerade dort, wo die Ergebnisse einmünden in Empfehlungen und damit in Beratung. Ich sehe deshalb keinen Widerspruch zwischen den beiden Rollen. Man darf nur nicht der Versuchung erliegen, mit seinen Befunden selbst Politik machen zu wollen.

SPIEGEL: Wann würde das geschehen?

SINUS/SÖRGEL: Ich nehme ein einfaches Beispiel. Unsereiner kann Wahlslogans testen, wie sie »ankommen«, aber er sollte nicht versuchen, gestützt auf seine Befunde, sie selber zu formulieren.

SPIEGEL: Sie würden aber doch wohl immer nur für eine Seite tätig sein können?

SINUS/SÖRGEL: Wenn ich wahrscheinlich weitergehe als die meisten Kollegen hier am Tisch und eine Beratertätigkeit bejahe, dann bedeutet dies ein besonderes Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber. Es würde gestört, wenn ich zugleich auch für die andere Seite tätig wäre.

SPIEGEL: Wären Sie denn bereit, mal die Seiten zu wechseln?

SINUS/SÖRGEL: Ich für meine Person würde einen Seitenwechsel ausschließen.

SPIEGEL: Welche Wirkung wird es haben, wenn nun publik wird, daß die Leiter der sieben führenden deutschen Institute zur Zeit der CDU/CSU keine Chance geben, die Bundestagswahl am 5. Oktober zu gewinnen?

EMNID/TACKE: Das wird niemand sagen können, wie auch keiner von uns weiß, wie viele Bürger sich an den Umfrageergebnissen orientieren, die gerade in Wahlkampfzeiten häufig veröffentlicht werden. Und wir wissen erst recht nicht, welche Schlüsse diejenigen Bürger aus den Zahlen ziehen, die sie aufmerksam lesen. Dafür gibt es keine wissenschaftlich erhärteten Nachweise.

SPIEGEL: Neben der Wahl am 5. Oktober gibt es einen zweiten Grund für unser Gespräch. Ausgerechnet im S.60 Wahljahr 1980 waren in den ersten Monaten die Differenzen zwischen den Umfrageergebnissen Ihrer Institute größer als früher. Erst in neuerer Zeit melden wohl alle Institute einen klaren Vorsprung der SPD und FDP vor der CDU/CSU. Aber zunächst eine allgemeine Frage vorweg: Ist Ihr Handwerk in letzter Zeit schwieriger geworden?

GETAS/VON HARDER: Das möchte ich ganz eindeutig bejahen. Viele Probleme beschäftigen uns mehr als früher. Eines der wichtigsten besteht darin, daß die Bereitwilligkeit zur Teilnahme an einem Interview abnimmt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Qualität einer Umfrage hängt jedoch entscheidend davon ab, daß tatsächlich die Person interviewt wird, die durch die Zufallsauswahl in die Stichprobe gelangt.

SPIEGEL: Wie viele Leute werden entweder nicht erreicht oder lassen sich nicht interviewen?

GETAS/VON HARDER: Etwa 25 bis 30 Prozent.

SPIEGEL: Wie viele von denen, die sich interviewen lassen, weigern sich, die Partei ihrer Wahl zu nennen?

GETAS/VON HARDER: Wenn Sie sich allein auf die »Sonntagsfrage« -also die Frage, welche Partei gewählt würde, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre -- beziehen, zwischen acht und 13 Prozent. Aber die Sonntagsfrage ist nur eine von mehreren Fragen, um die Einstellung zu den Parteien zu ermitteln.

SPIEGEL: Immerhin, die Zahlen, die Sie nannten, bedeuten für die Frage, welche Partei die Bürger wählen, zunächst einmal, daß Sie lediglich 57 bis 67 Prozent der Leute in Ihrer »Stichprobe« haben, die Sie eigentlich allesamt interviewen müßten. Obwohl Sie demnach von mindestens jedem dritten keine Auskunft erhalten, müssen Sie trotzdem über 100 Prozent eine Aussage machen.

INFRATEST/UNHOLZER: Das ist sicher ein wichtiges Problem, aber es gibt andere, die ich für kaum weniger gravierend halte. Manche haben mit unseren Methoden gar nichts zu tun. Wenn es von ein paar tausend Stimmen abhängt, ob eine Partei ins Parlament gelangt oder ob es zu einem Regierungswechsel kommt, dann liegt es außerhalb der Möglichkeiten der Meinungsforschung, darüber noch Aussagen zu machen. Das können wir gar nicht.

SPIEGEL: Wieviel Prozent müßte die FDP bei einer Umfrage erhalten, damit Sie sagen können: Das reicht, die FDP kommt in den Bundestag?

INFRATEST/UNHOLZER: Rein statistisch gesehen, müßten es nach den üblichen Fehlertoleranzen etwa acht Prozent sein. Aber wir reden jetzt etwas zu fiktiv. Die Sonntagsfrage ist ja -wie Frau von Harder gerade sagte -nur eine von vielen. Wir fragen auch nach der Sympathie für Politiker, nach Sachthemen, nach politischen Aufgaben. Das alles zusammen läßt schon Rückschlüsse zu, ob es mit einer Partei aufwärts- oder abwärtsgeht.

SPIEGEL: Nun zu den Differenzen zwischen Ihren politischen Umfragen. Der Unterschied zwischen den März-Zahlen von Emnid und Allensbach war so groß, daß er außerhalb der sogenannten Toleranzbreiten liegt. Das heißt, wenn die Allensbach-Zahl richtig war, dann muß die Emnid-Zahl falsch gewesen sein, und umgekehrt. Haben Sie sich erschrocken, Herr Tacke, als Sie diese miteinander nicht zu vereinbarenden Zahlen sahen?

EMNID/TACKE: Nein, überhaupt nicht. Solche Differenzen sind ja nichts Neues, die hat es in den vergangenen zehn, 15 Jahren des öfteren zwischen den Wahlterminen gegeben. Die Prognosen waren dafür aber richtig.

SPIEGEL: Ihr Gleichmut erstaunt uns, denn eigentlich wird doch von Ihnen erwartet, daß Sie sogar noch genauer arbeiten, als diese Toleranzbreiten erwarten lassen. Sie besagen, daß bei einer Umfrage mit 2000 Leuten ein Ergebnis von 45 Prozent für eine Partei nur bedeutet, daß deren Anteil zwischen 42,8 und 47,2 Prozent liegt. Sehen wir es richtig, daß Sie Ihre Institute schließen müßten, wenn Sie den Parteizentralen oder Ihren anderen Auftraggebern nicht mehr bieten könnten als solche vagen Zahlen?

SINUS/SÖRGEL: Auf diese Fehlertoleranz-Tabellen am Ende unserer Berichte könnten wir in der Tat getrost verzichten. Denn diese Tabellen gehen ja von einem statistisch-mathematischen Modell aus, das für Würfel und Kugeln, aber nicht für die von uns befragten Menschen gilt. Eigentlich müßten deshalb die Institute noch größere Schwankungsbreiten für sich in Anspruch nehmen. Aber dann blieben nur noch Orakelsprüche, mit Prozentzahlen garniert, übrig.

SPIEGEL: Es ist aber umgekehrt. Die Institute sind bemüht und müssen um ihrer Existenz willen bemüht sein, genauer zu arbeiten. Wie groß ist nun die Genauigkeit, die von den Instituten im Alltag angestrebt und erreicht wird, sieht man von Unglücksfällen wie in den ersten Monaten dieses Jahres ab? Die Genauigkeit soll größer sein, als die Toleranztabellen besagen, aber sie muß zwangsläufig geringer sein als bei den Wahlprognosen, die mit erheblichem Aufwand erarbeitet werden und sogar hinter dem Komma stimmen sollen.

SINUS/SÖRGEL: Das wird Ihnen niemand in Zahlen ausdrücken können.

Im nächsten Heft

Im zweiten Teil dieses SPIEGEL-Gesprächs werden die Methoden der Institute kritisch erörtert. Das Kernproblem: Wenn die Institute fragen, welche Partei am nächsten Sonntag gewählt würde, so stimmen die Ergebnisse nicht mit der Wirklichkeit überein. Die Daten werden deshalb »gewichtet«, dabei werden Mehrheiten zu Minderheiten und umgekehrt. Sechs der sieben Institute verfahren so, nur ein Institut lehnt diese Prozedur ab.

Das SPIEGEL-Gespräch endet mit den Antworten auf die Frage, was nach heutiger Erkenntnis »in den letzten Tagen vor der Wahl geschieht«.

S.48Im Hamburger SPIEGEL-Haus. Mit (von links, im Uhrzeigersinn):Wolfgang G. Gibowski (Forschungsgruppe Wahlen, mit dem Rücken zurKamera), Professor Max Kaase (Universität Mannheim, früher Zuma),Klaus Liepelt (Infas), Werner Sörgel (Sinus), Walter Tacke (Emnid),Barbara von Harder (Getas), SPIEGEL-Redakteur Werner Harenberg,Gerhard Herdegen und Friedrich Tennstädt (beide Allensbach), GerhardUnholzer (Infratest), Stenograph Heinz Daenicke.*S.55unten: Polizei bei der Räumung des Bohrgeländes bei Gorleben(Niedersachsen), wo Atomgegner eine »Freie Republik Wendland"errichtet hatten. Mit Bohrungen soll festgestellt werden, ob dort ineinem Salzstock atomarer Abfall aus Kernkraftwerken eingelagertwerden kann.*Oben: Sowjetpanzer in Afghanistans Hauptstadt Kabul;*S.57bei Emnid im Januar, bei Infas Januar bis Mai: Sonstigeeinschließlich Grüne*

Zur Ausgabe
Artikel 37 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren