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PROZESSE Geistig abwesend

Frankfurter Richter steckten einen Angeklagten hinter Gitter, weil sie fürchteten, er werde sich durch unnötige ärztliche Behandlung dem Prozeß entziehen -- eine neue Auslegung des Haftgrundes »Fluchtgefahr«.
aus DER SPIEGEL 1/1975

Er legte sich zur Kur in eine Königsteiner Klinik und suchte Heilung auf der Insel Ischia, denn nur dort, so beschwor er Richter und Staatsanwälte, »kann Fango meine Kreuzschmerzen noch lindern«. Er hatte es mal an der Leiste, mal an der Lunge und auch mal am Steiß.

Stets dasselbe: Wenn der Frankfurter Bauunternehmer und Bordellbesitzer Willi Schütz, 54, sich auf die Anklagebank setzen sollte, bangte er um seine Gesundheit. Doch die Gutachter hielten Schütz durchaus für verhandlungsfähig, wenn er »zwischendurch mal aufstehen und sich räkeln darf«.

Als der Angeklagte weiter wehklagte, fühlte sich Staatsanwalt Jürgen Baedke bald »wie im Zirkus« und sah hinter allem Leid nur noch arge List: Schütz wolle sich vor seinem Prozeß drücken.

Zur Verhandlung stand der Vorwurf des betrügerischen Bankrotts, den der Staatsanwalt in der Anklageschrift auf 566 Seiten gebündelt hatte und den eine Wirtschaftsstrafkammer des Frankfurter Landgerichts an 31 Tagen klären sollte. Dabei war zu prüfen, ob Schütz Vermögenswerte von über 30 Millionen Mark »beiseite geschafft« habe· »in der Absicht, seine Gläubiger zu benachteiligen«.

Der Angeklagte, den die »FAZ« zu »Deutschlands König der käuflichen Liebe« kor, hatte mit Eros-Centern und einschlägigen Etablissements, Kontakt-Kneipen und Absteige-Appartements ein Vermögen gemacht. Doch 1966 erlitt der gelernte Maurer bei riskanten Geldgeschäften schwere Verluste, und die Staatsanwaltschaft entdeckte später bei der Überprüfung eines Konkursantrages, daß Schütz seiner Mutter und seiner Ehefrau Erika (die sich wegen Beihilfe in einem abgetrennten Verfahren verantworten muß) den Nießbrauch an seinen Liegenschaften eingeräumt hatte, um so »den Wert des umfangreichen Grundbesitzes auszuhöhlen«.

Wie damals die Gläubiger durch die Vermögensschiebung fühlte sich jetzt das Gericht durch die Krankengeschichte von Schütz hintergangen. Als wegen einer Leistenoperation die Hauptverhandlung im Oktober ein zweites Mal platzte und Schütz nach seiner Genesung weitere ärztliche Eingriffe ankündigte, griffen die Richter ihrerseits zu juristischer List: Sie schickten Schütz hinter Gitter. Begründung: Aus seinem Verhalten ergebe sich »die naheliegende Befürchtung«, daß der Angeklagte »durch mehrere Operationen und eine Kur, die sämtlich ohne erhebliche gesundheitliche Nachteile bis nach der Hauptverhandlung aufgeschoben werden könnten«, versuchen werde, sich »dem Strafverfahren zu entziehen«.

Der Beschluß des Landgerichts, vom Oberlandesgericht Frankfurt bestätigt, dürfte bei Vertretern einer weniger strengen Haftpraxis auf Kritik stoßen. Denn unter dem Begriff der »Fluchtgefahr« des Paragraphen 112 der Strafprozeßordnung, von den Frankfurter Richtern als Haftgrund bemüht, verstanden Rechtskommentatoren und Richterkammern bislang nahezu einhellig ein »räumliches Sichentziehen«.

Anders dachten, ähnlich wie die Kollegen in Frankfurt, freilich schon einmal Berliner Kammerrichter: Sie bejahten vor Jahresfrist Fluchtgefahr, als bei einer Angeklagten zu befürchten stand, daß sie bei der neu angesetzten Verhandlung wieder »zwar körperlich präsent, infolge Drogeneinwirkung aber geistig abwesend« sein würde.

Vor allem Verteidiger lehnen solche Rechtsauslegung ab. Schütz-Schützer Erich Schmidt-Leichner ("Der Prozeß ist für meinen Mandanten eine Hinrichtung auf Raten") warf den Frankfurter Richtern gar »Rechtsmißbrauch« vor und erklärte sie alle für befangen.

Der Frankfurter Starverteidiger selber freilich mußte Mitte Dezember, nach acht Monate langem Gerichts-Gerangel um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, seinen Platz im Prozeß räumen. Schmidt-Leichner hatte Schütz verärgert ("Er hat mich in der Haft nur zehn Minuten besucht"), und er hatte ihm das Mandat entzogen -- gerade, als Staatsanwalt Baedke anhob, »endlich« die Anklage zu verlesen.

* Grundstoff zur Herstellung von Kautschuk.

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