SINGAPUR Geistige Talfahrt
Lee Kuan Yew, 61, seit 25 Jahren kompromißlos sittenstrenger Regierungschef von Singapur, sorgt sich um die genetisch reine Zukunft seines Volkes.
»Wenn wir so weitermachen« wie bisher, ließ sich der Premier in seiner letzten Rede zum Unabhängigkeitstag vernehmen, »wird unsere Wirtschaft zusammenbrechen, die Verwaltung Schaden nehmen, und unserer Gesellschaft steht der Abstieg bevor.«
Die Schreckensvision des Ministerpräsidenten Lee: Immer mehr arme und ungebildete Singapurer haben immer mehr Kinder; immer mehr wohlhabende und gebildete Singapurer haben immer weniger Kinder. Damit drohe der Absturz der Inselrepublik in geistige Slums.
Lee Kuan Yew hat seine Landeskinder schon früher auf vielfältige Art Mores gelehrt:
Sei es, daß er öffentliches Ausspucken unter Strafe stellen, sei es, daß er die Länge männlicher Haartracht per Gesetz regeln ließ. Das Gebot für jedermann, höflich zu sein, ließ er ebenso schriftlich fixieren wie die Anweisung, nicht mit dem Privatauto in die Innenstadt Singapurs zu fahren.
So geübt im Kujonieren, wußte Lee auch gleich ein Patentrezept für die geistig-moralische
Aufwertung seiner Zukunftsgesellschaft: Die geistige Elite der Frauen Singapurs solle häufiger gebären, die schulisch Unterbemittelten müßten sich in Enthaltsamkeit üben.
Jeder berufstätigen Mutter, die einen Universitätsabschluß vorweisen kann, versprach der Saubermann im Regierungspalast ab Geburt des dritten Kindes einen Steuerrabatt von 30 Prozent sowie eine Staatsgarantie für diese Wunschkinder, später die besten Schulen Singapurs besuchen zu können.
Die ausgelobten Vergünstigungen jedoch verfingen nicht recht; der »Singapore Monitor« mokierte sich gar, hier werde einer »selektiven Zucht« das Wort geredet - was so falsch nicht ist.
Aber wenn schon die eine Gruppe der Frauen Singapurs schwer dazu gebracht werden kann, mehr Kinder zu haben, läßt sich die andere Gruppe vielleicht dazu überreden, die Fortpflanzung einzustellen. Das ist das neueste Programm des Volksfamilienplaners Lee - und es verspricht ein Hit zu werden:
Seit dem 1. Juni werden Frauen, die höchstens 30 Jahre alt sind, über ein monatliches Familieneinkommen von nicht mehr als 1500 Singapur-Dollar (2100 Mark) verfügen und bestenfalls die Hauptschule besucht haben, mit 10 000 Singapur-Dollar Staatsprämie belohnt, wenn sie sich nach ihrem ersten oder zweiten Kind sterilisieren lassen.
Das Geld soll als Anzahlung für den Kauf einer Wohnung in den unzähligen Apartmentblocks, die die Regierung seit Jahren hochziehen läßt, verwendet werden. Sollte eine so prämierte Armenfamilie gleichwohl weiteren Nachwuchs bekommen, ist die gesamte Summe zur Rückzahlung fällig - verzinst mit zehn Prozent.
Allein in der ersten Woche des aberwitzigen Planungsprogramms meldeten sich etliche hundert Frauen zur Sterilisierung an.
Das Programm gründet auf Lees Überzeugung, daß das kleine, lediglich zweieinhalb Millionen Einwohner zählende Singapur nur durch die Innovationskraft, also Bildung und Intelligenz seiner Menschen in Zukunft überleben könne. Und Intelligenz, meint der Ministerpräsident, sei erblich.
Das betonte Lee schon vor 15 Jahren während einer Parlamentsdebatte und fügte hinzu, der deutlich erkennbare Hang der Gebildeten zur Kleinstfamilie werde deshalb langfristig zu einer geistigen Talfahrt der Bevölkerung führen.
In einer vor kurzem herausgegebenen Regierungserklärung zur neuen Familienpolitik liest sich das so: »Die meisten Frauen mit vier oder mehr Kindern stammen aus Familien mit niedrigem Einkommen und sind wahrscheinlich ohne Schulabschluß. Sie sind unfähig, aus dem Teufelskreis (Armut gleich mangelnde Bildung) auszubrechen. Sie nehmen die gleiche soziale Stellung wie ihre Eltern ein und bringen so eine weitere Generation benachteiligter Kinder auf die Welt.«
Wenn dieser Kreis aber nicht durchbrochen wird, so Lee Kuan Yew, werde in Singapur in den nächsten 25 Jahren der Anteil der Akademiker an der Gesamtbevölkerung um ein Drittel sinken, der Anteil der ungelernten Arbeiter andererseits um ein Drittel steigen.
Abhilfe also tut not; doch mit der Sterilisation der Dummen und Armen allein ist es nicht getan. Die Klugen und Reichen sollen zwar mehr Kinder zeugen und gebären - doch natürlich, wie es dem moralisch rigiden Verständnis des Regierungschefs entspricht, nur im sittlich gefestigten Rahmen der Ehe.
Das ist die Crux: Viele Singapurer haben nicht nur wenig Lust auf Kinder - sie heiraten auch spät oder nie.
Deshalb hat die Regierung des Inselstaates vor kurzem Experten nach Japan entsandt, dort zu ergründen, wie Nippons Großunternehmen ihre Angestellten zur Eheschließung animieren. Ab September wird es an Singapurs Oberschulen auch ein neues Lehrfach geben: Ehewissenschaft - ein Kursus in der Kunst, einen Partner zu finden.
Mehr noch: Ministerpräsident Lee verfügte in der Regierung die Schaffung einer »Behörde für soziale Entwicklung«. Die Hauptaufgabe des Amtes besteht in der Anbahnung von Ehen unter akademisch gebildeten Angestellten des öffentlichen Dienstes. Schon wurden Dutzende von Wochenendtrips in Erholungsorte und auf See für junge Akademiker-Singles arrangiert. Singapurs Presse nennt die dafür gecharterten Regierungs-Schiffe treffend »Love Boats«.
Lee Kuan Yews Züchter-Glaube, gebildete Leute brächten naturgegeben intelligenten Nachwuchs zur Welt, wird nicht von allen Singapurern geteilt. Doch der Premier läßt sich durch solche Zweifel nicht beirren. Sein entscheidendes Argument ist der Hinweis auf seine eigenen Familie:
Lee und seine Frau haben beide Jura studiert, an der Universität Cambridge. Sie haben drei Kinder, die ebenfalls einen Universitätsabschluß vorweisen können. Und die Kinder haben es folglich zu etwas gebracht. Lees ältester Sohn, gleich dem Vater Cambridge-Absolvent, machte steile Karriere in der Armee: Er ist heute Stabschef in Singapur.