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SOWJET-UNION / DE-GAULLE-BESUCH Gekühlter Rubin

aus DER SPIEGEL 27/1966

Auf den Lenin-Bergen, südwestlich von

Moskau, ließ Charles de Gaulle die ungefüge »Sil«-Limousine anhalten. Er stieg aus und sah feierlichen Blickes auf das rote Rom, das - wie die Stadt am Tiber auf sieben Hügel gebaut - noch dampfend von einem heißen Gewitterregen zu seinen Füßen lag.

Ein Windstoß legte die Kuppeln der Kreml-Türme frei. Es war, als zerreiße er die Schleier der Geschichte, die über der Szene wehten. Der General hatte wohl gerade an dieser Stelle dem Volk nahe sein wollen. Er suchte Russenhände zu schütteln, aber er fand nur die Hände verwirrter DDR-Touristen, und er bemerkte den Irrtum nicht. Hier oben stand der Legende nach (tatsächlich, weil er auf der Minsker Chaussee vorrückte, weiter nördlich) auch Napoleon. An dieser Stelle, so hatte er gehofft, würden die Moskowiter ihm die Schlüssel ihrer Stadt überreichen. Statt dessen sah er die ersten Flammen eines Brandes züngeln, der den Abgrund zwischen Wunsch und Wirklichkeit gespenstisch erhellte.

»Laßt uns Napoleon vergessen«, hatte Wladimir Promyslow, Präsident des Moskauer Stadtsowjets, den Franzosen vor de Gaulles Ankunft empfohlen - wohl in der Erkenntnis, daß die Geschichte der russisch-französischen Beziehungen nur infolge intensiven Vergessens so idyllisch werden konnte, wie sie sich aus Anlaß von de Gaulles Besuch darstellt.

Frankreichs Staatschef hatte Wichtigeres zu vergessen als die Taten des Imperators Bonaparte. Vielleicht wurde ihm, als er in seiner »Caravelle«, von

sieben Mig-21-Jägern geleitet, über die Ebenen Westrußlands dahinzog, wieder einmal bewußt, daß dieses Rußland doch anders ist, als der Charmeur Winogradow, Moskaus langjähriger Paris-Botschafter, die Franzosen glauben gemacht hatte.

Und als die Kapelle der Moskauer Garde auf dem Flughafen Wnukowo die zugleich jovialen wie bombastischen Melodien sowjetischer Militär-Musik erklingen ließ, die dem französischen Geschmack noch mehr widerstrebt als »Preußens Gloria«, da war offenbar, wie verwegen die Generals-Vision eines Europa »vom Atlantik bis zum Ural« ist. Der General auf der Gangway sah aus wie Ludwig XIV. in einer Khaki-Uniform.

Die russische Umarmung - das sah de Gaulle schon in Paris - hat nichts von der Leichtigkeit gallischer Akkoladen. Und er reagierte entsprechend.

Noch kurz vor de Gaulles Abreise bot Moskau den Franzosen den Neuabschluß jenes Beistandspaktes von 1944 an, den die Russen 1955 gekündigt hatten. Die Franzosen lehnten ab.

Behutsam empfahl de Gaulle nach der Ankunft auf dem Moskauer Flughafen, beide Staaten sollten ihre Politik »aufeinander abstimmen« ("concerter leurs actions"). Dann rief er, am letzten Montag um 16.35 Uhr Moskauer Zeit, sein erstes »Da sdrastwujet Rossija« - Es lebe Rußland.

In Moskau wurde deutlich: Nicht nur de Gaulle sieht die Sowjet-Union anders, als sie ist, wenn er sie am Ural begrenzen will, auch die Sowjets begreifen nur den halben de Gaulle, und selbst den historischen müssen sie partiell verdrängen.

Er ist ihnen der beharrliche Gegner Hitler-Deutschlands, des amerikanischen Einflusses in Europa und der Atom-Bewaffnung der Bundesrepublik. Was dazwischen liegt, »ist nicht gut«, sagen ein paar Germanistik-Studenten, die - gemeinsam mit den auf Lastwagen zum Lenin-Prospekt Nummer 83 transportierten Arbeitern - Papierfähnchen mit Pappstielen schwenken.

Denn dazwischen liegt der Kalte Krieger de Gaulle, der Anfang der fünfziger Jahre prophetischen Antikommunismus trieb, als er sagte: »Es riecht nach Krieg. Ich höre die Kosaken auf Paris marschieren.«

Dazwischen liegt schließlich der de Gaulle, der gemeinsam mit Adenauer in der Kathedrale von Reims die Messe hörte.

Die Sowjets wollten dem General mit dieser Rußland-Reise die Gelegenheit geben, sich als so gut zu erweisen, wie sich ihn die russische Seele und die Planer im Kreml wünschen. Aber de Gaulle, wohl merkend, in welch simples Schema er gezwängt werden sollte, entzog sich der Umarmung.

Auf Verlangen der Franzosen unterließen die Sowjets in ihren Ansprachen die üblichen Ausfälle gegen die Kriegstreiber in Washington.

Als Staatschef Podgorny beim ersten Toast am Montagabend eine »Entente zwischen beiden Ländern« herbeiwünschte, korrigierte de Gaulle sogleich: eine Entente »zwischen Staaten, die sich bisher feindlich gegenüberstanden«, und flocht sogar - wenn auch verklausuliert - die Feststellung ein, daß er die »wesentliche Rolle in keiner Weise verkenne, die Amerika bei der Befriedung und Umformung der Welt zu spielen hat«.

Am Dienstagmorgen stieß Parteichef Breschnew nach. Hier wurde deutlich, daß nicht Ministerpräsident Kossygin, sondern der Parteisekretär die führende Position in der Kreml-Hierarchie innehat. Im Katharinensaal des Großen Kreml-Palastes wollte er den Franzosen begreiflich machen, sie könnten der europäischen Sicherheit am besten durch Anerkennung der DDR dienen. De Gaulle erwiderte eisig: »Die DDR ist Ihre Schöpfung, ein künstlicher Staat, dessen Anerkennung ohne Bedeutung oder praktischen Wert für die Politik ist.«

Damit hielt sich der französische Staatschef streng an die Grundlinie seiner Deutschland- und Europa-Politik: Die deutsche Wiedervereinigung ist die Voraussetzung für die Überwindung der Spaltung Europas; erst dieses Groß-Europa, in dem auch Rußland seinen Platz finden müßte, ist in der Lage, ein wiedervereinigtes Deutschland einzudämmen und zu ertragen. Breschnew jedoch wetterte gegen »das revanchistische Bonn, das die neuen Grenzen nicht anerkannt hat und nach Atomwaffen strebt«.

Gegen de Gaulles gepflegte Untugenden, gegen seine Hartnäckigkeit und seinen ungeduldigen Stolz, unter denen seine Freunde im Westen so oft zu leiden hatten, kamen auch die Sowjets nicht an. Mit olympischer Ausdauer titulierte er sie »Russen« und sprach von »Rußland«, wenn es »Sowjetmenschen« oder »Sowjet-Union« heißen mußte - in Moskauer Augen fast schon ein Affront und von de Gaulle sicher keine Nachlässigkeit, sondern ein Programm. Erst beim Einzug in Nowosibirsk ließ der General nicht mehr Rußland, sondern die Sowjet-Union hochleben: rund 3000 Kilometer östlich von Moskau und 1600 Kilometer östlich des Ural.

Ungeniert rührte er selbst an die Tabus der Sowjet-Geschichte, als er im Katharinensaal des Kreml auf den Tisch klopfte und sagte: »Ich glaube, hier habe ich schon 1944 gespeist.« Fragte Premier Kossygin: »Mit Stalin?« Darauf de Gaulle: »Ja, ich habe hier gesessen und er dort.«

Kaum hundert Meter entfernt, vor der Kreml-Mauer, liegt jener Stalin, der den General de Gaulle nicht zur Konferenz von Jalta zuließ, wo die Welt verteilt wurde, jener Stalin, an dessen schmucklosem Grab die Führerinnen des staatlichen Reisebüros »Intourist« die Fremden hastig und traurig vorbeiführen, höchstens noch die Bemerkung riskierend: »Niemand hätte gedacht, daß so etwas wie unter Stalin in Rußland passieren könnte.«

De Gaulle stieg nicht in die Gruft hinab, in der seit Stalins Abtransport nur noch der rote Gott Lenin ruht, die Rechte zur Faust geballt, die Linke friedlich entspannt. De Gaulle-besuchte nicht Moskaus Stolz, die Lenin-Bibliothek, und nicht das Riesen-Panorama der Napoleon-Schlacht von Borodino an der Kutusow-Allee.

Er ließ Rußland vor nur 7000 Menschen vom Balkon des Moskauer Stadtsowjets aus hochleben, auf dem seit Lenin niemand mehr eine Rede gehalten hat, aber er wußte die Ehre offenbar nicht zu schätzen - jedenfalls honorierte er sie nicht.

Er übersah Lenins Haupt, das dem Balkon gegenüber auf rotem Grund plakatiert ist, und auch die Riesen-Lettern auf den umliegenden Häusern nahm der kurzsichtige Franzose nicht zur Kenntnis: »Vorwärts zum Sieg des Kommunismus« und »Ruhm allen Stoßarbeitern der roten Arbeit«.

29 Kilometer fuhr er, um Moskau zu besichtigen. Da aber der Weg, den ein Staatsgast nimmt, nach Moskauer Brauch nicht in den Zeitungen veröffentlicht wird, stand niemand Spalier, keine Fahne, weder rot noch blauweiß-rot, schmückte die öden Fassaden der Wohnkasernen. Selbst die Flaggen auf dem neun Kilometer langen, schnurgeraden Lenin-Prospekt, den der General bei seinem Einzug hinuntergefahren war, wurden bereits eine Stunde nach Passieren des Gastes wieder eingesammelt. Aus den scheußlich-traurigen Prunkbauten der Stalinzeit starrte dem Ästheten de Gaulle eine fremde, kalte Welt entgegen.

Unter den meterhohen roten Sternen auf den Kreml-Türmen (mit Spezialkühlsystem, damit die erleuchteten Rubin-Glasscheiben nicht platzen), in einer Sechs-Zimmer-Flucht mit Klima-Anlage, legte sich jener Mann schlafen, der sich nach seinen eigenen Worten beim Anblick der über der Kuppel des Pariser Invalidendoms untergehenden Sonne eins mit Frankreich und der Welt fühlt. In Moskau mußte er fühlen, daß diese Vision ihre Grenzen hat.

De Gaulle zog aber auch den Russen eine Grenze. Am Mittwochnachmittag in der pompösen, von 1352 Lampen erleuchteten Aula im 24. Stock der Lomonossow-Universität, vor einem Riesen-Mosaik triumphierender roter Fahnen, wagten es Rektor Petrowski, Professor Leontjew und Studentin Zigankowa, den General an die gemeinsamen Taten gegen den Faschismus zu erinnern. De Gaulle, blaß, die Augen - besonders das linke - gerötet, trank dreimal hastig aus seinem Wasserglas und sagte: »Die neue russisch-französische Allianz soll der Kultur, der Wissenschaft und dem Fortschritt dienen« - nicht der Erinnerung an das Gestern und nicht der Politik von morgen.

Als Charles de Gaulle nach der ersten Gesprächsrunde im Kreml seine 12 000 Kilometer lange Reise hinter den Ural antrat, war er dem Drängen der Sowjets auf Abschluß eines politischen Konsultationsabkommens noch nicht nachgekommen.

Er hatte seinen Gastgebern lediglich Hoffnung auf die Unterzeichnung zweier unpolitischer Verträge gemacht: über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und über sowjetisch-französische Kooperation in der Weltraumforschung.

In zwei für die Zukunft Deutschlands wichtigen Punkten stellten Sowjets und Franzosen - wie schon seit Jahren - bei den Kreml-Ge§prächen Übereinstimmung fest: Beide erkennen die Oder-Neiße-Linie als endgültige Ostgrenze Deutschlands an; beide wenden sich dagegen, daß die Bundesregierung eine Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhält.

Rußland-Reisender de Gaulle, Gastgeber Kossygin, Podgorny: Napoleon vergessen

Daily Express

»Wir sollten nett zu Seiner Hoheit sein, aber der Genosse Kossygin brauchte wirklich nicht gleich 'Gopak' für ihn zu tanzen«

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