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BRASILIEN Gelobtes Land

Die Hauptstadt Brasilia ist ein Sammelpunkt für Wunderheiler, Magier und Spiritualisten aller Art geworden - Reaktion auf die menschliche Entfremdung in der Retortenstadt. *
aus DER SPIEGEL 6/1987

Ich war 20 Jahre alt, als ich dazu berufen wurde, die Materie zu verlassen«, berichtet Neide Barroso. Doch ein überirdisches Wesen rettete sie, mit der Auflage, die »Bruderschaft des Kreuzes und des Lotos« zu gründen. Fortan erhielt sie ihre Instruktionen von oben. 1975 kam ein ganz konkreter Befehl: »Umziehen in die Hauptstadt Brasilia.«

Einem jungen Programmierer in Rio de Janeiro erging es ähnlich. Kosmische Wesen erteilten ihm den Befehl: »Geh nach Brasilia!«

Der Leutnant Oceano de Sa von der brasilianischen Luftwaffe wollte nicht hören, als ihm bei einem Flug über Zentral-Brasilien im Jahre 1944 ein Wesen erschien und erklärte: »Dein Platz ist auf Erden.« Das Flugzeug stürzte ab, Leutnant de Sa erwachte in einem Krankenhaus.

»Willst du nun hören?« fragte der Außerirdische jetzt neben dem Bett. Der Offizier gab die Pilotenlaufbahn auf, nannte sich fortan Yokanaam und gründete auf dem zentralen Hochplateau Brasiliens eine mystische Kolonie.

Die Liste solcher »Berufungen« ist endlos. Über 700 Sekten, Wunderheiler, mystische Gruppen und esoterische Vereine haben sich in Brasilia angesiedelt -

ganz abgesehen von den 1500 Candomble- und Umbanda-Zentren, den Tempeln afrobrasilianischer Kulte. »Dies ist eine mystische Stadt«, schreibt das Amt für Tourismus im Prospekt über die vor 30 Jahren in die Einöde gesetzte künstliche Hauptstadt Brasiliens.

Das war gewiß nicht die Absicht des Star-Architekten Oscar Niemeyer gewesen, als er die Retortenstadt gemeinsam mit Städteplaner Lucio Costa und Gartenbauer Burle Marx in einer Rekordbauzeit von nur drei Jahren errichtete. Brasilia sollte zukunftsweisend sein, Symbol eines neuen Brasilien werden, das mutig den Weg ins Industriezeitalter geht. In der großzügig geplanten Anlage sollte der Verkehr nie stocken, sollten gar die Klassengegensätze durch die einheitliche Bauweise der Wohnblocks verschwinden. Nur eine halbe Million Menschen sollten bis zum Jahr 2000 in der Hauptstadt Brasilia wohnen.

Heute beherbergen Niemeyers Einheitsblocks zwar tatsächlich nur eine halbe Million Menschen, Beamte zumeist. Und dennoch ist der Traum der Gründer zerronnen: Eine Million Menschen zwängen sich in Satellitenstädten, deren Elend die berühmten Favelas von Rio noch übertrifft.

Wie in allen Großstädten des Riesenreichs Brasilien strömen die Arbeitslosen morgens ins Zentrum, ballen sich auf Plätzen und an den wichtigsten Kreuzungen, um per Straßenverkauf ein karges Brot zu verdienen - Fremdkörper in einer Stadt, deren Straßen nur für Autos und Militärparaden gedacht waren.

»Brasilia bedrückt die Menschen«, meint Journalist Dioclecio Luz, der allwöchentlich eine Zeitungsseite über esoterische Erscheinungen in der Hauptstadt füllt. »Die Weite, die Leere dieser Stadt verursachen Vereinsamung.«

Die »Esplanade der Ministerien« etwa wirkt wie eine Wüste, ein riesiges kahles Gelände zwischen den grünlich glitzernden Blöcken der Gebäude: Grandioses ins Unmenschliche gesteigert.

Am Ende des Beton-Spaliers ein brillanter Niemeyer-Entwurf: das Parlament mit einer nach oben und einer nach unten geöffneten Halbkugel. Doch gleich dahinter beginnt wieder die Steinwüste: der »Platz der drei Gewalten« mit Parlament, Oberstem Gericht und Regierungspalast - ein bauliches Ensemble menschlicher Entfremdung. Allein die Machthabenden, die hier im Dienstwagen herangefahren werden, empfinden es wohl anders.

Leben regt sich in Brasilia nur hinter den Fassaden, im Venancio-Einkaufszentrum etwa, einem fast orientalischen Gewühl von Gängen und Innenhöfen, einem von Beton umhüllten Suk.

Sonst sind die Straßen menschenleer. Wer möchte sich schon über die acht Spuren wagen, die schnurgerade an der Ministerienreihe vorbei nach Norden und nach Süden laufen, bis in die Wohnviertel.

Niemeyers Architektur, schon in Amtsgebäuden und Theatern monumental, wirkt hier stalinistisch - Reihen einförmiger Wohnblocks, einfallslos wie die langweiligste Neue-Heimat-Siedlung.

Brasilia sollte den Regierenden fern vom Druck gesellschaftlicher Kräfte ruhige Arbeit ermöglichen - ideale Bedingungen für die Militärdiktatur, obschon Brasilia gewiß nicht für sie entworfen wurde. Aber es paßte sich schmerzlos an.

Die Reaktion der Menschen auf diese Herausforderung durch den Beton der Städteplaner konnte wohl nicht anders sein: Nirgends wuchert der Okkultismus so ungehemmt wie in Niemeyers Zukunftsstadt.

Die Kälte des künstlichen Beton-Habitats verstärkte die Neigung der Brasilianer zu Aberglauben und spinnertem Ritual. »Nur in Brasilia kann man sich an einen Kneipentisch setzen und erzählen, man habe gerade außerirdische Kontakte gehabt, ohne ausgelacht zu werden«, meint Marcos Magalhaes vom »Jornal do Brasil«.

Die Mystiker lehnen soziologische Erklärungen dafür ab. Sie glauben, ihre Stadt sei ein magisches Zentrum. »International anerkannte Gelehrte halten Brasilia für die Hauptstadt des dritten Jahrtausends«, so lockt sogar die Tourismus-Behörde Besucher der Stadt. Und Beweise gibt es dafür angeblich massenhaft.

Daß Brasilien, vor allem an der Küste kolonisiert, eine neue Hauptstadt benötige, um das endlos weite Hinterland zu erschließen, war seit dem 18. Jahrhundert immer wieder behauptet worden. Im 19. Jahrhundert kam dann die erste mystische Weisung - sie erging an den Salesianer-Heiligen Giovanni Bosco in Turin.

»Ein 16jähriger Jüngling von überirdischer Schönheit näherte sich mir«, phantasierte er 1883 vor dem Salesianer-Rat. Der Jüngling schickte ihn auf eine Reise nach Südamerika.

Am Ostrand der Anden, »zwischen dem 15. und dem 20. Breitengrad, lag eine weite Ebene, die von der Spitze eines Sees ausging«, berichtet Don Bosco. »Dann sagte eine Stimme plötzlich: 'Wenn die in den Bergen verborgenen Minen genutzt werden, entsteht hier das Gelobte Land, das Milch und Honig spendet.'«

Brasilia liegt tatsächlich zwischen dem 15. und 16. Breitengrad, auf einer Ebene zwischen Anden und Atlantik und an einem See - auch wenn dieser künstlich aufgestaut ist.

Nicht nur Don Bosco hatte solche Visionen. Der Dalai Lama soll einst die Zerstörung Tibets durch die »Kräfte des Bösen« vorhergesehen haben, aber auch die Verlegung des geistigen Zentrums der Welt auf eine südamerikanische Hochebene.

Sogar den Präsidenten Juscelino Kubitschek, der 1956 den Bau Brasilias begann, haben angeblich Geister vorangetrieben: »Schon 1953 zeigte Juscelino uns den Plan einer großen Stadt im Weltraum, der ihm von sieben außerirdischen Wesen gegeben worden war«, weiß die Seherin Efigenia Dias Bicalho

zu berichten, »es war der Plan von Brasilia.«

Tatsachlich fiel dem Städteplaner Lucio Costa der vogelähnliche Grundriß der neuen Metropole eines Nachts ganz plötzlich ein. Er hatte nur noch Zeit einen Satz grober Skizzen für die Ausschreibung einzureichen - trotzdem gewann sein Projekt.

»Es hatten sich 26 Städteplaner beteiligt«, erinnert sich Diolecio Luz, der in einem umfassenden Werk ("Magischer Führer Brasilias") die okkulte Seite der Hauptstadt aufgezeichnet hat. »Lucio Costas Entwurf trug die Nummer 22 - im Tarock von Marseille heißt die Karte Nummer 22 'Abenteuer', im alten ägyptischen Tarock heißt sie 'Rückkehr'.«

Für viele ist Brasilia nicht so sehr ein Abenteuer, als vielmehr eine Rückkehr, eine Wiedergeburt. Da weiß vor allem die in Kairo ausgebildete Ägyptologin Iara Kern Bescheid. Überall in der Stadt hat sie Zahlen aus dem ägyptischen Tarock oder der jüdischen Kabbala aufgedeckt: Die großen Wohnblocks etwa bestehen aus elf Gebäuden mit je sechs Stockwerken, also 66 Stockwerken. Sechs und sechs gibt 12, die Zahl, die das Universum regiert. Unzählige Gebäude Brasilias, die der mystisch orientierte Tourist dank eines neuen Prospektes bald systematisch besuchen kann, finden ihresgleichen nur in der alten Kultur Ägyptens. Die Stufenpyramide der Elektrizitätswerke Brasilias etwa ist laut Iara Kern eine Neuauflage der Stufenpyramide in Sakkara bei Kairo.

»Die Kinder, die in Brasilia geboren wurden und hier aufwuchsen, sind ganz anders«, meint Iara Kern. »Für die Spiritualisten sind sie eine Reinkarnation der 18. Dynastie des alten Ägypten.«

Der Pharao Echnaton baute eine neue Hauptstadt, Achet-Aton, und schuf Kubitschek Brasilia als künftige Hauptstadt des dritten Jahrtausends. »Sowohl Echnaton wie Juscelino Kubitschek lebten nur noch 16 Jahre nach der Vollendung ihrer Städte«, weiß Iara Kern. »Und beide kamen gewaltsam um.«

Wer Parallelen finden will, hat es leicht in dem geometrischen Grundriß Brasilias. Da wimmelt es nur so von bedeutsamen Dreiecken und Sternen, überall läßt sich der Weg zu einer bestimmten Tarock-Karte errechnen. »Es gibt hier natürlich unendlich viel Scharlatane und Geschäftemacher«, meint Dioclecio Luz, »die mit dem Namen Brasilias Schindluder treiben.«

Trotzdem glaubt auch er, daß Brasilia eine mystische Stadt sei - bis tief in die Verwaltung. »Die Ministerien sitzen hier voll von Zauberern«, sagt Dioclecio und nennt etwa Luis Gonzaga Scortecci, einen Abteilungsleiter in der Regierung des »Distrito Federal«.

Von Beruf Architekt, hält der nicht viel von einer rein rationalen Erklärung der Welt durch die moderne Wissenschaft: »Ich ziehe esoterische Erklärungen

vor.« In den großen Zyklen der menschlichen Entwicklung, die von der geheimen, geistigen Regierung der mystischen »sieben Weisen« bestimmt werden, ist es nun angeblich an Brasilia, Zentrum einer neuen Zivilisation zu werden, wie es einst Rom war.

In Brasilia, der Hauptstadt des fünftgrößten Flächenstaates der Welt, lernt man, daß der Mensch nur ein Gast auf diesem Planeten sei und eigentlich zu einer wandernden, interplanetarischen Zivilisation gehöre. So muß er das verlorene Wissen wiedererlangen, um auf seine eigentliche, höhere Ebene zurückzukehren. Außerirdische Brüder können ihm dabei helfen.

Gewiß sind dies Ideen, die unter den Esoterikern auf der ganzen Welt Anhänger haben. Doch nirgends ist die offizielle Anerkennung solchen Gedankenguts so weit fortgeschritten wie ausgerechnet in Brasilia. »An Zauber glauben?« fragt Gouverneur Jose Aparecido de Oliveira, »ja warum denn nicht? Die Bescheidenheit des Unwissenden ist das mindeste, was wir zeigen sollten.«

Doch der Gouverneur bietet weit mehr. Kürzlich verlieh er den führenden Mystikern den Orden der Stadt - sinnigerweise »Alvorada« (Morgenröte) genannt. Und auch ein Stück Land versprach er, um eine »holistische Universität« zu errichten, ein Zentrum, in dem alle esoterischen Gruppen ihr Wissen predigen sollen.

Sicher war es das erste Mal, daß ein Regierender dabei in einer Rede ein überirdisches Wesen zitierte, als sei es Napoleon oder Churchill: »Wie Mabi Isa schrieb«, erklärte der Gouverneur, »werden sich in Brasilia Himmel und Erde treffen, damit die Menschheit in die interplanetare Gesellschaft zurückkehren kann, aus der sie einst ausgeschlossen wurde.«

Auch über alternative Energie, Naturheilkunde und natürliche Ernährung soll im neuen esoterischen Zentrum gelehrt werden - ein staatliches »Institut für alternative Technologie« (Ita) macht mit.

»Wir sehen die Sachen anders als etwa die europäischen Grünen«, erklärt Fernando Lemos, Ita-Leiter und Chefredakteur der Tageszeitung »Correio Braziliense": »Die wollen die Symptome heilen, nicht die Ursachen.«

Brasilias Esoteriker dagegen wollen die Erde total den Tieren und Pflanzen überlassen. Ist der Mensch erst einmal auf seine höhere Zivilisationsstufe zurückgekehrt, wird er alles, was er benötigt, aus dem Kosmos beziehen können. »Magie ist die Umwandlung von Energie«, sagt Dioclecio Luz.

Brasilien und Brasilia geben fruchtbaren Nährboden für einen solchen Glauben ab. »Meine Liebe, ich bin traurig«, schrieb einst der Dichter Carlos Drummond de Andrade, »ich bin der einzige lebende Brasilianer, der noch nie eine fliegende Untertasse gesehen hat.«

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