GEMÄSSIGTE MODERNE
Dein Nachruf auf Arturo Toscanini erklärt reichlich apodiktisch, daß die Musik für den Maestro bei Debussy aufgehört habe. Das entspricht keineswegs den Tatsachen. Toscanini hat sich seinerzeit nachdrücklich für ein so modernes Werk wie Ravels »Bolero« eingesetzt, hat Schallplattenaufnahmen von »Daphnis und Chloe« dirigiert; er hat auch die frühen Werke Strawinskys (wäre der nicht schon längst eine Titelstory wert?*) aufgeführt und sich auch für eine Reihe anderer Zeitgenossen interessiert: Prokofieff, Kabalewsky, Schostakowitsch, den er für Amerika mitentdeckte, außerdem Samuel Barber, Aaron Copland, Don Gillis und andere. Der Mailänder Scala empfahl er nachdrücklich Gottfried von Einems »Dantons Tod«, und, um das Bild abzurunden: er dirigierte auch George Gershwins »Ein Amerikaner in Paris« für »His Master's Voice«.
Die Zwölfton-Radikalinskis werden Dir, lieber SPIEGEL, zweifellos beipflichten, daß Toscanini für die »Moderne«, wie sie den Begriff verstanden wissen wollen, absolut nichts übrig hatte. Schönbergs Name war ihm ein rotes Tuch, und nach dem Internationalen Musikfest im Jahre 1935 in Venedig erklärte Toscanini bissig nach einigen Uraufführungen, jetzt müsse man das Theater schließen und desinfizieren. Aber dennoch war er zeitgenössischen Werken gegenüber mit achtzig Jahren noch weit aufgeschlossener, als es bei uns,namhafte Endvierziger zu sein pflegen.
München 59 DR. WALTER PANOFSKY
* SPIEGEL 43/1951: »Strawinsky - Dies ist Apolls Gebot« (Titelgeschichte)
Arturo Toscanini