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SPD Gemurmel und Gejammer

aus DER SPIEGEL 46/1967

Drei Stunden lang versuchte Herbert Wehner, die Genossen zu überzeugen: Die Große Koalition in Bonn leiste gute Arbeit »für das ganze deutsche Volk«, und die SPD habe entscheidenden Anteil daran.

Dann ging einer der 1300 versammelten Genossen aus den westfälischen SPD-Unterbezirken ans Mikrophon der Kleinen Dortmunder Westfalenhalle und antwortete kalt: »Auch ein stellvertretender Parteivorsitzender ist abwählbar.«

Herbert Wehner, Chef-Programmierer der zur Volkspartei gewandelten SPD, reagierte vorletzten Samstag in Dortmund anders als sonst: Statt seine Kritiker anzubrüllen oder abzukanzeln, hüllte er sich in Pfeifenqualm und schwieg.

Mehr noch als der persönliche Angriff traf den Parteivize und Ziehvater der Großen Koalition die Kritik an seinem politischen Programm: Von den insgesamt 25 Diskussionsrednern der westfälischen Parteiversammlung

stimmte kein einziger in Wehners hohes Lied auf die sozialdemokratischen Bonner Regierungskünste ein.

Die offen ausgesprochene Drohung, ihn abzuwählen, ließ Herbert Wehner erkennen, welches Ausmaß die seit Monaten schwelende Unzufriedenheit vieler Genossen mit der Politik der

SPD-Führung bereits angenommen hat. Bis zum Juni dieses Jahres hatten die unzufriedenen Sozialdemokraten stillgehalten, um ihrer Minister-Mannschaft eine faire Chance zu geben. Doch als nach sechsmonatiger Schonfrist die SPD noch immer Mühe hatte, Erfolge ihrer Regierungsbeteiligung nachzuweisen, dafür aber in drei Landtagswahlen erhebliche Stimmenverluste erlitt, formierte sich innerparteiliche Opposition.

Der rheinland-pfälzische DGB-Vorsitzende Julius Lehlbach begann, Opponenten in »Arbeitsgemeinschaften sozialdemokratischer Gewerkschafter« zusammenzuschließen. Lehlbach: »Wir sind es leid, in der SPD die Rolle des Chors der griechischen Tragödie zu spielen -- nämlich durch Gemurmel und Gejammer lediglich den Hintergrund abzugeben für das politische Spiel anderer. Offenbar weiß Herbert Wehner gar nicht, wie groß die Unzufriedenheit gerade der Gewerkschafter mit der SPD ist.«

Wehner hätte dies in Frankfurt am Main erfahren können. Dort gruppierte sich im Frühjahr um die Redaktion der sozialistischen Zeitschrift »Express International« ein Kreis solcher sozialdemokratischer Politiker und Gewerkschafter, die den Koalitions-Kurs ihrer Parteileitung für fatal halten. Anführer des roten Kreises sind

> der schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Joachim Steffen,

> der zweite Vorsitzende des SPD-Bezirks Hessen-Süd und IG-Metall-Funktionär Olaf Radke,

> der Münchner SPD-Landtagsabgeordnete Erwin Essl.

Während die Bonner Parteiführer wegen Arbeitsüberlastung in ihren Ministerämtern den Kontakt zum sozialdemokratischen Fußvolk fast völlig verloren haben, knüpfen die Kreis-Leiter in der Provinz heimliche Bande zu fast allen Bezirksverbänden von Partei und Gewerkschaften.

In Diskussionen und internen Beratungen, zu denen Steffen auch den Kieler Wirtschaftswissenschaftler Professor Reimut Jochimsen mitbringt, »damit endlich mal das Gesabbel aufhört«, fixiert die sozialdemokratische Linke ihre Marschroute gegen Herbert Wehner und gegen den Wirtschaftsminister Professor Karl ("Fisimatenten-Karl") Schiller.

Die Kritiker des Wehner-Kurses monieren, daß

> die SPD nach »ideologischen Mustern spießbürgerlicher Vorprägung« (Olaf Radke) arbeite;

> die bundesdeutsche Politik »seit Gründung der Großen Koalition nur noch im (Kabinetts-) Saale stattfindet« (Julius Lehlbach);

> die SPD zur »sozialistischen Gartenlaube« (Olaf Radke) degeneriere;

> die SPD »die Massen manipuliert, anstatt sie aufzuklären, vom blauen Himmel über der Ruhr spricht, anstatt von der Krise des Kohlebergbaus« (Joachim Steffen).

Statt dessen verlangt die Frankfurter Linke von ihrer Partei

> die Verabschiedung eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes, das die gleichberechtigte Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allen Betrieben garantiert;

> die Ablehnung der geplanten Notstandsgesetzgebung;

> die beamtenähnliche Versorgung sämtlicher Arbeitnehmer;

> die Sicherung der Arbeitsplätze durch strukturelle Reformen, auch wenn solche Reformen im Augenblick konjunkturhemmend wirken müßten.

Solange an der Ruhr und andernorts Arbeitnehmer um Lohn und Brot bangen, haben solche Programme im Parteivolk durchaus Resonanz. Denn in schwierigen Zeitläufen sind auch die schlichteren Gemüter unter den Genossen zu Grundsatz-Diskussionen aufgelegt.

Diese Gefahr allerdings haben Herbert Wehner und seine Bonner Führungsgehilfen beizeiten erkannt. Anfang Oktober entschloß sich deshalb der SPD-Parteivorstand, den drohenden Aufruhr in den Provinzen durch einen taktischen Schachzug zu verhindern.

Zehntausende von Mitgliedern wurden schriftlich zu 40 Bezirks- und Regionalkonferenzen eingeladen, auf denen die Bonner SPD-Führer in mehrstündigen Diskussionen »über alle interessierenden Fragen« sprechen und dabei die verdrossenen Genossen beschwichtigen wollten.

Doch das Unternehmen mißlang. Anstatt ihre Gegner mattzusetzen, gefährdete die Parteiführung ihre eigene Position: »Mit dieser Konferenzserie«, so ein Frankfurter Kreis-Leiter, »haben die Bonner uns einen großen Gefallen getan. Das hat uns sehr genützt.«

Wie in Dortmund konzentrierte sich die Kritik nämlich bei den meisten Konferenzen auf Herbert Wehner.

In der Bonner Beethoven-Halle zum Beispiel mußte Gerhard Jahn, Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ende Oktober zu Wehners Verteidigung an die Front. Jahn: »In einer demokratischen Partei wie der SPD wäre Herbert Wehner doch schon längst abgewählt worden, wenn er wirklich der Buhmann wäre, den manche aus ihm machen wollen.« Zwischenruf: »Das ist eben die Technik der Manipulation!« Darauf Jahn: »Genossen, glaubt ihr denn wirklich ein Mann wie unser verstorbener Fritz Erler habe sich manipulieren lassen?« Antwort eines Genossen aus dem Saal: »Nein, der eben nicht!«

Über die Frage, wer zu Fritz Erlers Nachfolger im Amt des zweiten stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt werden soll, kann es auf dem nächsten SPD-Parteitag im März 1968 zwischen dem Partei-Establishment und der Oppositions-Fronde zur offenen Feldschlacht kommen.

Die Führung hat sich auf Helmut Schmidt geeinigt. Parteichef Willy Brandt: »An Schmidt führt kein Weg vorbei -- dann schlage ich ihn lieber selber vor.« Die Partei-Linke dagegen will einen Mann wählen, von dem sie glaubt, daß er sich nicht manipulieren lasse.

Seinen Namen will die Opposition freilich bis zum letzten Augenblick geheimhalten, um ihn nicht dem Sperrfeuer aus der Bonner Parteizentrale auszusetzen.

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