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POLEN / KULTURKAMPF General Gasrohr

aus DER SPIEGEL 18/1964

Zweihundert Studenten verließen ihre Hörsäle und drängten in den Innenhof der Warschauer Universität. Sie johlten, fluchten und lachten. Sie protestierten gegen eine neue Unterdrückung der Geistesfreiheit in Polen.

Schon einen Monat zuvor, am 19. März, hatte der Lyriker Antoni Slonimski in der. Kanzlei des polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz ein Protestschreiben überreicht. Es war von 34 Koryphäen des polnischen Geisteslebens unterzeichnet. Anlaß: die von der Regierung verfügte Kürzung der Papierzuteilung für Buch- und Zeitschriftenverlage sowie eine Verschärfung der Pressezensur.

Unterschrieben war das Manifest von dem Einstein-Schüler Professor Leopold Infeld, dem Mathematiker Waclaw Sierpinski, dem Literaturhistoriker Karol Estreicher, dem Philosophen Tadeusz Kotarbinski, Jerzy Andrzejewski (Autor von »Asche und Diamant") und dem Shakespeare-Forscher Jan Kott.

Der Protest der 34 und die Demonstration der Warschauer Studenten signalisierten die Rückkehr eines Mannes an die Macht, der es seit seiner Ernennung vor vier Jahren zum Kaderchef der polnischen KP verstanden hat, seine Anhänger in Schlüsselpositionen der polnischen Staats- und Kulturbürokratie zu bugsieren: Kazimierz Witaszewski, Exponent der prosowjetischen Natolin-Gruppe und bis 1956 oberster Politruk der polnischen Armee im Generalsrang*.

Aus dieser Zeit haftet Witaszewski der Spitzname »General Gasrohr« an. Damals, im Oktober 1956, hatte er öffentlich erklärt, daß man die nationalkommunistischen Rebellen nur zur Vernunft bringen könne, wenn man sie mit bleiernen Gasrohren verprügele. Nach dem Sieg des Nationalkommunismus in Polen schob KP-Chef Wladyslaw Gomulka den General Witaszewski als Militärattaché nach Prag ab.

Doch schon Ende 1959 durfte »General Gasrohr« nach Warschau zurückkehren. Der russisch-chinesische Konflikt sowie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im eigenen Land ließen es Gomulka geraten erscheinen, sein seit 1956 gespanntes Verhältnis zum Kreml zu verbessern.

Seit dieser Zeit ist der Einfluß der orthodox gesonnenen Natolin-Leute in Polen von Jahr zu Jahr gestiegen. Sie verbündeten sich mit den nationalkommunistischen Siegern von 1956 - den aus der polnischen Untergrundbewegung des Zweiten Weltkrieges hervorgegangenen Partisanen - und nisteten sich vor allem im Sicherheitsapparat und in der Armee ein.

Die Folgen des Paktes zwischen Natolin-Anhängern und Partisanen bekamen als erste Polens Intelligenz und Kultur-Verfechter zu spüren. Seit dem Posener Aufstand vom Oktober 1956 hatten sie ständig größere Freiheiten genossen. Polnische Bühnen spielten moderne westliche Autoren; der polnische Film erlangte Weltgeltung; polnische Maler, Philosophen und Soziologen konnten sich ungehindert von marxistischen Dogmen entfalten. In Studentenversammlungen wurde Jazz gespielt und über Kennedy diskutiert.

Das alles begann sich nun zu ändern. Das Rad der Entwicklung wurde zurückgedreht, die kulturellen Daumenschrauben wieder angezogen:

- Im Dezember 1961 wurde der angesehene Schriftsteller und Soziologe Henryk Holland wegen angeblicher Militärspionage verhaftet und beging wenige Tage darauf unter ungeklärten Umständen Selbstmord.

- Im Februar 1962 schlossen die Behörden den populären Diskussionsklub »Krummer Kreis« in Warschau - ein Forum freier geistiger Auseinandersetzung.

- Im Juni 1963 stellten die liberalen Kulturzeitschriften »Nowa Kultura« und »Przeglad Kulturalny« überraschend ihr Erscheinen ein.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Gasrohr-Pädagogen und der polnischen Intelligenz spitzten sich auf dem Juli-Plenum der polnischen KP im Sommer 1963 zu. Sieben Stunden lang wetterte Parteichef Gomulka gegen die »ideologische Schwäche und Labilität« der polnischen Intellektuellen. Er kritisierte ihren »Pseudo-Objektivismus« und tadelte das »Aufwärmen alter sozialdemokratischer Konzeptionen«. Gomulka: »Wir sind nicht gegen eine Kritik der negativen Erscheinungen unseres Lebens ... Wir sind aber gegen eine destruktive Kritik, gegen eine bösartige, giftige Kritik.«

Die so attackierten Intellektuellen verlegten sich auf passiven Widerstand. Die neugegründete, parteifromme Kulturzeitschrift »Kultura« wurde boykottiert. Der in Wien lebende polnische Dramatiker Artur Maria Swinarski - vor die Wahl gestellt, seinen Wohnsitz zurück nach Warschau zu verlegen - wählte die Emigration.

Die Partei antwortete mit drastischen Eingriffen in Theaterspielpläne und die Verlagsproduktion. Linientreue Stückeschreiber verdrängten moderne westliche Autoren, wie Ionesco, Beckett und Dürrenmatt, von den polnischen Bühnen. Die bestehende Papierknappheit erleichterte die Zensur mißliebiger Werke: Die Klassiker des Marxismus-Leninismus erlebten Massenauflagen; für Romane von Camus, Thomas Mann, Faulkner, Hemingway, Kafka und Musil war dagegen kein Papier da.

Im Januar kam es auf einer Tagung des Warschauer Schriftstellerverbandes zu tumultartigen Szenen. Als der Abgesandte der Parteileitung, Wincenty Krasko, die Kulturpolitik der Partei verteidigen wollte, wurde er niedergeschrien und gezwungen, fluchtartig den Saal zu verlassen.

Nachdem die Partei am 13. März auf einer ZK-Tagung in Warschau ihre Kampfansage an die polnischen Intellektuellen vom Sommer 1963 erneuert hatte, beschloß die geistige Elite Polens zu handeln. Eine Woche später, am 19. März, sprach Slonimski im Büro des polnischen Ministerpräsidenten vor und übergab die Protestschrift der 34.

Die Gasrohr-Spezialisten in der polnischen KP-Spitze reagierten kurz und hart: Der Journalist Jan Jozef Lipski, einer der Verteiler der Denkschrift,

wurde für 48 Stunden eingesperrt. Der Professor Estreicher, einer der Unterzeichner, mußte sich auf dem Sicherheitsbüro der Warschauer Polizei melden. Der Überbringer der Botschaft, Antoni Slonimski, verlor seinen Posten bei der satirischen Zeitschrift »Szpilki«.

Kaderchef Witaszewski

Läßt Intellektuelle verhaften

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