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Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland Generation der Überzähligen

aus DER SPIEGEL 17/1976

Zusammen mit Millionen Erwerbstätigen stehen jeden Morgen pünktlich zu den bekannten frühen Weckzeiten einige tausend Arbeitslose auf, nehmen hastig ihren Kaffee, verlassen die Wohnung, als hätten sie es eilig, Klappstullen mit auf den Weg, vielleicht einen Kuß. Nach neun Stunden irgendwo kehren sie mit dem Strom der Werktätigen wieder heim.

Bei einer Stichproben-Befragung durch das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und -- Berufsforschung bekannten 30 Prozent der Erwerbslosen, sie hätten ihren Zustand ihren Verwandten am Ort verschwiegen. Jeder 25. der Befragten hielt sein aufgezwungenes Los nach eigenen Angaben sogar vor den engsten Familienangehörigen verborgen.

Im Kölner Stadtteil Riehl, Ecke Pliniusstraße, treffen sich allabendlich einige Dutzend arbeitslose Jugendliche an einem Stromkasten. Sie stehen herum, trinken Bier, Flaschen gehen von Hand zu Hand und zu Bruch, einige Verkehrsschilder sind verbogen. Die Straße ist ihre letzte Zuflucht, seit vier Kirchengemeinden im Stadtteil ihre Freizeitheime geschlossen haben, weil sie dem Ansturm und der Unordnung nicht mehr Herr werden konnten.

Dem »Kölner Stadt-Anzeiger« verriet Stadtjugendpfleger Joachim Henkel: »Auf der Straße stehen nur ·die unorganisierten Jugendlichen, die meist aus dem Hilfsarbeiter- und Arbeitslosenmilieu stammen, die angepaßte Jugend dagegen wird von vielen Institutionen umworben.« Einer der Eckensteher: »Im katholischen Jugendheim St. Theodor bekommt man ja doch nur zu hören: »Entweder du bist katholisch, -- oder du kannst hier nicht mitmachen.« Wo die Konfession fehlt, vermag der Glaube nichts.

»Falls Sie, öffentliche und private Arbeitgeber und verantwortliche Politiker und Volksvertreter, noch irgendein Interesse an uns haben, schreiben Sie uns bitte.« Diesen Text brachten 50 Mädchen und Jungen aus drei Abschlußklassen der Freiburger Vigeliusschule II am 17. März in der »Badischen Zeitung« als Inserat unter. Von 105 Hauptschülern, die in diesem Sommer die Vigeliusschule verlassen, haben erst 20 eine Lehrstelle gefunden, 35 wollen weiterführende Schulen besuchen, die 50 Inserenten haben noch nichts.

Die chemisch-pharmazeutische Fabrik E. Merck in Darmstadt, deren Geschäftsleitung sich »besondere Aufgeschlossenheit in all den Fragen, die mit der Ausbildung junger Menschen zusammenhängen«, bescheinigt, will einen Großteil ihrer 132 Lehrlinge, die demnächst ihre Abschlußprüfung machen, nicht übernehmen. Die Geschäftsleitung begründet diese Entscheidung, durch steigende Personalkosten, die inzwischen 44,2 Prozent des Umsatzes ausmachten (1973: 37 Prozent), sei der Betrieb in die »Gefahrenzone« geraten.

Um höchstens 15 Ausbildungsplätze im hessischen Landratsamt Groß-Gerau haben sich in diesem Jahr mehr als 200 Jugendliche bewarben, dreizehn auf einen. In Hessen waren Ende September vergangenen Jahres (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) 10 145 Jugendliche unter 20 Jahren ohne Ausbildungsstelle oder Job. Wie viele Lehrstellen in diesem Jahr fehlen werden, weiß niemand genau. »Das hängt daran«, sagt Berufsberater Hans Stein vom Arbeitsamt Frankfurt, »daß hier in Hessen zwar die Truthähne und Schweine gezählt werden, aber leider nicht die Zahl der Ausbildungsstellen.«

Im Jahr der Bundestagswahl, in dem es bekanntlich um »Freiheit oder Sozialismus« (Baden-Württembergs Christdemagokrat Hans Filbinger) geht, hat eine nach Hunderttausenden zählende Gruppe von Schul-Absolventen andere Sorgen und ganz sicher -- wenn überhaupt -- nicht diese Wahl. Arbeitslosigkeit ist erstmals seit 15 Jahren eine reale Möglichkeit künftiger Existenz für Millionen Bürger, für viele ist sie kaum vermeidbar, für viele gar die wahrscheinlichste Lebensperspektive.

In der schwersten Wirtschaftskrise der westlichen Welt seit fast einem halben Jahrhundert sind 16 Millionen Arbeitnehmer in den Industrieländern ohne Job, Europa hat fast zehn Millionen Stempelgänger. die Bundesrepublik gibt trotz weltweit eingeläutetem Hoffnungsgebimmel immer noch 1,2 Millionen Bürgern, jedem zwanzigsten Erwerbsfähigen, statt Arbeit eine Entschädigung für erzwungene Freizeit.

Aber für Helmut Kohl, dem laut Allensbach-Umfrage 34 Prozent der Bundesbürger einen Gebrauchtwagen abkaufen würden, ist Arbeitslosigkeit im Jahr 1976 »das Werk Helmut Schmidts«.

Die Probleme sind freilich komplexer, als das aus Mainzer Sicht erscheinen mag. Nach Berechnungen des Konstanzer Nationalökonomen Professor Harald Gerfin droht in wenigen Jahren 500 000 Jugendlichen das Los. ihre Karriere als Unterqualifizierte beginnen zu müssen, das heißt ein Leben höchsten Risikos, ohne die Chance zu haben, die begrifflich zum Wagnis gehört.

Mit Appellen an Industrie und Handwerk suchten Industrie- und Handelskammern in den vergangenen Wochen das Angebot der Lehrstellen zu vergrößern. »Die Lebensfähigkeit des demokratischen Staates und unserer freiheitlich-sozialen Wirtschaftsordnung«, so schrieb Dr. Wilhelm Imhoff, Vorsitzender der Hamburger Arbeitgeber-Verbände,

»hängt auch von den Möglichkeiten zu guter beruflicher Ausbildung ab.« Die Wirtschaft solle »alle Anstrengungen unternehmen«, die Ausbildungskapazitäten »bis zum äußersten auszuschöpfen«.

Die »gefährliche Ausbildungslücke« (so der zuständige Bonner Bildungsminister Helmut Rohde) ist Ergebnis eines fatalen Wechselspiels. Die Anzahl der Ausbildungsplätze in der Wirtschaft begann ausgerechnet in einer Zeit zu sinken, da sie kräftig hätte steigen müssen (siehe Graphik Seite 147). Noch bis 1971 hatten Industrie. Handel und Handwerk sowie der staatliche Bereich jährlich rund 600 000 Lehrstellen angeboten, im Durchschnitt aber blieb jede vierte Lehrstelle unbesetzt, weil ein hoher Anteil der Schulabgänger es vorzog, sofort als Jungarbeiter Geld zu verdienen -- Berufsziel: Hilfsarbeiter.

Der Umbruch setzte schlagartig ein: Die angebotenen Ausbildungsplätze sanken nach einer Untersuchung des Bonner Bildungsministeriums 1974 auf 400 000, zugleich wuchs die Bereitschaft der Jugendlichen, einen qualifizierten Beruf zu erlernen, unter anderem deshalb, weil Hilfsarbeiter-Tätigkeiten nicht mehr so leicht zu haben waren.

Die Lage verschärft sich in den kommenden Jahren dramatisch, wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1953 bis 1970 die Schulen und Universitäten verlassen. Die Angehörigen dieser sogenannten demographischen Welle, der erst die Pille Einhalt gebot, werden laut Nürnberger Analyse »insgesamt weniger Bildungschancen haben als die Generationen davor, aber auch weniger Chancen als die Generationen danach«. Zu den »chancengeminderten Schulabgangsjahrgängen« zählen bei Hauptschüler die Geburtsjahrgänge 1962 bis 1972, bei Realschülern die von 1960 bis 1970, bei den Gymnasiasten trifft es vor allem die Jahrgänge 1957 bis 1967.

Bis 1985 wird die Zahl derer, die eine Berufstätigkeit beginnen werden, um rund 1 Million größer sein als die der ausscheidenden Rentner. Auf dem Höhepunkt der demographischen Welle werden es statt 750 000 Schul- und Universitätsabsolventen im Jahr 1975 beispielsweise rund 14 Millionen 1984 sein. Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit sind mittelfristig 350 000 Ausbildungsplätze in Betrieben und Hochschulen zusätzlich vonnöten.

Andernfalls, so der Ökonom Gerfin, »wird Jugendarbeitslosigkeit großen Ausmaßes mittelfristig zum vermutlich unlösbaren Problem": Ein Viertel eines jeden Schulabgänger-Jahrgangs müßte sich ohne eigenes Verschulden mit Unterqualifizierung abfinden.

Der nordrhein-westfälische CDU-Fraktionschef Heinrich Köppler sieht bereits eine »Armee von Systemgegnern« in Anmarsch -- diesmal nicht die Akademiker aus den behüteten Elternhäusern, sondern die Drop-outs aus den Vorstadt-Kasernen der sozialen Unterschicht.

Auf der Straße sind sie schon. »Erst 15 und schon arbeitslos -- die Sauerei ist riesengroß«, skandierten Mitte März 1500 Jugendliche in Offenbach, wo sich im städtischen Jugendcafé die Nachwuchs-Arbeitslosen treffen, um die Zeit solidarisch totzuschlagen.

Vorerst noch sind aggressive Töne selten. Während beispielsweise vor wenigen Jahren Lehrlinge gegen die unangenehmen Begleitumstände der Ausbildung demonstrierten ("Fegen schwächt das Gehirn"), überwiegen jetzt die leiseren Töne: »Ich will eine Lehrstelle.«

Der Verlust der Arbeit trifft härter als Geldverlust.

Aber das kann bald anders werden. Immerhin wurden im vergangenen Herbst bei der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit fast 116 000 jugendliche Erwerbslose unter 20 Jahren notiert -- 11,5 Prozent aller Stempelgänger. Im Pfälzer-Land des Kanzler-Kandidaten Helmut Kohl war die Quote mit 16,1 Prozent (zusammen mit dem Saarland) am höchsten. Die Zahl dürfte zur Zeit nur wenig niedriger sein.

Der »gnadenlose Selektionsdruck"' von dem Bildungsminister Helmut Rohde spricht, der seit Jahr und Tag vergebens sich müht, sein novelliertes Berufsbildungsgesetz über die parlamentarische Rampe zu ziehen, trifft neben einem harten Kern älterer Stempelgänger vor allem die Jungen und Mädchen ohne Schulabschluß.

Schon sechs Jahre vor dem Höhepunkt des Schülerberges sind Hauptschüler ohne oder mit schlechtem Abschlußzeugnis sowie die Sonderschüler die ersten Opfer der Krise. Im Kampf um knappe Ausbildungsplätze erreichen sie nur noch selten das gewünschte Ziel, weil die erheblich gewachsene Bewerberzahl mit besserem Schulabschluß -- 1975 machten allein 23 Prozent des Schülerjahrgangs das Abitur -ihnen die Lehrstellen wegschnappt.

Den meisten bleibt nur die Möglichkeit, als ungelernte, sogenannte Jungarbeiter ein Unterkommen zu finden, angesichts der immer noch schwachen Konjunktur aber erweist sich auch das vielfach als Illusion.

Jeder Sechste der jugendlichen Zwangsfeierer begann das, was in geordneten Lebensplänen unter Karriere ressortiert, nach dem »Schulentlaß« (Kultus-Jargon) im Wartestand untätig zu Hause. Für viele dauert der Dauerurlaub schon drei Jahre und mehr: 22 000 Jugendliche im Alter unter 20 Jahren hatten Ende September vergangenen Jahres noch nie eine berufliche Tätigkeit ausgeübt.

Zwei Drittel der erwerbslosen Jugendlichen (und 56 Prozent der Erwachsenen) haben keine Berufsausbildung, ein Drittel der Jungen hat das Klassenziel des Hauptschul-Abschlusses nicht erreicht. Die Gruppe der Ungelernten und der Schulversager ist unter den Erwerbslosen über doppelt so stark vertreten, wie ihr Anteil in der Revölkerung insgesamt ausmacht. Absolventen von Sonderschulen, im Jargon »Brettergymnasium« -- immerhin fünf Prozent aller Jugendlichen -, haben an der Arbeitslosigkeit einen Anteil von 15 Prozent.

Lutz Reyher, beim Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zuständig für Konjunktur, präzisierte den Tatbestand, daß aus »gesamtwirtschaftlichen Nachfrage-Defiziten herrührende Arbeitsplatzrisiken einer Minderheit -- obendrein den Schwächsten im Erwerbssystem -- aufgebürdet werden, die diese Risiken nicht mehr zu vertreten hat als andere auch«.

Daß die Statistik jenen schmeichelt, die sie anfertigen, ist den Arbeitsbehörden bekannt. Da derjenige, der nie berufstätig war, auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, fehlt vielen der Antrieb, sich zu melden. So verschwand eine unbekannte Zahl von vielen Tausenden in der »stillen Reserve« des Arbeitsmarkts, vor allem Mädchen. Sie helfen zu Hause die Geschwister hüten und besorgen den Haushalt, während die Mutter arbeiten geht.

Die Jungen vertun den Tag auf den Straßen, in Tagesstätten, offenen Türen und Diskotheken, ihr Taschengeld bessern sie mit Gelegenheitsarbeiten, häufig mit dem Erlös von Auto- und Automaten-Brüchen auf. »Hier hat jeder fünfte schon mit der Polizei zu tun gehabt«, berichtet ein Hemer Sozialarbeiter über eine 60 Jugendliche starke Gruppe, die derzeit einen von Nürnberg finanzierten Grundausbildungslehrgang für verschiedene Berufe durchläuft.

Dabei gibt es durchaus Lehrstellen -- auf dem Bau sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe sind jeweils 20000 Plätze unbesetzt -, aber diese Tätigkeiten entsprechen nicht der illusionären Erwartung vieler Schulabgänger, die zwar Automechaniker, aber nicht Bauarbeiter oder Kellner werden wollen.

Auf die Reservearmee der Jugendlichen spekulieren Firmen, die Gelegenheitsarbeiten in reißerischen Inseraten ausloben, wobei die Duz-Form üblich ist: »Hallo jg. Leute! Wir haben den Job für euch!« Oder: »Täglich bares Geld. Ruft mal an« ("Hamburger Abendblatt").

Anfang April meldete die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit sei überschritten, denn statt 1,35 Millionen Erwerbsloser im Februar waren es nur noch 1,2 Millionen. Die Quote sank von 5,9 auf 5,2 Prozent.

Kein Zweifel, daß der beginnende Konjunkturaufschwung, der in den Auftragsbüchern der Exporteure und Fabrikanten sich regt, das Heer der Freigesetzten in den nächsten Wochen und Monaten lichten wird. Wirtschafts-Politiker und Konjunkturforschungsinstitute prophezeien den Regierungen 1976 etwa 5,5 Prozent reales Wachstum des Bruttosozialprodukts (nach minus 3,6 Prozent 1975).

Aber niemand wagt bislang die Aussage des Sachverständigenrats vom vergangenen November zu erschüttern: »Wenn das kommende Jahr die Entwicklung bringt, die wir für die wahrscheinlichste halten, wird die Anzahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt noch immer eine Million betragen.«

Selbst wenn es hunderttausend weniger würden, wären es immer noch viel zuviel. Josef Stingl, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, hält selbst einen Sockel von 600 000 Arbeitslosen »auf die Dauer für untragbar. Wenn sich die Politik auf lange Sicht damit zufrieden gibt, ist das ein falsches Ziel«.

Denn Erwerbslosigkeit kostet weit mehr als jene etwa 18 500 Mark, die das Nürnberger Bundesarbeitsamt je Geldempfänger und Jahr errechnete (siehe Graphik Seite 154). Die berechtigten Hoffnungen und Erwartungen einer Vielzahl werden zerstört, Existenzen verkrüppeln selbst bei bester sozialer Sicherung, und die verdrückte Anpassung derer, die es noch nicht erwischt hat, begünstigt ein Klima verbreiteter Ängste, in dem zum aufrechten Gang die Luft fehlt.

»Jeder Arbeitslose«. so schrieben amerikanische Sozialforscher in ihrem Report »Work in America«, den sie 1972 im Auftrag des US-Erziehungs- und Wohlfahrtsministeriums anfertigten. »wird den Gedanken nicht los, sein Schicksal könnte selbstverschuldet sein. Er ist verletzlich gegenüber der Ansicht anderer, irgend etwas könnte mit ihm nicht stimmen, er sei nicht willens oder einfach nicht gut genug, seinen Lehensunterhalt zu verdienen.«

Der soziale Druck, unter dem jene stehen, die von Arbeitslosengeld (68 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der letzten sechs Monate) leben müssen, wiegt deutlich schwerer als der Verlust von Einkommen (in der Bundesrepublik durchschnittlich 400 Mark je

Kopf und Monat): 48 Prozent der von Nürnberg Befragten empfanden die finanziellen Einbußen als erheblich, aber 64 Prozent sagten das hinsichtlich der sozialen und persönlichen Belastungen. Das »unbestritten beste System sozialer Sicherungen in der Welt« (Kanzler Helmut Schmidt) lindert den Selbstzweifel seiner Nutznießer nicht.

Diese Regel gilt selbst angesichts der Tatsache, daß vielleicht nicht einmal so wenige Arbeitslose den Verlust von nur einem Drittel ihrer Einkünfte gern auf. sich nehmen, und wie es Friedrich Sieburg einmal von den Franzosen sagte, »nachmittags den Stuhl vor die Tür rücken, um den Abendstern zu erwarten«. 8700 Bundesbürgern entzog Josef Stingl allein im Januar und Februar die Unterstützung, weil sie sich weigerten, die ihnen zugewiesenen offenen Stellen zu besetzen.

Besser kommen jene durch, die bei der Vorstellung einen derart ungünstigen Eindruck hinterlassen, daß sie der Arbeitgeber gar nicht erst nimmt. Nordrhein-westfälische Arbeitsämter machten die Beobachtung, daß sich viele erwerbslose Frauen besonders dort für Teilzeitarbeit interessierten, wo sie besonders knapp war. Mangels Vermittlungschance zahlten die Ämter dann weiter.

»In Deutschland herrscht Produzentenmentalität.«

Generell trifft das Defizit an Arbeit die Deutschen härter als andere Nationen, denn während ein Millionen-Heer von Erwerbslosen in den USA, England und Italien seit Jahren gewissermaßen zum sozialen Besitzstand zählt, sind den Bundesbürgern diese Erfahrungen neu. In den vergangenen 14 Jahren notierten die Arbeitsämter acht Jahre lang weniger als ein Prozent Erwerbslose -- zwischen 147 000 und 186 000.

Die Tatsache, daß die Bundesrepublik zwanzig Jahre lang immer die wenigsten Arbeitslosen, die wenigsten Streiks und die größte Preisstabilität aller Industrieländer hatte, ist ein anderer Ausdruck dafür, daß die Deutschen Unordnung schlechter vertragen als andere -- stabilere -- Völker. Ihre Belastungsfähigkeit ist geringer, was hierzulande bereits als unerträglich gilt, erscheint überall sonst (außer in der Schweiz) noch als passabel.

Zudem hat die Arbeit in Deutschland offenbar einen höheren Stellenwert als anderswo, wenn selbst in einer wissenschaftlichen Arbeit der Nürnberger Bundesanstalt vom »Makel der Arbeitslosigkeit« die Rede ist. Die Freude am eigenen Schweiß, die Kurt Tucholsky bei Deutschen entdeckte, und die Vorstellung, daß der Mensch nur durch Arbeit zum Menschen werde, das Sein erst durch Leistung seinen Wert empfange, ist den meisten Völkern fremd, Deutsche und Schweizer ausgenommen.

So ist es kein Wunder, wenn Erwerbslosigkeit hier allein als marginale Größe akzeptiert wird. In Deutschland herrsche, so ein Bonner Ministerialer, »statt Konsumenten-Mentalität die Produzenten-Mentalität vor«.

Schließlich ist die soziale Sicherheit, die ein eng geknüpftes Netz für jene bereit hält, die nicht mithalten können, auch nicht wollen oder nicht wollen können, recht trügerisch. Denn gerade die Funktionsfähigkeit des fraglos beträchtlichen Sicherheitssystems, das die Bürger gegen die finanziellen Nachteile bei Alter. Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit schützt, basiert auf der Vermutung, daß es schonend in Anspruch genommen wird. Es ist ein Schönwetter-Netz, nur so lange haltbar, wie die Last nicht zu groß wird.

Die finanzielle Entwicklung etwa in der Krankenversicherung, wo nicht mehr die Bedürfnisse der Kranken den Preis bestimmen, sondern die Bedürfnisse jener, die Gesundheitsleistungen anbieten, steht als Drohung vor den Sozialpolitikern. Eine Beitragsexplosion in der Arbeitslosenversicherung ähnlich der in der Krankenversicherung würde die Demontage des Sozialstaates erzwingen.

»Die Job-Hopper

sind nicht mehr gefragt.«

Ohnehin kommt die Beschäftigungskrise die Gesellschaft teuer zu stehen. Josef Stingl mußte 1975 mehr als 13 Milliarden Mark auszahlen.

Denn in den vergangenen 15 Monaten waren nie weniger als eine Million ohne Arbeit im vergangenen Winter im Schnitt dreimal mehr als 1967, der ersten Beschäftigungskrise seit Beginn des Wirtschaftswunders.

Damals traf es vornehmlich die Älteren -- 1968 waren nach Nürnberger Rechnungen nahezu die Hälfte der Stempelgänger älter als 55, sechs Jahre später aber stellte diese Gruppe nur noch gut den zehnten Teil. Diesmal dagegen sind die Jugendlichen unter den Freigesetzten prozentual über doppelt so stark vertreten wie 1967 -- jeder achte ist jünger als 20 Jahre, jeder vierte noch nicht 25.

Grund: Wegen der Erfahrung der 67er Krise wurde der gesetzliche Kündigungsschutz für Ältere erheblich verstärkt, bei notwendigen Kündigungen müssen die Unternehmen eine Sozialauswahl treffen und gegebenenfalls hohe Abfindungen zahlen. Wie so oft schafft verbesserte soziale Sicherung für die einen neue Gefährdungen für andere.

Zudem entdeckte Dietrich Oldenburg, Leiter des Arbeitsamtes Hamburg, daß »berufliche Erfahrung, Zuverlässigkeit und Streben nach Sicherheit wieder zu Ehren gekommen sind. Die Job-Hopper sind nicht mehr gefragt«.

Die Misere des Arbeitsmarktes enthält ein ganzes Bündel von Ursachen, die auf kurze Sicht nicht zu beseitigen sind.

Die weltweite Krise der Industriestaaten, die nach der Ölpreis-Explosion Ende 1973 einsetzte, hat der Bundesrepublik in den vergangenen zwei Jahren unter der Annahme, daß jährlich mindestens vier Prozent reales Wachstum des Bruttosozialprodukts notwendig sind, einen Verlust in Höhe von etwa 66 Milliarden Mark beschert. Denn statt acht Prozent Wachstum fielen drei Prozent Negativ-Wachstum an.

Solange die Mark international ständig unterbewertet war (bis zur Freigabe des Mark-Wechselkurses 1973), konnte die Exportindustrie die gewaltigen Lohnzuwächse, die von 1970 bis 1973 insgesamt rund 30 Prozent ausmachten, ohne Beschäftigungseinbußen auffangen, wenngleich mit drastisch sinkenden Gewinnen. Als dann 1974 die Exporte wegbrachen und die Löhne und Gehälter noch einmal -- nicht zuletzt dank Heinz Klunckers ÖTV-Gewerkschaft der Staatsdiener, die den Lohnführer machte -- um 12 bis 15 Prozent stiegen, begann die Arbeitslosigkeit.

Die Krise wurde verstärkt durch die Stabilisierungspolitik der Notenbank, die, um zweistellige Inflationsraten zu vermeiden, den Unternehmen den Spielraum für Preisüberwälzungen beschnitt, indem sie die Geldmenge drastisch kürzte. Fortan senkten die Unternehmen ihre Erweiterungsinvestitionen, die schon seit 1970 ständig geschrumpft waren, weiter und beschränkten sich im wesentlichen auf Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen mit dem Ziel, teure Arbeitskräfte durch Kapital zu ersetzen. Die »überzogenen Ansprüche und inflatorisches Handeln« (Sachverständigenrat) forderten ihren Preis.

In der Bundesrepublik entstand das, was in der Nationalökonomie unter dem Begriff Mindestlohn-Arbeitslosigkeit figuriert. Noch der niedrigste Lohn ist angesichts begrenzter Möglichkeiten der Unternehmer, erhöhte Kosten auf die Preise abzuwälzen, so hoch, daß keine Möglichkeit besteht, alle Arbeitswilligen zu beschäftigen. Die Löhne werden deshalb auf weniger Arbeitnehmer verteilt. Nur Heinz Kluncker war fein raus, denn im öffentlichen Dienst herrscht faktisch Unkündbarkeit.

Dafür mußten die Gebietskörperschaften, um die Gehälter bezahlen zu können, ihre realen Investitionen senken, mit dem Ergebnis, daß wieder anderswo -- außerhalb des öffentlichen Dienstes -- neue Arbeitslosigkeit anfiel. Zudem konnten die öffentlichen Hände bei sinkenden Steuereinnahmen und den rapide wachsenden Personalkosten nicht mehr die geplanten Stellenvermehrungen vornehmen. So verstärkte der Staat die Erwerbslosigkeit, statt ihr, wie es ihm im Konjunkturtief eigentlich zugekommen wäre, antizyklisch zu begegnen.

Weite Bereiche der Verarbeitungsindustrie, die ehedem ihr Geld zu einem großen Teil im Export verdienten, verloren ihren früheren Wettbewerbsvorsprung, bestenfalls konnten sie noch unter drastischem Gewinnverzicht mithalten.

Nach der Textil- und Bekleidungsindustrie, die bereits früher den Druck der Niedriglohn-Länder spürte, gerieten in den vergangenen Jahren die Schuh- und Lederindustrie, die Feinmechanik und Optik, die Uhren- und Teile der Elektroindustrie (Haushaltsgeräte), Metallwaren- und Besteckindustrie, ja, sogar die Automobilbranche in die eisige Zone am Rande der Existenz.

In vier klassischen Erfolgsbranchen -- Metallverarbeitung, Maschinenbau, Automobil- und Elektroindustrie -- verloren nach Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel 1974 und »75 rund 400 000 Beschäftigte ihren Job, im vergangenen Jahr entfiel die Hälfte des Beschäftigten-Rückgangs auf diese vier Bereiche.

Die gesamte verarbeitende Industrie büßte in den beiden vergangenen Jahren 920 000 Arbeitsplätze ein -- mehr als doppelt soviel wie in der 66/67er Krise. Offen und unter den Experten umstritten ist, wie viele dieser Plätze auch im konjunkturellen Aufschwung nicht mehr besetzt werden können, weil niemand weiß, ein wie hoher Anteil des Beschäftigungsverlustes bloß auf dem konjunkturbedingten Schwund der Nachfrage beruht und wie hoch der Anteil ist, der durch veränderte internationale Kosten- und Standortbedingungen unwiederbringlich verloren ist.

Überwiegt der konjunkturelle Anteil an der Krise, können viele der 920 000 Industrie-Arbeitsplätze beim neuen Aufschwung wieder besetzt werden, überwiegt dagegen der strukturelle, ist in diesem Wirtschaftsbereich selbst bei Rückkehr der Konjunktur weit weniger neue Beschäftigung zu erhoffen.

Zu den Skeptikern gehören die Wachstumsforscher des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Professor Gerhard Fels bezweifelt, »ob das Produktionssortiment, das am Standort Bundesrepublik erzeugt wird, roch zeitgemäß ist«. Fels und seine Kollegen stützen ihre Überlegung unter anderem auf den Umstand, daß unabhängig von dem Konjunktureinbruch der Beitrag der Industrie zum Bruttosozialprodukt seit 1970 rückläufig ist: »Die Industrie ist nicht mehr Motor des Wirtschaftswachstums wie in den beiden ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit.«

1970 entstanden 54,2 Prozent der insgesamt zugewachsenen Summe von Güter- und Dienstleistungen (Sozialprodukt) in der Industrie. Dieser Anteil war -- verglichen mit anderen vergleichbar hochentwickelten Industrieländern -- weit überhöht. Grund: Dank der damals noch unterbewerteten Mark, die wie eine staatliche Exportprämie wirkte, konnte Westdeutschlands Wirtschaft mit standardisierten Erzeugnissen auf dem Weltmarkt reüssieren, deren Herstellung in einer hochentwickelten Wirtschaft eigentlich zu teuer ist. Ergebnis: In der Industrie konnten Arbeitsplätze gehalten werden, die in anderen Ländern längst nicht mehr wettbewerbsfähig waren.

Die Industrie muß heute ihren zähen Widerstand gegen die Freigabe des Mark-Wechselkurses teuer bezahlen. Denn die verspätete Anpassung der deutschen Produktionsstruktur an die veränderten inneren Kostenbedingungen vollzog sich in den letzten Jahren abrupt. Nach Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft trug der sogenannte sekundäre Sektor (Industrie und Handwerk) 1975 nur noch mit 47,8 Prozent zum Sozialprodukt bei, über sechs Prozentpunkte weniger als 1970 (siehe Graphik Seite 154).

Heute spüren westdeutsche Unternehmen in vielen Bereichen industrieller Fertigung nicht mehr wie früher vor allem die Konkurrenz aus Japan, vielmehr erobern die 15 am meisten entwickelten Entwicklungsländer, beispielsweise Brasilien. Jugoslawien. Spanien und Südkorea ständig wachsende Marktanteile auch in der Bundesrepublik selbst. Gerhard Fels und seine Kollegen errechneten kürzlich, daß »in den nächsten zehn Jahren, vor allem im Bereich der verarbeitenden Industrie über 600 000 Arbeitsplätze wettbewerbsunfähig werden, wenn sich die Vergangenheitstrends der Industriewaren-Einfuhren aus Entwicklungsländern fortsetzen«.

Das für hochentwickelte Industriegesellschaften typische Schrumpfen des Sekundärbereichs ist an sich nicht schlecht, denn gleichzeitig wächst der Arbeitskräftebedarf im sogenannten Tertiärbereich, das sind private und staatliche Dienstleistungen, etwa Ingenieurbüros, die -- wie es der Kanzler einmal formulierte -- »anstelle von Kraftwerken Blaupausen exportieren«.

Es besteht freilich die Gefahr, daß der Übergang der im Sekundärbereich Tätigen in den Tertiärbereich sich nicht so reibungslos vollzieht. Tatsächlich machen Josef Stingl gerade die Angestellten aus den Dienstleistungsbereichen »besonders große Sorgen«. Denn die Arbeitslosenziffer der weißen Kragen stieg im vergangenen Jahr stärker als die der Arbeiter -- ein Novum in der Geschichte, das daraus resultiert, daß die Unternehmen anders als früher auch die Büros per Rotstift lichteten.

Der Streit um den Anteil, den strukturelle oder konjunkturelle Einflüsse auf die Beschäftigung haben, paßt den Nürnberger Arbeitsforschern nicht so recht, und das nicht etwa, weil sie die vollzogenen Strukturveränderungen leugnen. Vielmehr fürchten sie, die Politiker könnten daraus den Schluß ziehen, herkömmliche Vollbeschäftigungspolitik, etwa durch verstärkten Anreiz der Nachfrage, habe keine Zukunft mehr.

Dr. Dieter Mertens, Leiter des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, glaubt bei vielen Politikern und Wissenschaftlern ein »erhöhtes Ausmaß an prognostischem Fatalismus« festgestellt zu haben. »Da werden Beschäftigung und Wirtschaftsentwicklung beinahe als unabänderliche Ereignisse wie das Wetter angesehen; das durchaus Machbare wird zunehmend als unbeeinflußbare Größe hingestellt, als hätte die Politik darauf keinen wesentlichen Einfluß, wie groß Wachstum und Beschäftigung sind. Man macht Prognosen, statt Ziele zu setzen.« Mertens ist überzeugt: »Der ganz überwiegende Teil der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit ist konjunkturbedingt«, und er glaubt, daß es schon jetzt mehr Beschäftigung gäbe, wenn stärkeres Wirtschaftswachstum verwirklicht würde, etwa durch verstärkte Nachfrage des Staates.

Einig sind sich die Streitenden freilich darin, daß mehr Beschäftigung auf Dauer nur möglich ist,

* wenn die Bürger mehr berufliches Wissen erwerben,

* wenn der Staat bessere und mehr am Beruf orientierte Ausbildungsgänge schafft,

* wenn die Wirtschaftsunternehmen bereit sind, ihren Nachwuchs mehr zu fördern als bisher.

Alle drei Voraussetzungen sind derzeit kaum erfüllt. Immer noch ist jeder vierte Beschäftigte in der Bundesrepublik ohne qualifizierten Berufsabschluß. Zwar ist das Bildungsbewußtsein in den vergangenen Jahren gestiegen -- immerhin blieben 1974 nur etwa zehn Prozent der Schulabgänger ohne Berufsausbildung anstelle von 20 Prozent noch vor einem Jahrzehnt.

Dieses günstige Ergebnis aber wird in den nächsten Jahren wieder drastisch schlechter, wenn jährlich etwa 80 000 Jugendliche zusätzlich auf das begrenzte Lehrstellen-Angebot stoßen.

Sperre für die Ungelernten.

Die Dummen sind in jedem Fall jene, die schon auf der Schule am wenigsten gelernt haben. Die aufsichtsführenden Kammern akzeptieren die von Lehrherrn und Lehrling vorgelegten Verträge nicht, wenn das Mädchen oder der Junge die erforderliche Eignung nicht erkennen läßt. Jene etwa 100 000 Schüler, die jährlich die Schulen ohne das Abschlußzeugnis der neunten Klasse verlassen, sind bis auf weiteres mit einer Art Ausbildungsverbot belegt, weil niemand sie haben will.

Es wirft allerdings ein trübes Licht auf die Leistungsfähigkeit der Hauptschulen, daß bei Modellversuchen, die von dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium finanziert werden, 80 Prozent dieser Schulversager nach einjährigen Sonderkursen auf Anhieb den Hauptschulabschluß schafften.

Offenbar sind auch die Berufsschulen vielfach nicht in der Lage, den Auszubildenden die erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln. Nach einer Untersuchung des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) fielen 1974 in Teilzeitberufsschulen 27 Prozent der Schulstunden wegen Lehrermangels aus, ein Viertel der überdies zu geringen Lehrer-Planstellen ist nicht besetzt. Die Heranziehung von Lehrbeauftragten, die nebenberuflich Unterricht erteilen. leidet darunter, daß die Länder aus fiskalischen Überlegungen die Honorare kurzhalten.

In den meisten Bundesländern entsprechen die Rahmenlehrpläne für Berufsschulen nicht den vom Bund vorgeschriebenen betrieblichen Ausbildungsbedingungen, mit der Folge, daß der Unterricht und die Praxis aneinander vorbeilaufen. Am schlimmsten ergeht es auch hier den Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag, den sogenannten Jungarbeitern. Sie erhalten durchweg keinen fachspezifischen Unterricht. Die Klassen sind besetzt mit Schillern der unterschiedlichsten Tätigkeitsbereiche, was zur Folge hat, daß keiner hinhört. Obendrein sind die Lehrer nach Angaben des DIHT »der beruflichen Praxis oft entfremdet.

Ohne neue Bildungsexpansion stehen 200 000 vor dem Nichts.

Das chaotische Treiben an den Berufsschulen verschlimmert die Nöte der Berufsbildung insgesamt. In vielen Bereichen des Handwerks dauert die Freude, einen Lehrlingsplatz gefunden zu haben, nur bis zum erfolgreichen Prüfungsabschluß bei der Innung. Nur rund zwei Drittel der »Ausgelernten' findet auch einen Platz als Geselle. Da die Ausbildung vielfach mangelhaft ist, kommen wiederum nur die Besten unter. Die anderen gehen als Ungelernte in andere Berufe oder beantragen beim Arbeitsamt die Zulassung auf einen Umschulungskurs, der nach dem Arbeitsförderungsgesetz von der Nürnberger Bundesanstalt finanziert wird.

Der Numerus clausus an deutschen Universitäten trägt auf fatale Weise zu der Verunsicherung bei. Viele Abiturienten tauchen jetzt in Lernberufen auf, für die sie eigentlich überqualifiziert sind, und verdrängen die Realschüler aus deren angestammten Berufsfeldern in Wirtschaft und Verwaltung. »Wer hier heute Banklehrling werden will«, so Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Friedhelm Farthmann, »braucht meist schon Abitur.«

Vielfach denken die Abiturienten gar nicht daran, den gewählten Lernberuf, den sie einem Realschüler wegnehmen, auch wirklich auszuüben. Viele gehen als sogenannte Parker etwa in medizinische Hilfsberufe: als Krankenschwestern, Laboranten, Masseure und Zahntechniker, um nach Abschluß der Prüfung doch noch die Berechtigung zum Studium zu erlangen.

Angesichts der Schwierigkeiten für Zehntausende, überhaupt einen Ausbildungsplatz oder auch nur Arbeit zu bekommen, ist der Numerus clausus schwerlich zu rechtfertigen. Denn er schafft Sicherheit für jene, die einen Studienplatz ergattert haben, und vergrößert die Beschäftigungsprobleme der Nichtabiturienten. Wer nämlich ein Studium absolviert hat, läuft noch die geringste Gefahr, keinen Job zu erhalten. Mit nur 1,3 Prozent von der Gesamtzahl der Stempler haben die Akademiker die niedrigste Quote. Auf einen angebotenen Arbeitsplatz kamen 1975 gerade 1,6 Bewerber, bei den Ungelernten betrug das Verhältnis 1:58.

Es ist zwar durchaus denkbar, daß die Arbeitslosigkeit der Akademiker in den kommenden Jahren zunehmen wird, weil, wie es in einem Papier des Bundesarbeitsministeriums heißt, »sich künftig ein Teil der im Bildungssystem geschaffenen Qualifikationen nicht als bedarfsgerecht erweisen wird«. Das Ministerium hält es für »ausgeschlossen, daß der Staatssektor wie bisher auch zukünftig bis zu zwei Drittel des Neuzugangs an Akademikern aufnehmen wird«.

Ungeachtet des drohenden Überschusses an Akademikern aber werden Hochschul-Absolventen auch unter verschärften Bedingungen immer noch leichter einen Arbeitsplatz finden als die weniger Qualifizierten. Und selbst bei sinkender Zahl von Universitätsstudenten -- etwa durch vermehrten Wechsel von Abiturienten in die hetriebliche Ausbildung -- würden die Chancen der Hauptschüler nicht besser, sondern in der Tendenz sogar noch schlechter werden.

Bislang haben Bund und Länder mehrere Sonderprogramme in Milliardenhöhe aufgelegt, in denen Zuschüsse für neue Lehrstellen angeboten, der Bau neuer überbetrieblicher Ausbildungsplätze geplant und weitere Mittel für berufsfördernde Maßnahmen zugunsten erwerbsloser Jugendlicher bereitgestellt wurden.

Doch die Wiedergewinnung einer vollbeschäftigten Wirtschaft ist an Voraussetzungen geknüpft, die nicht so leicht zu realisieren sind. Etwa fünf Prozent jährliches reales Wachstum sind nach Schätzungen des Bonner Wirtschaftsministeriums bis 1980 erforderlich, soll die Quote der Stempelgänger wieder auf zwei Prozent zurückgehen. Dies aber erscheint nur möglich, wenn die Gewerkschaften auch in den kommenden Jahren sich mit niedrigen Lohnerhöhungen zufrieden geben und damit den Unternehmen deutlich höhere Gewinne verschaffen. Andernfalls dürften die Manager kaum bereit sein, ihre Investitionen auf das erforderliche Wachstums-Soll von mindestens acht Prozent jährlich anzuheben.

Solche Rechnungen sagen freilich nichts darüber aus, auf welchen Arbeitsplätzen jene dann schon beträchtlich größere Anzahl der Jugendlichen landet, die 1978 keine Ausbildungsstelle gefunden hat. Bestenfalls werden sie Hilfsarbeiter, das heißt, sie sitzen demnächst wieder auf der Straße. Der Nürnberger Arbeitsmarktforscher Dieter Mertens warnt zudem vor dem Widersinn der gegenwärtigen Bildungspolitik: »Gerade zu Beginn der demographischen Welle, die besondere Expansions-Anstrengungen erfordern würde, wenn die intergenerative Chancengleichheit gewahrt werden soll, ist die

Bildungsexpansion ins Stocken geraten, und zwar nicht nur im Hochschulbereich, sondern auf allen Ebenen.

In der Tat: Nach dem Bildungsgesamtplan sollen an den Universitäten auch in

den achtziger Jahren

kaum mehr Studienanfänger zugelassen werden als jetzt (1975 etwa 185 000).

Auch bei den Vollzeit-Berufsschülern konstatieren die Nürnberger für die nächsten Jahre ein »Einfrieren der Fortbildungs-Chancen«, und die betrieblichen Ausbildungsstätten haben ihre Schrumpfung bereits vollzogen.

Trotz vieler Sonderprogramme, die in den vergangenen Monaten verkündet wurden, und trotz vieler Erklärungen von Unternehmen, daß sie ihre Ausbildungskapazität erweitern wollen, ist nicht zu sehen, wie die verlorene Generation der Überzähligen unterkommen soll. Der Konstanzer Nationalökonom Harald Gerfin schrieb: »Die zweifellos vorhandenen privaten und staatlichen Initiativen addieren sich zu einer Größenordnung, der hinten eine Null fehlt.«

Forscher Mertens und seine Kollegen ziehen die Bilanz einer Analyse, die an Trostlosigkeit schwer zu überbieten ist: Nach ihrer Rechnung werden 1982 -- wenn es bei der jetzigen Bildungsplanung bleibt -- 40 000 durch den Numerus clausus abgedrängte Abiturienten in berufliche Vollzeitschulen und Betriebe einziehen. Dort werden sie Realschüler auf schlechtere Plätze wegdrücken. Mertens zieht den Schluß: »Von den Abgängern aus Haupt- und Sonderschulen findet nicht einmal die Hälfte derer, die eine berufliche Qualifikation erhalten wollen und sollen, einen Ausbildungsplatz.«

Das heißt: Mehr als zweihunderttausend Jugendliche werden beim gegenwärtigen Stand der Bildungsplanung dann vor dem Nichts stehen.

Im nächsten Heft

Jugendliche unter psychischem Druck -- Resignation und Aggression

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