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Genf: »Anfang eines Dialogs für den Frieden?«

Scharfe, aber auch versöhnliche Töne aus Moskau und Washington; gespannte Erwartungen, ob das erste Gipfeltreffen der Führer beider Supermächte seit sechs Jahren ein Fiasko bringt oder eine zumindest klimatische Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses. Auf einen Durchbruch indes konnte niemand hoffen. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

In der Hochburg des Atheismus, wo Religion vor allem im verborgenen stattfindet, wurde öffentlich der Allerhöchste beschworen. In einem Gottesdienst in der Bogojawlenski-Kathedrale zu Moskau ließ Pimen, der orthodoxe »Patriarch von Moskau und ganz Rußland«, seinen Herrn um Beistand »für den Erfolg der bevorstehenden Begegnung der Leiter der Staaten UdSSR und USA« bitten. Die Sowjet-Nachrichtenagentur Tass, der Kirchliches sonst schnuppe ist, gab das Ereignis bekannt.

Auf der anderen Seite der Welt, wo Religion in Wort und Tat - und auch in der Politik - allgegenwärtig ist, schoß die Bigotterie längst ins Kraut.

Einem Erweckungsprediger gleich, bekundete Ronald Reagan der Welt, daß er aufbreche zu einer »Mission des Friedens« - in einer Flut von Interviews mit Sowjet-Journalisten, der BBC und der »Times of India«, mit US-Nachrichtenagenturen und europäischen TV-Korrespondenten, aber auch in einer auf den Ostblock gezielten Ansprache über die »Stimme Amerikas« - übersetzt in 42 Idiome.

36 Stunden vor seiner Abreise offenbarte Reagan der amerikanischen Fernsehnation dann noch, daß »eine Mutter aus Louisiana« ihm geschrieben habe: »Ich werde Gott um seinen Rat für Sie und die sowjetischen Führer bitten.«

In den letzten Tagen vor dem »bedeutendsten Gipfel der Geschichte« (so Gorbatschow-Berater Georgij Arbatow), der ersten amerikanisch-sowjetischen Spitzenbegegnung seit über sechs Jahren, sah es zuweilen tatsächlich so aus, als könnten nur noch Gebete helfen.

Denn nach Jahren des neuen Kalten Krieges haben die beiden Supermächte noch immer kein Verhältnis zueinander gefunden: *___Moskau ist allein darauf fixiert, das amerikanische ____SDI-Projekt zu stoppen, das der kommunistischen ____Weltmacht nur die Wahl ließe, die erneute Überlegenheit ____der kapitalistischen hinzunehmen oder aber in einem ____ruinösen und kriegsträchtigen Rüstungswettlauf ____mitzuhalten. *___Washington scheint die Stärke seiner Position ____auszunutzen und gar nicht erkunden zu wollen, ob mit ____der neuen Sowjet-Führung Abkommen zur Entspannung oder ____gar Rüstungsbegrenzung möglich sind.

So konnten sich Sowjets und Amerikaner beim letzten Vorgipfel-Besuch des US-Außenministers George Shultz in Moskau nicht einmal auf ein Abschlußkommunique für Genf einigen. Jeder einzelne Shultz-Vorschlag, klagten die Sowjets, sei nur darauf abgestellt gewesen, amerikanische Positionen festzuschreiben, die für Moskau nicht konsensfähig sind. Jeder seiner Vorschläge, klagte Shultz, sei abgewiesen worden.

Besorgt erklärte daraufhin vorige Woche in Washington der Moskau-erfahrene SPD-Chef Willy Brandt dem Vizepräsidenten George Bush und dem Abrüstungssenior Paul Nitze, für die protokollbewußten Sowjets gehöre ein Kommunique zu den »wichtigen und heiligen Angelegenheiten«.

Hoffnung für Genf scheint allenfalls von der Persönlichkeit beider Partner auszugehen: Für die USA kommt ein Präsident, der daheim gerade wegen seines zur Schau gestellten Antikommunismus niemandem zu beweisen braucht, daß er kein Weichling gegenüber den Roten ist; ein Präsident, der gern als »Friedenspräsident« in die Geschichte eingehen möchte und im eigenen Land so populär ist wie seit langem keiner seiner Vorgänger (siehe Seite 148) - insgesamt, meint »Time«, zum Zeitpunkt des Gipfels »in der stärksten Position seit Eisenhower«.

Die Sowjet-Union ist durch einen vergleichsweise jungen, dynamischen Mann vertreten, der sich mit seinen Vorstellungen in der Sowjet-Union bereits erstaunlich weit durchgesetzt hat, einen sichtbaren Erfolg aber gut gebrauchen kann, um seine Stellung endgültig zu konsolidieren.

In Moskau war der amerikanische Außenminister überrascht, wie sehr sich der Stil der Sowjets geändert hatte. Statt wie zu Zeiten des Dauer-Außenministers Gromyko endlos lange Erklärungen zu verlesen und Papiere vorzulegen, sprangen die Sowjets nun von Thema zu Thema. So kamen innerhalb von fünf Stunden statt sonst vielleicht vier nun 20 Probleme zur Sprache - mögliche Lösungen dagegen überhaupt nicht.

Außerdem verschärfte Moskau seine Propagandakampagne in der Genf-Vorwoche nochmals. Ein halbes Hundert Sowjet-Funktionäre schwärmte nach Westeuropa aus, um die »Stimme der friedliebenden Völker« zu verstärken. Arbatow giftete, die Sowjet-Union könne sich in Sachen Moral kaum Lektionen von einem Land erteilen lassen, das als letztes die Sklaverei abgeschafft und als erstes (und einziges) Atomwaffen eingesetzt habe: Die Predigten Reagans und der Seinen, Moskau moralisch - und deshalb auch politisch - nicht als gleichwertig zu betrachten, tragen ihre Früchte.

Die Amerikaner andererseits irritierte, daß Gorbatschow, im Gespräch mit »Time«, »Grundlagenforschung« für den SDI-Bereich durchaus akzeptiert hatte, seine Unterhändler in Genf jedoch unverändert die Meinung vertraten, der gesamte Komplex müsse geächtet werden. Werde Gorbatschow, fragten amerikanische TV-Kommentatoren, nun möglicherweise in Genf aufstehen und die Veranstaltung mit Eklat abbrechen?

Ausgerechnet bei den Mittelstreckenwaffen, gegen deren Stationierung vor zwei Jahren Millionen Europäer auf die Straße gingen, könnte sich nun eine erste Einigung abzeichnen: Verständigte man sich, so ein führender US-Senator, auf 140 Mittelstreckensysteme für jede Seite, dann könnte sich das amerikanische Arsenal beispielsweise aus 36 Pershing-2 und 104 Cruise-Missile-Startgeräten mit jeweils vier Marschflugkörpern zusammensetzen. 452 US-Sprengköpfe - je einer auf jeder amerikanischen Waffe - stünden dann 420 sowjetischen - je drei Köpfe pro SS-20 - gegenüber.

Die Cruise Missiles jedoch könnte man auch in einer anderen Waffenkategorie zählen - was den Sowjets die Möglichkeit gebe, die französischen und britischen Waffen gegen die restlichen SS-20-Raketen aufzurechnen, ohne daß dafür London und Paris an den Verhandlungen beteiligt werden müßten.

Aus der Erwartung auf eine Vereinbarung schöpften US-Experten ebensosehr Hoffnung wie aus der Tatsache, daß die für den Vorabend des Gipfels vorgesehene Veröffentlichung des vom Pentagon-Scharfmacher Richard Perle zusammengestellten Berichts über sowjetische Vertragsverstöße auf einen Zeitpunkt nach Genf verschoben werden sollte.

Und sie vertrauten auch darauf, daß die beiden Hauptakteure in ihren letzten Reden vor dem Gipfel einander erkennbar schonten. Ronald Reagan: »Diese Konferenz kann der Anfang eines Dialogs für den Frieden sein. Wir sehen mit Optimismus in die Zukunft.«

Michail Gorbatschow andererseits hatte am Abend zuvor die amerikanischsowjetische Zusammenarbeit in der Weltraumforschung gelobt und versichert: »Wir fahren nach Genf, um ernsthafte und produktive Arbeit zu leisten, und ich sollte hinzufügen, nicht mit leeren Händen.« »Erfolg«, sagt Ronald Reagan, »sollte nicht an irgendwelchen kurzfristigen Abkommen gemessen werden.«

Oder deutlicher formuliert: Das Treffen von Genf wäre - auch ohne Abkommen und Kommunique - schon ein Erfolg, wenn es kein klarer Mißerfolg wird.

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