OSTBLOCK / IDEOLOGIE Genosse Kapitalist
Der sowjetische Bürger S. J. Karpuchin aus der sibirischen Stadt Irkutsk hat jüngst durch einen Brief an die Redaktion der Moskauer Zeitschrift »Kommunist« die Parteitheoretiker der Sowjet-Union in schwere ideologische Gewissensqualen gestürzt.
In seinem Brief hatte Bürger Karpuchin um ideologischen Rat in einer Frage gebeten, die auch prominenteren Sowjetmenschen als ein unheimliches Paradox erscheint. Es geht dabei um die Tatsache, daß der Ostblock durch den Sieg des Kommunismus in China zwar machtpolitisch ungemein gestärkt worden ist, die kommunistische Weltbewegung jedoch gleichzeitig ihre ideologische Geschlossenheit eingebüßt hat.
Die roten Mandarine in Peking laborieren nämlich an dem kommunistischen Sozialexperiment in China mit einem ideologischen Freimut, durch den viele geheiligte Grundsätze des Marxismus-Leninismus arg ramponiert werden. Solcher Experimentierfreude ist auch ein Dogma zum Opfer gefallen, ohne das bisher kein kommunistischer Führer auskommen konnte: das Dogma vom Klassenkampf.
In den Schulungslehrgängen der Partei hatte der Genosse Karpuchin gelernt, den sogenannten »Bucharinismus« als eine besonders frevelhafte Abweichung vom rechten Weg der Partei zu verabscheuen. Der von Stalin 1938 hingerichtete Parteitheoretiker Bucharin hatte gelehrt, im kommunistischen Staat könnte der Kapitalismus durchaus friedlich in den Sozialismus hineinwachsen; dieser Übergangsprozeß müsse sich keineswegs in den gewaltsamen Formen des Klassenkampfes zwischen Arbeitern und »Ausbeutern« vollziehen.
So wunderte sich Bürger Karpuchin aus Irkutsk, als er Nachrichten aus dem roten Reich der Mitte vernahm, die er mit den Lehren, die ihm als lautere Wahrheit galten, nicht übereinzubringen vermochte. Die Rotchinesen waren offenbar gewillt, wahr zu machen, was der sowjetische Ketzer Bucharin für möglich gehalten hatte.
Durch Zeitung und Radio erfuhren die Sowjetmenschen, daß die roten Mandarine die chinesische Kapitalisten-Klasse keineswegs beseitigten. Der neue kommunistische Staat beteiligte sich lediglich an den Unternehmen der Kapitalisten, ohne aber zunächst die Majorität der Anteile zu beanspruchen. Es gibt in Rotchina 1493 Kapitalisten, von denen jeder über ein Investitionskapital von mehr als 175 000 Mark verfügt.
Im Sommer des letzten Jahres konnten die Sowjetmenschen in ihren Zeitungen lesen, daß sich der stellvertretende chinesische Ministerpräsident Po I-po in einer Tagung der Gesamtchinesischen Gesellschaft für Industrie und Handel zur engsten Zusammenarbeit mit den Kapitalisten bekannt hatte. Er versprach, das Aktienkapital in Privathänden weiterhin zu fünf Prozent zu verzinsen.
Kurz darauf tauchte in der Parade zum siebenten Jahrestag des kommunistischen Sieges in China, die in Schanghai stattfand, die »Neue Chinesische Kapitalisten-Gesellschaft« auf, deren breite Spruchbänder optimistisch verkündeten: »Hoch lebe das Privateigentum in der Ruhmreichen Revolution!«
Eine amtliche Meldung von Radio Peking aber versetzte den Sowjetmenschen Karpuchin in helle Aufregung. Radio Peking meldete, daß es unter den rotchinesischen Kapitalisten 69 Millionäre gibt, deren Vermögen auf durchschnittlich 1,7 Millionen Mark geschätzt wird. Nicht ohne Stolz nannte der kommunistische Rundfunksprecher den Namen des reichsten Mannes im roten China: Es ist der Finanzier Tschung Ji-tschen, der über ein Investitionskapital von rund 100 Millionen Mark verfügt.
In seiner höchsten ideologischen Not wandte sich nun S. J. Karpuchin an die Zeitschrift »Kommunist«, die für alle ideologischen Fragen des Kommunismus maßgeblich ist. Bescheiden fragte der Bürger aus Irkutsk in Moskau an, ob denn die Wirtschafts- und Sozialpolitik Rotchinas nicht eine Bestätigung der ketzerischen Ideen Bucharins sei.
Die Frage des Karpuchin brachte die Ideologie-Redakteure in arge Verlegenheit. Gewunden erklärte der »Kommunist«, in der Sowjet-Union habe ein friedlicher Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktionsform nicht stattfinden können, »weil die russische Bourgeoisie gegenüber der Sowjetmacht eine Haltung einnahm, die jeden Kompromiß ausschloß. Infolge ihrer Verbindung mit der ausländischen imperialistischen Bourgeoisie konnte sich die russische Bourgeoisie nicht damit abfinden, daß sie für immer ihre führende Stellung einbüßen sollte.«
In China aber gebe es im Gegensatz zu Rußland eine »nationale Bourgeoisie": »In China ergaben sich günstigere historische Bedingungen für die Durchführung einer Politik der friedlichen Umgestaltung. Dort wurde der Staatskapitalismus zur grundlegenden Übergangsform der allmählichen Umwandlung des kapitalistischen Eigentums in sozialistisches Eigentum.«
Der »Kommunist«-Artikel war allerdings ängstlich bemüht, die sowjetischen Genossen hinsichtlich des Klassenkampfes nicht auf falsche Gedanken kommen zu lassen. »Dennoch schließen die friedlichen Veränderungen, die durch das Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der nationalen Bourgeoisie bedingt sind, den ernsten und hartnäckigen Kampf gegen sie keineswegs aus«, schrieben die Parteiideologen warnend.
Diese Worte offenbarten ein Unbehagen, dem der sowjetische Parteichef Chruschtschew kürzlich auf eine für Kommunisten frivole Weise Ausdruck gab. Als ihm die Mitglieder einer Moskau besuchenden Handelsdelegation aus Rotchina, der auch einige nichtkommunistische Bankiers angehörten, im Kreml vorgestellt wurden, begrüßte er einen dieser Bankiers mit den Worten: »Willkommen, Genosse Kapitalist!«
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