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»Genschers verhängnisvolle Einschätzungen«

Der frühere FDP-Generalsekretär Günter Verheugen über die Rolle des FDP-Vorsitzenden im Herbst 1982
aus DER SPIEGEL 9/1983

Die Ereignisse in der Schlußphase der sozialliberalen Koalition erscheinen deshalb so unwirklich, weil man sich schwer vorstellen kann, daß in der FDP-Führung ein Teil nicht wußte, was der andere wollte. Hans-Dietrich Genscher versicherte jedem, der es hören wollte, seine Bereitschaft zum Festhalten an der Koalition. Und jedem, der das Gegenteil hören wollte, hat er offenbar das Gegenteil versprochen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es so, daß er, wie viele andere in der Partei, auch selber nicht wußte, was er wollen sollte. Ohnehin starken Stimmungen unterworfen, suchte er im Grunde bei jedem Gesprächspartner Bestätigung und paßte sich dann an.

Auf jeden Fall wollte Genscher im Falle eines Wechsels diesen so organisieren, daß die Partei zusammenhielt. Er betrieb keine bewußte Zerrüttungsstrategie, aber er bewirkte Zerrüttung, weil er von einem bestimmten Punkt an beide Optionen - Wechsel und Bestand - offenzuhalten versuchte.

Genscher hatte sich nicht an die Führung der FDP gedrängt. Er hielt sich für einen guten zweiten Mann. Als Nachfolger für Walter Scheel hatte er selber an Karl-Hermann Flach gedacht. Als er dann doch Vorsitzender wurde, verfiel er schnell in einen autokratischen Führungsstil. Das FDP-Präsidium brauchte ohne ihn überhaupt nicht zu tagen. Keine schwierige Entscheidung gab es, in die er sich nicht selbst eingeschaltet hätte - notfalls aus dem Flugzeug irgendwo zwischen Nordpol und Feuerland.

Eine Schlüsselfrage für die Chancen der Koalition war natürlich das Verhältnis zwischen den beiden Spitzenleuten Helmut Schmidt und Genscher. Obwohl sie in vielen Ansichten und Einsichten übereinstimmten, entwickelte sich zwischen ihnen nie ein auch nur entfernt so vertrauensvolles Verhältnis, wie es zwischen Willy Brandt und Walter Scheel bestanden hatte. Es mag sein, daß Genscher dem Kanzler gegenüber lange Zeit ein Gefühl der Unterlegenheit empfand, das ihn hemmte. Ähnliches gilt wohl auch für sein Verhältnis zu Walter Scheel und zu Otto Graf Lambsdorff. Das Unterlegenheitsgefühl gegenüber Schmidt kompensierte er dadurch, daß er diesem gelegentlich seine Abhängigkeit vom Koalitionspartner demonstrierte.

Nach der Wahl von 1980 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Kanzler und Vizekanzler ständig. Genscher, der sich in der Vergangenheit offenbar häufig von Schmidt gedemütigt fühlte, sprach einmal davon, jetzt werde »heimgezahlt«. Fehler wurden auf beiden Seiten gemacht. Schmidt und Herbert Wehner machten Wolfgang Mischnick demonstrativ zum getreuen Ekkehard der Koalition, bis hin zu gelegentlichen offenen Brüskierungen Genschers. Daß der außen- und sicherheitspolitisch versierte Kanzler die Bewegungsfreiheit des Außenministers einengte, erleichterte das Verhältnis auch nicht.

In der Koalitionsspitze bestand allgemeine Übereinstimmung darüber, daß es an diesem Nicht-Verhältnis kaum etwas zu reparieren gab. Gelegentliche freundschaftliche Anstöße auf beiden Seiten halfen immer nur für kurze Zeit.

Vermutlich hat Genscher in seinem Zwiespalt, ob bewußt oder unbewußt, auch Alibis schaffen wollen, um einen Wechsel begründen zu können. Gelegentliche schroffe Ausfälle gegen den Koalitionspartner ließen diesen Schluß zu. Genscher scheiterte, weil er keinen Fehler machen wollte. Er wagte es nicht, eine Meinungsbildung in den Führungsgremien der FDP herbeizuführen, und führte die Spaltung herbei, weil er die Einheit bewahren wollte.

Dieser im Grunde zu bedauernden Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Figur standen in der Zeit Entscheidung in der FDP-Führung Männer zur Seite, zu denen sein Verhältnis ebenso kompliziert war wie zum Kanzler. Mischnick, Lambsdorff und Gerhart Baum wußten auch oft nicht, woran sie mit Genscher waren. Da Genscher seine negativen Urteile und gelegentlich sarkastischen Bemerkungen über andere sehr leichtsinnig zu verbreiten pflegt, erfuhren die drei natürlich, wenn sich Genscher über Mischnicks Unterwürfigkeit in der Koalition, Lambsdorffs Vernachlässigung des Mittelstandes und Baums zu fortschrittliche Innenpolitik ausließ. Auf der anderen Seite gab er allen dreien und noch einigen mehr das Gefühl, zu ihnen eine besondere Achse, die eigentlich wichtige Führungsachse der FDP natürlich, zu unterhalten. Die FDP-Führung war wie ein Rad, das nur aus Nabe und Speichen bestand: Die Nabe war Genscher, und an jeder Speiche saß ein anderes Mitglied der Führung. Aber es gab keine wirklich geschlossene Führungsgruppe. Um im Bild zu bleiben: Der Reifen fehlte.

In Genschers Zeit gab es innerhalb der FDP-Führung nur sehr wenig private Kontakte außerhalb der Politik. Der Terminstreß war in der Zeit der sozialliberalen Koalition so beängstigend gewachsen, daß dazu auch objektiv kaum Zeit blieb.

Wolfgang Mischnick war für Genscher besonders wichtig, weil dessen Einfluß auf die Fraktion im Ernstfall stärker war als der des Parteivorsitzenden. Wolfgang Mischnicks Engagement für die Koalition war echt, speziell aus außenpolitischen Gründen. Aber auch für ihn kam in zu vordergründiger Weise zuerst die Partei und dann die Koalition. Mischnicks »Wende« grenzt ans Tragische. Er muß das mit sich selbst ausmachen.

Lambsdorff war für Genscher der schwierigere Fall. Der Wirtschaftsminister hatte von der Wende nichts gehalten. Er brauchte keine Wende, argumentierte er, denn er habe seit jeher die richtige Politik vertreten. Der im Gegensatz zu Genscher glänzend organisierte Graf Lambsdorff hatte in der Partei eine starke Anhängerschaft. Er galt als ein Mann klarer Worte und entschlossener Taten.

Lambsdorff war aber keineswegs immer in allen Fragen der gradlinige Marschall Vorwärts. Er weigerte sich lange, die Beschäftigungskrise als langfristiges Strukturproblem zu erkennen, und blieb infolgedessen auch weitgehend untätig. Er verhinderte 1981, daß die FDP-Leitlinien zur Beschäftigungspolitik andere als orthodox marktwirtschaftliche und angebotsorientierte Vorschläge enthielten. Erst nach langem Zögern machte er Anfang 1982 Vorschläge gegen die Beschäftigungskrise. Wie später in der Frage der Ergänzungsabgabe hatte er auch beim Bundesbankgewinn, bei der Neuverschuldung und bei der Mehrwertsteuererhöhung seine Meinung innerhalb kürzester Zeit mehrfach total geändert.

Diese »Bocksprünge«, wie Genscher das nannte, beunruhigten Genscher nicht nur wegen der ungünstigen öffentlichen Wirkung. Genscher mußte befürchten, daß der mit der Spendenaffäre persönlich schwer belastete Wirtschaftsminister mit seinen jeweiligen Positionswechseln die Gelegenheit zum persönlichen Absprung suchte. Deshalb achtete der Parteivorsitzende peinlich genau darauf, daß Lambsdorff niemals sagen konnte, er, Genscher, oder die Partei insgesamt sei seinen, Lambsdorffs, Vorschlägen nicht gefolgt und nun könne er die Verantwortung für das Heil der Marktwirtschaft nicht länger tragen. Lieber machte sich Genscher wie im Fall der Mehrwertsteuer-Diskussion im Frühjahr 1982 selber lächerlich und folgte den »Bocksprüngen« in kurzem Abstand.

In der Koalitionsfrage hatte sich Lambsdorff früh entschieden. Als er nach dem Sommertheater 1981 von der großen Auslandsreise in exotische Gefilde, die er jeden Sommer unternimmt, zurückkehrte, fragte er mich, das einzige in Bonn gebliebene Präsidiumsmitglied, nach meiner Einschätzung der Lage. Er kam schnell zum Punkt und fragte, ob wir, das hieß Genscher und ich, denn glaubten, daß die notwendigen Entscheidungen mit der SPD getroffen werden könnten. Er glaubte das nicht. Auch für ihn sei der Koalitionswechsel problematisch. Er schätze den Bundeskanzler persönlich und politisch sehr, und er werde sich ja auch in einer anderen Koalition nicht so profilieren können wie jetzt. (Da irrte er sich, aber er ging davon aus, daß der Bundeskanzler einer CDU-FDP-Koalition keinesfalls Kohl heißen werde. Das konnte er sich, wie viele andere, schlechterdings nicht vorstellen.)

Lambsdorff wollte von mir wissen, wie geschlossen die Partei einen Wechsel mitmachen wolle. Ich faßte meine Einschätzung so zusammen:

▷ wenn die Parteiführung den Bruch der Koalition provoziert, zerbricht die Partei;

▷ wenn ein Wechsel aus objektiven Gründen unvermeidlich ist, wird nur der ganz linke Flügel (Jungdemokraten etc.) nicht mitmachen, in der Fraktion werden alle mitmachen bis auf höchstens drei oder vier.

Auch als Verhandler war Lambsdorff keineswegs so hart, wie man allgemein vermutete. Er leistete gelegentlich Widerstand in den Haushaltsberatungen, vor allem, wenn die Interessen von Banken und Versicherungen zur Debatte standen, aber im großen und ganzen war er schnell für Kompromisse zu haben. Lambsdorffs Schwäche, wenn er wirklich über den Haushalt aus der Koalition aussteigen wollte, bestand darin, daß die FDP ohne geschlossenes Konzept verhandelte.

Gerhart Baum letztendlich war sich über seine Rolle im unklaren. Er hätte die Leitfigur der lange Zeit führungslosen FDP-Linken werden können, aber das wollte er nicht. Er suchte intensiv Genschers Freundschaft und Vertrauen, versuchte, den Vorsitzenden positiv zu beeinflussen. In der Partei und in der Öffentlichkeit galt er als Lambsdorffs Antipode, was nicht zutraf, denn die beiden suchten miteinander auszukommen. Genscher war die Flügelposition der beiden potentiellen Kronprinzen sehr recht: Ihm gab das die Gelegenheit, die Rolle von Gottvater zu übernehmen. Sohn Lambsdorff und Heiliger Geist Baum machten das mehr widerwillig mit.

Zunehmend wichtig wurde die Rolle von Walter Scheel. Er wollte den Wechsel. Gern mokierte er sich über den entscheidungsschwachen Genscher und erinnerte an seine Führung 1969. Er sah nicht, daß Genschers Hemmungen mit den Ereignissen von 1969 zusammenhingen. Wenn das Schicksal der Partei unter den wesentlich günstigeren Bedingungen von 1969 schon am seidenen Faden hing ...

Ob Scheel irgendwelche persönlichen Ambitionen hatte, blieb ein Rätsel. Bei Spekulationen dieser Art reagierte er sehr allergisch. In der Endphase unterstützte er Genscher wirkungsvoll, ließ aber keinen Zweifel daran, daß er die ganze Machart für stümperhaft hielt.

Den Winter 1981/82 verbrachte ich mit einer Art Inspektion der Partei. Ich führte Regionalkonferenzen mit den Funktionären und Mandatsträgern im ganzen Land durch und kam zu folgendem Befund:

1. Die Partei erwartet Klarheit in der Koalitionsfrage. Auch die Gegner der sozialliberalen Koalition halten den gegenwärtigen Schwebezustand für tödlich.

2. Die Partei trägt die Inhalte der »Wende« mit, mißbilligt aber den Gebrauch dieser Politik als taktisches Instrument.

3. Die Partei verlangt wieder klarere Konturen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Für den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses gab es keine Mehrheit. Die Partei wünscht Anschluß an die Friedensbewegung und Wiederaufnahme der sicherheitspolitischen Alternativen der Liberalen aus den sechziger Jahren.

4. Die Partei ist bereit zu einem konsequenten Reformkurs auf dem Feld der Innen-, Rechts- und Umweltpolitik. Sie verlangt, den Grünen nicht nachzulaufen, aber die Ursachen des grünen Protests durch eine ökologisch orientierte Gesamtpolitik zu beseitigen.

Für diese Erkenntnisse interessierte sich in Bonn niemand mehr. Die Führung hatte sich von ihrer Basis abgekoppelt. Das Jahr 1982 begann mit einer rasanten Abfolge von Partei- und Koalitionskrisen:

Die FDP-Linken und die Jungdemokraten veranstalteten Ende Februar in Köln einen Kongreß »Noch eine Chance für die Liberalen«. Er sollte der Rückbesinnung auf die Freiburger Thesen dienen, wurde aber natürlich zum Tribunal über die Wende-Politik und über Genschers Sicherheitspolitik, womit der Streit vom Kölner Parteitag neu eröffnet wurde. Innerhalb der Parteiführung und der Fraktion, besonders bei Genscher, wurde die Teilnahme von Ronneburger, Baum und mir an diesem Kongreß mißbilligt. Ich hatte mich in dieser Frage über Genschers Wünsche hinweggesetzt, weil ich der Veranstaltung durch eine programmatische Rede zum sozialen und fortschrittlichen Liberalismus einen normaleren Charakter verleihen wollte. Dies mißlang.

Von der Stunde des Kölner Kongresses an befand sich die FDP im offenen Richtungskampf. Genscher schob ab sofort die Schuld an allen Problemen und Niederlagen auf den Kölner Kongreß und seine Initiatoren. Auch daß es Schmidt später gelingen konnte, die FDP öffentlich der Untreue zu überführen, schrieb Genscher den Linken zu. Sie hätten ihn in der entscheidenden Phase handlungsunfähig gemacht.

Wochenlang gingen um diese Zeit Gerüchte über eine Kabinettsumbildung durch Bonn. Auch Agenturmeldungen erfuhr die FDP, daß ihre Minister Ertl und Lambsdorff vom Kanzler ausgewechselt werden sollten. Genscher machte das sofort zur Koalitionsfrage. Den Dementis aus dem Kanzleramt glaubte er nicht. Für Genscher war es eine Sache des Prinzips, daß die verfassungsmäßigen Kompetenzen des Kanzlers ihre Grenze an der Personalhoheit des Koalitionspartners FDP fanden.

Etwas später ventilierte Staatssekretär Lahnstein bei einem Besuch in meiner Wohnung die Chancen, die FDP-Ressorts doch in eine Kabinettsumbildung einzubeziehen. Ich erklärte das rundweg für unmöglich, obwohl ich im Falle Ertl wußte, daß eigentlich niemand in der FDP den Bayern noch halten wollte. Ertl war ja keineswegs das gemütliche Urviech, sondern er fiel allen auf die Nerven, weil er nur noch stänkerte, ständig zu spät kam und alle Geschäfte aufhielt, die Natur-, Umwelt- und Tierschutzverbände geschlossen gegen die FDP aufgebracht hatte, jeden Reformansatz in der Agrarpolitik blockierte und trotz dieser »Leistungen« auch noch faul war.

Man fand, daß Ertls Verrat an der rechten FDP-Kamarilla, mit der er sich 1969 gegen jede sozialliberale Koalition verschworen hatte und aus der er mit dem Ministerposten herausgekauft worden war, nun lange genug honoriert worden sei. Aber die von der FDP strikt verlangte Nichteinmischung der SPD in ihren personellen Besitzstand rettete ihn.

Die wirkungsvoll umgebildete Regierung mußte sofort mit der Koalition in die nächste Runde des Dauer-Haushalt-Streites. Es ging um den Nachtragshaushalt 1982 und um ein Mini-Beschäftigungsprogramm. In dieser Runde der Auseinandersetzung machte die FDP Konzessionen. Die Rechtspresse nahm übel - und schon gewitterte es wieder in der Fraktion. Ohne vorherige Diskussion in einem Koalitionsgespräch stellte der Bundeskanzler nach der Haushalts-Einigung die Vertrauensfrage - gegen den Rat der kurz vorher eingeweihten Genscher und Mischnick tat er dies in abstrakter Form, also ohne Verbindung mit der Sachfrage. Die FDP empfand das mehrheitlich als einen demütigenden Dressurakt. Zwar fehlte Helmut Schmidt keine Stimme, doch war die Aktion unter dem Strich eher schädlich: Der Streit in der Koalition ging weiter.

Die Wahlen in dieser Zeit - Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein und Landtagswahlen in Niedersachsen - brachten das schon vertraute Bild: schwere Verluste der SPD, Grüne stärker als FDP, keine SPD-FDP-Mehrheit möglich. Da die Union in Niedersachsen allein regierte, war dort die Koalitionsfrage nicht so wichtig. Genscher hatte sich in Übereinstimmung mit dem Präsidium für eine CDU-Aussage eingesetzt, aber beim niedersächsischen Landesvorsitzenden Heinrich Jürgens nichts bewirken können - Jürgens konnte seine Abneigung gegen Albrecht nicht überwinden und hielt die Aussage offen. Die FDP kam zwar wieder in den Landtag, aber inzwischen war die Lage da: Die Partei war auch in Bundesumfragen hinter den Grünen auf den vierten Platz abgerutscht.

Die niedersächsische Wahl löste im FDP-Präsidium und in der Fraktion besorgte Diskussionen aus. Das Ende der sozialliberalen Koalition durch Wählerschwund schien für 1984 fest programmiert, selbst die Rückkehr der FDP in den Bundestag war nicht mehr sicher. Die größte Kälte in der Analyse legte Walter Scheel an den Tag. Er erklärte, das Dreiparteiensystem und damit eine weitere gestaltende Rolle der FDP könnten nur erhalten bleiben, wenn die SPD schnell in die Opposition käme, um die Grünen und Alternativen aufsaugen zu können. Für den daraus zwingend abzuleitenden Schluß gab es aber in keinem Gremium eine offene Zustimmung. Die »Rechten« spielten zwar in ihren Zirkeln schon alle denkbaren Modelle eines Wechsels durch - sie gingen aber immer noch nicht in die Offensive.

Wichtiger als diese Debatten war für den Moment, daß am Tag nach der Niedersachsen-Wahl zwei gute Freunde ihre Einstellung zu der CDU-Propaganda-Forderung nach Neuwahlen änderten - Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Beide stoppten plötzlich diese Diskussion. Das hieß: Sie bereiteten sich auf einen Kanzlersturz durch konstruktives Mißtrauen vor. Dafür gab es noch ein weiteres Indiz: Wenige Tage vor der Niedersachsen-Wahl hatte Genscher die außenpolitischen Gegensätze zwischen der Union und der Koalition so sehr relativiert, daß jedenfalls Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiet kein Koalitionshindernis mehr darstellen konnten. Damit hatte Genscher allerdings das empfindlichste Stück der FDP-Identität getroffen. Der Widerspruch in der Partei war so vehement, daß er sich korrigieren mußte.

Offene Feindseligkeiten innerhalb der Koalition brachen während des Münchner SPD-Parteitages aus. Ohne genaue Kenntnis aller Beschlüsse bezichtigten Genscher und Lambsdorff die SPD der schlimmsten wirtschaftspolitischen Ketzereien. Dabei hatte die SPD nur alte Beschlüsse, die früher niemand in der FDP gestört hatten, wiederholt und sich in der entscheidenden Frage der Strukturreform auch auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit der FDP-Position angenähert. Die SPD reagierte verbittert. Doch ihre Führung stellte schon im ersten Koalitionsgespräch nach dem Parteitag klar, daß die Münchner Beschlüsse jetzt nicht in die Koalition eingebracht werden sollten. Genscher brauchte aber diese Beschlüsse für einen anderen Zweck. Er entdeckte in ihnen das noch fehlende Wahlkampf-Thema für die heranrückende Schicksalswahl in Hessen. Da Hessens Ministerpräsident Börner einen Beschluß seines Landesverbandes in München vorgetragen hatte, der von der Regierungspolitik abwich, hielt Genscher die Hessen zur massiven Kritik an dem »Sozialisten Börner« an.

Damit war klar, daß Genscher sich nicht mehr an eine Absprache halten wollte, die im Dezember 1981 auf Betreiben des Kanzlers zustande gekommen war. Helmut Schmidt hatte die Spitzen der Bonner und Wiesbadener Koalition eingeladen. Das Gespräch enthüllte schwere Gegensätze kreuz und quer durch die hessische Koalition. Die Bonner - einschließlich Schmidt! - rieten den Hessen, in ihrer Kernkraft- und Startbahnpolitik nicht zu forsch vorzugehen, sondern fällige Entscheidungen auf die Zeit nach der Wahl zu verschieben. Kanzler und Vizekanzler erklärten beide, sie wollten sich mit aller Kraft für den Sieg der Koalition in Hessen einsetzen. Für den Fall der Niederlage, die zu einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat führen würde, deutete Schmidt aber Bereitschaft zum Weitermachen an. Es müßte dann aber das Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen Bundesrat und Bundestag auf eine neue Grundlage gestellt werden.

Die hessische Koalitionsentscheidung der FDP wurde zur Frage über Weiterbestehen oder Untergang einer ganzen Ära deutscher Politik. Sie fiel ohne Beteiligung des FDP-Bundesvorstandes. Programmiert wurde sie in einer Sitzung der FDP-Präsidien von Bund und Land am Tag der Hamburger Bürgerschaftswahl. Die Hamburger hatten ohne Bonner Einwirkung eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD mit einer Eventualaussage zugunsten der CDU gemacht. Erwartungsgemäß gingen sie mit diesem Wahlkampf ein zweites Mal unter. Sie kamen nicht in die Bürgerschaft, die GAL übernahm die frühere FDP-Rolle als dritte, ausschlaggebende Kraft. Dieses Ergebnis war natürlich für die FDP traumatisch.

Die in Bonn versammelten FDP-Präsidien waren vor Bekanntwerden des Hamburger Wahlergebnisses relativ unschlüssig gewesen. Am Abend, als das Ergebnis feststand, schlug die Stimmung um. Die Hessen bekamen grünes Licht für eine Aussage mit der CDU. Andreas von Schoeler und ich beschworen die Kollegen, diesen Schritt nicht zu tun. Vergeblich. Den Ausschlag gab Wolfgang Mischnick mit einer für ihn leider typischen Überlegung: Die Alternative in Hessen könne ja nur noch sein: absolute Mehrheit der CDU oder CDU-FDP-Koalition. Andere Mehrheitsbildungen gebe es nicht. Dann sei die Koalition mit der CDU auch im Bonner Interesse die bessere Lösung. Andreas von Schoeler, Gerhart Baum und ich bewerteten die bundespolitischen Folgen anders, nämlich als katastrophal. Für das FDP-Ergebnis sahen wir schwarz und sagten, mit einer SPD-Aussage würden wir zwar nicht wieder in die Regierung, aber wenigstens in den Landtag kommen, mit einer CDU-Aussage nicht einmal das.

Genscher hielt sich in dieser Diskussion zurück. Er sagte mir später, er sei entschlossen gewesen, auf jeden Fall Mischnicks Rat zu folgen - ganz egal, was dieser vorgeschlagen hätte. Für Genscher war, so paradox es klingt, die hessische Entscheidung nicht so wichtig. Wenn er Hessen zum Test für Bonn machen wollte, konnte er das mit beiden Aussagen.

Ich widersprach der Empfehlung dieses Abends in einem Interview mit der »Zeit« öffentlich und stellte mich damit zum erstenmal in einer Frage von zentraler Bedeutung gegen Genscher. Ich rechnete mit meiner Entlassung, mindestens aber mit dem Consilium abeundi. Aber Genscher zeigte Verständnis: Er billigte meine Handlungsweise, weil es - so sagte er - im Falle einer Niederlage in Hessen ja eine unbelastete neue FDP-Führung geben müßte.

Auf dem hessischen Parteitag am 17. Juni zeigte sich, daß das Bundespräsidium von der hessischen FDP-Führung falsch über die Mehrheitsverhältnisse im Landesverband unterrichtet worden war. Ein Argument der Wechselbefürworter war gewesen, die Mehrheit in Hessen sei ohnehin klar. Das war sie aber nicht. Hätten Gries und Mischnick gegen den Wechsel gesprochen, hätten sie sich durchgesetzt. Wer aus Gründen der Bonner Koalition noch schwankte, dem verschaffte Wolfgang Mischnick ein reines Gewissen, indem er den hessischen Wechsel als Rettung für die Bonner Koalition darstellte. Sachliche Argumente gab es im übrigen nicht, nur den an allen Haaren herbeigezogenen Börner-Antrag von München. Niemals mußte ein FDP-Wahlkampf auf einem so dürftigen Argumentations-Niveau geführt werden. Die ganze Sache war durch und durch verlogen. Den Hessen ging es um ihre Ministerposten und den Bonner Rechten um den Probelauf für den Wechsel in Bonn.

Am nächsten Tag gingen die Linken in die Offensive. Im Bundesvorstand setzten sie die Isolierung der hessischen Entscheidung durch: Sie dürfe, so lautete der Konsens, nicht als Modell für Bonn dargestellt werden, sondern nur als rein landespolitische Entscheidung. Ähnlich hatten sich auch die Hessen selbst geäußert. Es gelang aber nicht, Genscher jetzt eine Garantie für die Bonner Koalition bis 1984 zu entlocken. Einen entsprechenden Antrag unterlief Genscher, indem er über eine Presseerklärung vom Vortag abstimmen ließ, in der keine klare Absichtserklärung für Bonn enthalten war.

Vor dem Hintergrund des hessischen Desasters begannen erneut die quälenden Haushaltsberatungen. Jetzt ging es um den Haushalt 1983. Peter Glotz und ich hatten versucht, die Minister Lahnstein und Westphal zu kompromißfähigen Vorlagen zu bewegen, was auch halbwegs geschah. Hans-Dietrich Genscher hatte mir versichert, wenn diese Haushaltsrunde zu einer Einigung führen würde, dann sei für ihn klar, daß die FDP an der Seite der SPD für 1984 auf den Sieg der Koalition setzen müsse. Dies veranlaßte Gerhart Baum und mich sowie später die gesamte Fraktionslinke, einem ziemlich harten FDP-Verhandlungskonzept zuzustimmen.

Der Bundeskanzler führte die Verhandlungen sehr straff, brachte Genscher aber in eine Trotzhaltung, weil er seinen ökonomischen Sachverstand bezweifelte und demonstrativ vertrauliche Unterhaltung mit Wolfgang Mischnick pflog. Dem allerdings hatte Genscher praktisch die Verhandlungsführung zugeschoben. Er wollte verhindern, daß Mischnick sich noch einmal wie 1981 als Retter der Koalition und eigentlichen Faktor der Stabilität in der FDP feiern lassen konnte.

Die Koalition stand in dieser Runde nur scheinbar vor dem Scheitern. Als in der Endrunde die Einigung nur noch davon abhing, ob die FDP als Gegenleistung für den von den Sozialdemokraten akzeptierten Einstieg in die Selbstbeteiligung an den Krankenhausaufenthaltskosten einer Einschränkung der Vorteile beim Ehegatten-Splitting zustimmen würde, war vollkommen klar: Daran konnte die Koalition nicht zerbrechen. Selbst Walter Scheel, der plötzlich im Kanzleramt auftauchte und an den internen Beratungen der FDP-Delegation teilnahm, sprach einem solchen Scheitern klipp und klar die Plausibilität ab.

Die Stunde des Auseinandergehens wurde nur vertagt. Beide Seiten waren sich im klaren darüber, daß im Herbst nachgebessert werden müßte. Jeder hielt die von Lambsdorff vorgelegten wirtschaftlichen Rahmendaten für zu optimistisch, auch Lambsdorff selbst. Der Versuch, eine Einigung auf der Grundlage realistischer Eckdaten zu erreichen, wurde nicht gemacht. Das hieß: Die Entscheidung sollte nach der Hessen-Wahl fallen.

Keiner hatte mehr Illusionen. Ich wußte auch, daß die Geduld in der SPD zu Ende ging. Der Bundeskanzler hatte mir in nicht druckreifen Worten für Hessen einen Wahlkampf gegen die FDP angekündigt. Der poujadistische Flügel der Rechten in der Fraktion stimmte dem Kompromiß nicht zu. Die Öffentlichkeit wertete ihn als Sieg des Kanzlers. Das publizistische Trommelfeuer auf die FDP, nun endlich zu springen, ließ mich ahnen, wie die Hölle von Verdun gewesen sein mußte. Teile der Medien hatten an der Zerrüttung der Koalition großen Anteil. Seit zwei Jahren schon boten die Springer-Blätter jedem FDP-Mann, der etwas gegen die Koalition sagen wollte, ihre Spalten an. Im Bonner Büro von »Bild« war nach meinem Eindruck ein Mitarbeiter damit beschäftigt, schimpfwillige FDP-Interviewpartner zu finden. Leute aus dem zweiten Glied wie Cronenberg, Möllemann und Gattermann machten von diesem Angebot reichlich Gebrauch. Das war ein merkwürdiges Geschäft: Gegen die gewünschte Aussage wurde Publizität in hoher Auflage geboten. Das Ende der Koalition wollten außerdem die »FAZ«, das »Handelsblatt« und die Wirtschaftsteile der »Zeit« und der »Süddeutschen Zeitung« herbeischreiben. Aber auch die liberale und linksliberale Presse hatte die Koalition weitgehend abgeschrieben und wollte ein Ende des bösen Spiels.

Das kam dann auch schnell. Der hessische Wahlkampf entwickelte, wie nicht anders zu erwarten, eine unaufhaltsame Eigendynamik in Richtung Test für Bonn. Genscher sprach Ende August auf dem hessischen Parteitag von den neuen Aufgaben, die sich eine neue Mehrheit suchen. Zweideutig wie immer konnte Hessen oder Bonn gemeint sein. Lambsdorff machte die Sache klar: Natürlich in der »Bild«-Zeitung sagte er, wer einen Wechsel in Bonn wolle, könne dafür etwas tun, wenn er in Hessen FDP wähle. Ich rügte dies öffentlich als einen Verstoß gegen die FDP-Beschlußlage, der ja auch wirklich vorlag: Genscher schrie mich wegen meiner Intervention minutenlang am Telefon an. Der Bundeskanzler stellte Lambsdorff im Kabinett zur Rede: Genscher schrieb ihm in der »Bild«-Zeitung (!) eine peinliche Lobeshymne »Der Graf: ein ganzer Kerl«.

Die Hessen ließen inzwischen keinen Zweifel mehr daran, daß sie nur noch eine Hoffnung auf Erfolg hätten, wenn vorher in Bonn gewechselt würde. Das allerdings wollte Genscher nicht. Er zielte immer noch darauf ab, erst nach dem Wahlergebnis entscheiden zu müssen. Das erklärt, warum Genscher bis zum Tag vor dem Koalitionsbruch immer noch Treue zur Koalition und Entschiedenheit zum Wechsel zugleich bekundete. Aber Lambsdorff hatte sich inzwischen entschlossen, die Sache zu beschleunigen. Er legte ein wirtschaftspolitisches Programmpapier vor, das praktisch die Rücknahme sämtlicher Reformen der sozialliberalen Koalition verlangte und eine klare Übernahme des neokonservativen amerikanischen Wirtschaftskurses war: Belastung für die kleinen Einkommen, Entlastung für die Reichen.

Vermutlich war dieses Papier ursprünglich als die Vorlage gedacht, mit der die FDP die SPD in der nächsten Haushaltsrunde zum Aufgeben zwingen wollte. Weil aber der Bundeskanzler von Lambsdorff Ende August eine schriftliche Darstellung seiner Konzeption verlangte, kam das Papier auf den Markt, ohne daß der Verfasser die zu diesem Zeitpunkt schwer zu erhaltende Zustimmung der FDP-Gremien gebraucht hätte. Genscher und Mischnick versuchten verzweifelt, Lambsdorff von der Veröffentlichung abzuhalten: Sie sahen die Gefahr, daß die SPD aus diesem Papier eine Waffe gegen die FDP schmieden konnte.

In einer FDP-Bundesvorstandssitzung am 4. September und in einer Fraktionssitzung am 8. September wurde das Lambsdorff-Papier von vielen Seiten kritisiert. Genscher äußerte sich nur intern sehr enttäuscht darüber. Dieses Papier konnte schwerlich der plausible Grund zum Koalitionswechsel werden, ohne die Partei zu zerreißen. Man hat ja dann auch nach dem 1. 10. 1982 nichts mehr davon gehört.

Aber Genscher brauchte sich darüber keine Gedanken mehr zu machen. Helmut Schmidt hatte seine Strategie fertig und trieb Genscher mit beispielloser Härte in die Ecke. Der Bundeskanzler hatte von Genscher mehrfach Klarheit über die Zukunft seiner Koalition verlangt - im mündlichen Gespräch, schriftlich, am 9. September sogar im Bundestag; der FDP-Vorsitzende wich aus. In den FDP-Gremien gab es zu dieser Zeit keine Mehrheit für einen Koalitionswechsel. In der Fraktion formierten sich Abgeordnete quer durch das politische Spektrum, die nun Klarheit erzwingen wollten. Ihnen wie der ganz überwältigenden Mehrheit der Partei war das Taktieren Genschers zur Qual geworden. Die Mitglieder der Führungsgremien waren hilflos. Sie wußten nichts und erfuhren nichts. Mir wenigstens hatte Genscher gesagt, in Hessen gehe es nicht um einen wirklichen Test für Bonn, es komme nur darauf an, bei den Wählern den Eindruck zu vermitteln, sie könnten für einen Koalitionswechsel in Bonn und Wiesbaden zugleich votieren, denn er sähe sonst in Hessen kein einziges Wahlmotiv für die FDP mehr!

Genscher und Mischnick glaubten nicht, daß der Bundeskanzler vor der Hessen-Wahl handeln würde - etwa die Vertrauensfrage stellen. Genscher: »Er (Schmidt) bestimmt nur den ersten Akt. Danach wird er der unwichtigste Mann in Deutschland, denn alles weitere bestimmen wir.« Dies war wohl die verhängnisvollste Fehleinschätzung seines Lebens, und zwar eine dreifache: Er schätzte Schmidt falsch ein, er schätzte die FDP falsch ein, er schätzte die Wähler falsch ein.

Das letzte Koalitionsgespräch am 14. September im Kanzlerbungalow verlief gespenstisch. Die Runde plauderte über Belanglosigkeiten, ganz am Ende, beiläufig, kam die Rede auf das Lambsdorff-Papier und die Lage der Koalition. Fast freundlich sagte der Kanzler, man möge bitte nicht vergessen, daß er Instrumente habe, auch solche, die nicht in der Verfassung stünden.

Genscher, Mischnick und ich gingen durch den Garten des Kanzleramtes hinüber zum Bundeshaus und grübelten über die Bedeutung dieser Bemerkung nach. Schmidt hatte schon einmal von seinen Instrumenten gesprochen, am Anfang des Jahres. Danach stellte er die Vertrauensfrage. Wir kamen nicht darauf, was er diesmal plante. Lambsdorff feuern? Alle FDP-Minister entlassen? Vertrauensfrage? Rücktritt?

Als wir durch die Wache am Kanzleramt auf die Straße traten, drehte ich mich noch einmal um und sagte zu Wolfgang Mischnick: »Hier sind wir zum letztenmal gewesen.« Er sagte: »Ja.« Genscher schwieg.

Drei Tage später beendete der Kanzler die Koalition. Die Zusammenarbeit mit der FDP sei seiner Partei und ihm nicht länger zuzumuten gewesen, sagte er vor dem Bundestag. In der Nacht zuvor sprudelte Bonn vor Gerüchten. Alle Welt versuchte zu informieren, zu koordinieren, zu raten, zu helfen und zu kitten. Aber das Kanzleramt antwortete nicht mehr.

Die in Bonn anwesenden Präsidiumsmitglieder trafen sich am 17. September um acht Uhr bei Wolfgang Mischnick. Genscher saß schon am Tisch und redigierte eine fertig getippte Rede. Darin stand, die FDP sei bereit, eine Regierung mit der CDU/CSU zu bilden. Dennoch fand eine Beratung nicht statt.

Keiner wußte Genaues über die Absichten des Kanzlers. Der unterhielt sich zu diesem Zeitpunkt gerade mit Graf Lambsdorff über dessen Konzept. Kurz vor zehn kam Lambsdorff fröhlich ins Zimmer und sagte: »Ich bin immer noch Minister.« Keiner lachte.

Wenige Minuten vor Beginn der Fraktionssitzung wurden Genscher und Mischnick über das Ende der Koalition informiert. Genscher ließ durch FDP-Sprecher Schmülling verbreiten, er habe am frühen Morgen Wolfgang Mischnick über seinen Rücktritt als Außenminister unterrichtet. In den zwei Stunden, die das Präsidium rätselratend beisammensaß, hatte er von diesem nicht ganz alltäglichen Schritt nichts erwähnt.

In der nur kurzen Fraktionssitzung vor der Erklärung des Bundeskanzlers sprachen sich Genscher und Mischnick gegen die Kanzleraufforderung zu Neuwahlen aus. Die Beschäftigungskrise verlange eine handlungsfähige Regierung, die einen Haushalt durchbringen könne. Danach seien alsbald Neuwahlen nötig. Bevor Genscher im Plenum auf die Rede Schmidts antworten mußte, gab es noch eine kurze Fraktionssitzung. Nur ein paar Wortmeldungen waren möglich.

Ich machte den Gegenvorschlag: Die FDP solle ja sagen zu Neuwahlen, bis dahin eine Minderheitsregierung der SPD tolerieren, sofort einen Parteitag einberufen und ein klares Programm sowie eine Koalitionsaussage für die CDU/ CSU beschließen. Die Fraktion stimmte Genschers Vorschlag zu: Erst Regierungsumbildung, dann Haushalt, dann Neuwahlen, obwohl sich gerade gegen den Punkt Neuwahlen - verständlicherweise - Bedenken erhoben. Für ein paar Monate Galgenfrist gab die Fraktion die Ehre der liberalen Partei auf. Das Abstimmungsergebnis war 33:18. Stärker sollte die Minderheit auch in den dramatischen folgenden Wochen nicht mehr werden.

Der Bundesvorstand am späten Nachmittag konnte nichts mehr ausrichten. Das Präjudiz war ja durch Genschers Rede schon geschaffen. Nach einer zutiefst aufwühlenden, gequälten Debatte stimmte auch der Bundesvorstand zu, ziemlich knapp, mit 18:15 Stimmen.

Durch die Partei lief eine Schockwelle. Ein Sonderparteitag wurde beantragt und terminiert. Das Präsidium war jedoch nicht bereit, mit der Entscheidung über eine neue Koalition bis zu einem Parteitag zu warten. Die Fronten im Präsidium waren plötzlich klar wie noch nie: Genscher, Scheel, Mischnick, Hoppe, Morlok, Bangemann, Lambsdorff und Ertl waren für den Wechsel. Liselotte Funcke, Ronneburger, Baum, Lahmann und ich waren dagegen. Als sich herausstellte, daß die CDU/CSU nicht bereit war, Gerhart Baum als Verhandlungspartner zu akzeptieren, beschwor ich Genscher, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären. Er könne das, zwei Tage vor der Hessen-Wahl, im Interesses der Hessen nicht mehr tun, sagte Genscher.

Am Abend der Hessen-Wahl trafen sich Gerhart Baum und einige andere Gegner des neuen Kurses in meiner Wohnung. Das Ergebnis der Wahl überraschte uns nicht. Wir wußten aber auch, daß Genschers Wort nicht mehr einklagbar war, er verbinde mit dieser Wahl sein persönliches Schicksal. Der Vorsitzende würde nicht zurücktreten. Schuld war nicht er, schuld waren natürlich nur die »Linken«.

Für die Präsidiumssitzung am nächsten Morgen vereinbarten wir einen neuen Plan: Wir wollten als einzig vertretbare Reaktion auf das vernichtende Wahlergebnis beantragen, die Verhandlungen mit der CDU/CSU abzubrechen und mit der SPD über die Tolerierung einer Minderheitsregierung und den Haushalt 1983 zu verhandeln. Das Präsidium lehnte ab. Die nach und nach bekannt werdenden Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen entsetzten uns. Die neue Koalition traf keine Absprachen über Innen-, Rechts- und Umweltpolitik. In der Wirtschaftspolitik machte die FDP eine Konzession, auf die die SPD vergeblich gewartet hatte. Auf das Innenministerium hatte Genscher von vornherein verzichtet. Seine Begründung: Die relative Stärke der FDP in der neuen Koalition sei geringer.

Die Wahrheit: Die FDP mußte diese Koalition zum Nulltarif abschließen, weil sie mit dem Rücken zur Wand stand.

In der abschließenden Beratung von Bundesvorstand und Bundestagsfraktion am 28. September wurden alle Argumente gegen die neue Koalition vorgetragen, die es gab. Die Experten der Fraktion widerlegten die sachliche Notwendigkeit des Wechsels anhand jedes einzelnen Punktes der Vereinbarungen. Die anderen sprachen dem geplanten konstruktiven Mißtrauensvotum die moralische Legitimation ab: Man dürfe das Wort nicht brechen, dem die Wähler von 1980 vertraut hatten und dem die FDP ihr Wahlergebnis verdankte.

Der Bundesvorstand stimmte dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit 18:17 zu. Zwei Stimmen fehlten; die von Gerhard M. Meyer, dem linksliberalen ehemaligen Berliner Justizsenator, er war am 17. September aus Protest zurückgetreten, und die von Liselotte Funcke, die erkrankt war. Ich wollte sie zur Abstimmung holen lassen, doch ihre Vertraute und Freundin Ingrid Matthäus-Maier riet ab: Sie stimmt doch gegen uns. Das war nicht richtig. Ein Patt oder eine Ablehnung im Bundesvorstand hätte wahrscheinlich die Fraktion zu keinem anderen Verhalten gebracht, sie stimmte mit 32:20 zu, aber Genscher hätte zurücktreten müssen, und der innerparteiliche Meinungsbildungsprozeß nach der Entscheidung am 1. Oktober wäre wohl anders verlaufen.

Ohne Zweifel haben beide Führungsgremien nur deshalb so entschieden, weil sie nach den vielen präjudizierenden Schritten keine Alternative mehr sahen. Es war nicht nur politisches Versagen. Es war vor allen Dingen ein moralisches Versagen.

Ich trat am nächsten Morgen als Generalsekretär zurück. Die Minderheit in Vorstand und Fraktion verabredete für die Mißtrauens-Debatte am 1. Oktober ein gemeinsames Vorgehen. Gerhart Baum sollte für sie sprechen. Hildegard Hamm-Brücher kündigte eine persönliche Erklärung an. Mit diesen beiden Reden trat der liberale Flügel der FDP würdig von der Bühne ab. Was danach geschah, war schon das Possenspiel nach der Tragödie.

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