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JUBILÄEN Genschman ganz oben

Rudolf Augstein zu Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag
Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 12/1997

Als Hans-Dietrich Genscher 1995 seine Memoiren herausbrachte, waren viele seiner engsten Bekannten enttäuscht. Dieser witzige und stets mit Anekdoten befrachtete Politiker hatte genau das nicht getan, was man von ihm erwartet hatte: ein noch so dickes Buch, randvoll mit witzigen Erinnerungen und Anekdoten geschrieben.

Er hatte etwas anderes getan, was sich auf die Dauer mehr auszahlen wird, nicht in Geld, das er nicht braucht und auf das er keinen Wert legt. Er hatte für den aufmerksamen Leser ein Kompendium der Außenpolitik verfaßt, das jeder zur Hand nehmen muß, der sich mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der politischen jedenfalls, beschäftigen will.

Vergnügen kann einem das zu umfangreiche Buch nicht durchweg bereiten, Genschers Genauigkeit auch in biographischen Details läßt das nicht zu. Aber hier liegt seine Stärke ohnehin nicht, und das hat er zweifelsfrei gewußt.

Man kann die Leute nicht backen, man muß sie nehmen, wie sie sind. Genschers Anliegen war eben nicht, als geistreicher Witzbold in die Geschichte der Diplomatie einzugehen, niemand kann wider seine Natur. Vielmehr wollte er belegen, wie alles gewesen ist und was er dazu beigetragen hat. Da gibt es wenige, die sich mit ihm messen können.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich meinerseits eine selbsterlebte und darum wahre Anekdote erzählen. Im Wahlkampf 1972 hatte ich mir den undankbaren, aber lehrreichen Wahlkreis Paderborn aussuchen können. Da dies der Wahlkreis des damaligen Kanzlerkandidaten Rainer Barzel war, hatte ich dort die gesamte FDP-Prominenz zu Gast.

Genscher und mir war die gloriose Aufgabe zugefallen, abends auf dem Marktplatz der Stadt Rheda zu den Massen zu sprechen. Wir hatten jeweils 300 Leute vor uns, von denen aber kaum einer länger als fünf Minuten stehenblieb. Unterwegs hatte mich der Minister des Inneren, Hans-Dietrich Genscher, gefragt, was er sagen solle. Ich antwortete: »Das Übliche.« Er fügte hinzu: »Und den Kandidaten loben?« - »Ja, natürlich, auch das.«

Vor Ort erfuhren wir, daß sich die beiden Stadtteile Rheda und Wiedenbrück feindlich zueinander verhielten, weil man sie zur Stadt Rheda-Wiedenbrück zwangsvereinigt hatte. Dies mußte also das spezielle Thema sein.

Nach wenigen Minuten sah ich, daß der Minister sein Manuskript gar nicht mehr umblätterte, sondern frei das sozusagen »Übliche« von sich gab. Hinterher fragte ich ihn, wozu er überhaupt das Manuskript mitgebracht habe. »Um mich daran festzuhalten«, war seine Antwort, die unmittelbar einleuchtete. Man kann nicht sagen, daß wir beide die Veranstaltung als einen riesigen Erfolg betrachtet hätten. Er fuhr nach Bonn, ich flog nach Hamburg.

Am nächsten Morgen um sieben Uhr früh - es war ein Samstag - rief mich des Ministers Referent Klaus Kinkel in Hamburg an, zu einer für mich ungewohnten Stunde also. Ja, er wolle mir nur mitteilen, sagte er, und zwar im Auftrag des Ministers, daß der Minister mit hohem Fieber im Bett liege. Nur so sei es zu erklären, daß er vergessen habe, den Kandidaten zu loben. Ich war schwer beeindruckt, aber auch schwer sauer.

Als Genscher nach dem Rücktritt Willy Brandts Außenminister werden sollte, stemmten sich Brandts Leute dagegen. Er kam mich besuchen und fragte, ob er denn unbedingt darauf bestehen müsse, Außenminister zu werden. Ich ahnte, welche Antwort er erwartete, war aber im übrigen auch überzeugt davon, daß ein gegenteiliger Rat nichts bewirkt hätte. Er mußte es werden, er wußte das, aber Bestätigung von möglichst vielen Leuten tat ihm wohl. Noch war er nicht der legendäre Genschman, und Angst vor sprachlichen Problemen hatte er auch.

Als Innenminister ließ er kein Mittagessen vorübergehen, ohne sich dreimal zu seinem Funkauto Forelle I oder Forelle II hinausrufen zu lassen. Als Außenminister hatte er das nicht mehr nötig, da gab es genug Gelegenheiten, sich sehen zu lassen, und er nutzte sie alle, zum Wohle aller Deutschen, wie sich später herausstellte. Man konnte mit ihm Freund sein, auch wenn er in manch wichtiger Frage, siehe Nachrüstung, anderer Ansicht war als man selbst.

Hans-Dietrich Genscher kannte alle, die man kennen mußte, und er genoß Vertrauen

Oder besser, man konnte mit ihm wegen einer sachlichen Meinungsverschiedenheit nicht sein Feind werden. Er war doch zu sehr Profi. Und niemals konnte man wissen, wer wen am Ende noch einmal brauchen würde.

Die Bevölkerung spürte das, und so stand Genschman ganz oben auf der Skala der Beliebtheit. Von Macken, wie etwa seinem gelben Pullunder, ließ er sich nicht abbringen. Und auch Forelle I und Forelle II sind im Ruhestand wiederaufgetaucht, er trägt sein Handy beim Berliner Presseball.

Hier muß ich mich berichtigen. Es kann für Hans-Dietrich Genscher, notabene samt Frau Barbara, natürlich nur einen Unruhestand geben. Das Wappen der Insel Man könnte zu ihm passen: »Er steht, wohin Du ihn auch wirfst.«

Man hat ihn oft gefragt, warum er denn überhaupt zurückgetreten sei, manchmal mit einem bösen, aus dem Kanzleramt beschallten Unterton. Er sagt das nicht, und hat er das etwa nötig? Wer so viel geleistet hat wie er, darf sich getrost mit 65 Jahren aus dem strapaziösen Amt entfernen. Daß er die Strapazen nunmehr vermißt, ist bei Genscher ebenfalls selbstverständlich.

Seine Frau Barbara beteuert, sie könne ihren Mann nicht ändern, und das glaubt man ihr gern. Worüber viele von uns sich manchmal mokiert haben - er saß ja mehr im Flugzeug als sogar Rita Süssmuth -, das eben hat sich ausgezahlt, als es auf einen in den Geschäften derart erfahrenen Außenminister ankam. Er kannte alle, die man kennen mußte, und er genoß Vertrauen.

Dies allerdings nicht für ein halbes Jahr in Washington. Dort hielt man 1990 für möglich, daß Genscher auf eigene Faust eine nicht abgestimmte Außenpolitik zwecks Wiedervereinigung betreiben würde, und das auch noch mit Erfolg. Wer immer das gedacht hat, sagen wir George Bush, kann von Genschers geprägtem Naturell nicht die geringste Ahnung gehabt haben. Er würde nichts tun, was ohne jede Erfolgsaussicht war, er würde sich immer abstimmen. Tatsache ist, in Camp David saß Kohl ohne seinen Genscher, Bush aber nicht ohne dessen Pendant James Baker. Die Phantasie reicht nicht aus, sich andere Gründe einfallen zu lassen.

Für mich steht nicht in Frage, daß Genscher im Vereinigungsprozeß eine mindestens so große Rolle gespielt hat wie Helmut Kohl selbst. Man kann nicht von ihm verlangen, daß er auch noch ein guter Ökonom ist (Helmut Schmidt: »Herr Genscher ist ein Rechtsanwalt").

Auch was er zu Maastricht gedacht und getan hat, kann nicht als entscheidend gelten. Erstens mag es ja klappen, obwohl zur Zeit wenig dafür spricht. Und zweitens wird er nie etwas tun, wenn er sicher sein kann, damit aufzulaufen. Sicher ist nur, daß der Vertrag von deutscher Seite lückenhaft, wenn nicht stümperhaft behandelt worden ist. Die Folgen sehen wir bereits, aber das ist nicht in erster Linie die »Schuld« Genschers und auch nicht der FDP. Es hat auch die Opposition die gewichtigen Einwände nicht gesehen und nicht vorgebracht. Und Wunder gibt es ja auch.

Mir bedeutet die Bekanntschaft, die dann in Freundschaft übergegangen ist, sehr viel. Ich verdanke ihr Einblicke, die ich sonst nicht gewonnen hätte.

Man wird Geschichte, wie wir sie zu lesen gewohnt sind, im nächsten Jahrhundert vielleicht gar nicht mehr schreiben. Der Strukturwandel in der Welt erlaubt die noch übliche Personalisierung vielleicht gar nicht mehr. Wenn aber doch, wird man den Außenpolitiker Hans-Dietrich Genscher nicht in einer Fußnote unterbringen können. Weder Schläge noch Ratschläge kann man einem 70jährigen geben. Bisher hat er ja offensichtlich gewußt, was er gewollt hat. Im übrigen: »das Übliche«.

Rudolf Augsteins Artikel erscheint als Beitrag in einer vomAuswärtigen Amt herausgegebenen Festschrift anläßlich Genschers 70.Geburtstags am 21. März.

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