AUSSENPOLITIK »Geordneter Neuanfang«
Ein Küsschen links, eines rechts, und nach der Verabschiedung rief Nicolas Sarkozy der Dame aus Deutschland aufmunternd zu: »Gute Wünsche für den Wahltag!« Der französische Innenminister und Chef der regierenden Konservativen zog für seinen Gast sämtliche Charme-Register. Und Angela Merkel ließ es tapfer lächelnd mit sich geschehen.
Die »Quasi-Kanzlerin« ("Le Monde") hatte in Paris bereits Präsident Jacques Chirac und Premier Dominique de Villepin getroffen, doch das Gespräch mit dem ehrgeizigen Duz-Freund behagte der CDU-Chefin ganz besonders.
Wenigstens einer, der mit ihr außenpolitisch fast durchweg einer Meinung ist: Annäherung an Washington, das Aus für die Achse Paris-Berlin-Moskau, für die Türkei allenfalls eine »privilegierte Partnerschaft« mit der EU. Von dem, was Chirac und Gerhard Schröder in den vergangenen Jahren praktiziert haben, wäre das eine klare Abkehr.
Aber natürlich werde vieles bleiben wie bisher, versuchte Merkel aufkommende Sorgen vor einer allzu abrupten Kurskorrektur zu zerstreuen. Die deutsch-französische Freundschaft etwa erachte sie auch künftig als »fundamental«. Paris und Berlin müssten sich weiter als »Motor« Europas verstehen. Allerdings: Die Interessen der kleinen EU-Länder sollten wieder stärker berücksichtigt werden. Da fühle sie sich der »Tradition Helmut Kohls verpflichtet«, fügte sie leise hinzu.
Noch tastet sich die Kanzlerkandidatin mit aller Vorsicht auf dem ihr weitgehend unbekannten Terrain voran. Sie weiß, dass die rot-grüne Regierung auf keinem Politikfeld so gut angesehen ist wie in der Außenpolitik. Auf diesem Gebiet gelten der Kanzler und Außenminister Joschka Fischer immer noch als Schwergewichte. 45 Prozent der Deutschen bescheinigen ihnen laut einer Allensbach-Umfrage, dass Deutschlands Einfluss in der Welt zuletzt gewachsen sei.
Schröders heftige Kritik am Irak-Krieg mag unter Experten umstritten sein - viele Wähler sehen darin seine wichtigste politische Leistung. Rot-Grün wird deshalb keine Gelegenheit auslassen, Merkel als allzu treuherzigen Pudel des US-Präsidenten George W. Bush zu zeichnen.
Gleichzeitig muss die Herausforderin Rücksicht nehmen auf die nach Profil strebenden Außenpolitiker in den eigenen Reihen wie auch beim Wunsch-Koalitionspartner FDP. Schon seit Jahren läuft sich der liberale Fraktionschef Wolfgang Gerhardt für das Außenamt warm. Kurz vor der Ziellinie möchte er sich ungern abfangen lassen von CSU-Chef Edmund Stoiber, der Ende Juni überraschend Interesse an der Fischer-Nachfolge signalisiert hatte.
Wichtiger als inhaltliche Differenzen ist für die Beteiligten das Gerangel um den prestigereichsten Kabinettsposten, den eine Kanzlerin Merkel zu vergeben hätte. Rund 30 Jahre lang standen FDP-Politiker an der Spitze des Auswärtigen Amts, von Walter
Scheel bis Klaus Kinkel. An dieser Tradition wollen die Liberalen im Fall einer Regierungsbeteiligung eisern festhalten.
Ihm sei kein zusammenhängender außenpolitischer Entwurf der CSU bekannt, lästert ein FDP-Mann in Richtung München. Ex-Außenminister Kinkel reklamiert seinen früheren Posten reflexartig für die eigene Partei: Die Liberalen hätten einen Anspruch auf das Haus. Für Altmeister Hans-Dietrich Genscher ist klar, dass Gerhardt der Kandidat sein müsse: Er sei eine »vorzügliche Persönlichkeit« für das Ministerium.
Die Personaldebatte beschränkt sich nicht auf das Außenressort. Gern würde sich die FDP auch noch das Entwicklungshilfeministerium angeln, quasi als Untergliederung des Auswärtigen Amts.
Doch die Erfolgsaussichten in diesem Punkt sind gering. Die Union hat das Ressort zum »wichtigen eigenständigen Politikfeld« erklärt, und der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff bringt bereits seinen Landsmann Friedbert Pflüger ("ein klasse Entwicklungshilfeminister") in Stellung. Allerdings interessiert sich auch der frühere Bürgerrechtler und Merkel-Vertraute Arnold Vaatz aus Sachsen für den Posten.
Zu erheblichen Spannungen zwischen CDU/CSU und FDP könnte es beim Thema Europa kommen. Einflussreiche Unionspolitiker wollen nach einem Wahlsieg die entsprechende Zuständigkeit ganz dem Kanzleramt zuschlagen. Die Europapolitiker Peter Hintze und Elmar Brok gelten als Favoriten auf einen leitenden Posten.
Doch die FDP interpretiert die Überlegungen als Attacke auf eine Kernkompetenz des Auswärtigen Amts. Dessen Chef wäre danach Minister mit halbiertem Geschäftsbereich. Zumal bei diesem Thema personelle und inhaltliche Differenzen eng miteinander verflochten sind. Verantwortungsvolle Europapolitik sei mit manchen Unionsleuten nur schwer vorstellbar, verbreiten die Liberalen und lassen keinen Zweifel, dass sie Stoiber damit meinen.
Nirgends in der Außenpolitik liegen FDP und CSU so weit auseinander wie hier. So kritisiert die CSU in aller Öffentlichkeit die bereits verabredete EU-Erweiterung um Bulgarien und Rumänien. Zwar will man die abgeschlossenen Beitrittsverträge zähneknirschend akzeptieren und womöglich gar einer Aufnahme Kroatiens zustimmen. Doch das soll's dann gewesen sein. Für die weiteren Balkanstaaten müsse »für längere Zeit Schluss sein«, fordert Stoiber.
Das gilt aus CDU/CSU-Sicht erst recht für die Türkei. »Eine Vollmitgliedschaft«, heißt es im Wahlprogramm der Union, »lehnen wir ab.« Und Stoiber fügt hinzu: »Die Grenze der Aufnahmefähigkeit Europas wäre überschritten.«
Dagegen will die FDP der Türkei und sämtlichen Nachfolgestaaten Jugoslawiens zumindest eine Beitrittsperspektive erhalten. »Ich bin skeptisch, ob die Türkei Vollmitglied wird, aber ich kann die Möglichkeit nicht ausschließen«, sagt Gerhardt.
Er steht der jetzigen Regierung damit näher als seinen potentiellen Koalitionspartnern. Zudem gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen Türkei-Frage und deutsch-amerikanischem Verhältnis. Man sei »besorgt« über die antitürkische Unionspolitik, sagte vor kurzem Bruce Jackson, ein einflussreicher neokonservativer Vordenker aus Washington, bei einem Besuch in Berlin: »Das wird spaltend wirken.«
Nicht ohne Genugtuung registriert die FDP Anflüge von Orientierungsschwäche in der Union. In Fragen der EU-Erweiterung droht den Konservativen Ärger mit den USA. Ihre sonst klar proamerikanische Haltung dagegen schürt das Misstrauen der Wähler daheim (siehe Grafik Seite 44). Da sei wohl auch künftig noch Raum, frohlockt ein FDP-Mann, für eine liberale »Lotsenfunktion« in der Tradition des Langzeit-Außenministers Genscher.
Kanzlerkandidat Stoiber etwa tat im Wahlkampf 2002 erst so, als ginge die amerikanische Irak-Kriegsplanung Deutschland nichts an ("Die Frage stellt sich gar nicht"). Später versuchte er, Schröder zu übertreffen. Bei einem »Alleingang« der USA, tönte Stoiber, würde er Deutschland »niemals« als strategischen Stützpunkt für US-Militärflugzeuge zur Verfügung stellen.
Auch Merkel geriet ins Schlingern. Im Frühjahr 2002, nach dem Besuch von US-Präsident George W. Bush in Berlin, mochte sie eine Beteiligung an Militärschlägen gegen den Irak nicht ausschließen, Deutschland könne »im Rahmen unserer Fähigkeiten einen Beitrag leisten«.
Im Februar 2003, wenige Wochen vor dem Krieg, besuchte die CDU-Chefin die
USA. Sie aß mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Pentagon zu Mittag und machte als »Botschafterin Deutschlands« (Merkel) im Weißen Haus und im Kongress deutlich, was sie vorab in der »Washington Post« geschrieben hatte: »Schröder spricht nicht für alle Deutschen.«
Jetzt verzichtet die Unionsfrau ganz darauf, als Kanzlerkandidatin in die USA zu fahren - was Außenminister Fischer prompt als Vorlage für eine höhnische Attacke im Bundestag nutzte: »Fürchten Sie etwa die Bilder angesichts der Probleme, die die USA im Irak haben?«
»Gefolgschaft können wir nicht leisten, das wird in Deutschland nicht akzeptiert«, mahnt sogar ein Unions-Außenpolitiker, »Merkel wird sich nicht noch mal mit Rumsfeld fotografieren lassen.«
Die Kandidatin versucht derzeit, das leidige Irak-Thema klein zu halten. Mit der »Ausbildung von Sicherheitskräften für den Irak« in den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan, sagt sie, kooperiere Deutschland ausreichend im Kampf gegen den Terror. »Hier gibt es Kontinuität in der deutschen Außenpolitik.«
Die FDP hingegen fühlt sich bei diesem Thema auf der sicheren Seite. Anders als die Konservativen haben die Liberalen den amerikanischen Alleingang und den Irak-Krieg immer kritisiert. »Ich habe kein Glaubwürdigkeits- und Haltungsdefizit«, sagt Gerhardt. Schließlich habe er zu den Amerikanern »nie ein Untergebenenverhältnis« gepflegt.
Gern stilisieren sich die Liberalen zum Garanten für Verlässlichkeit. »Es muss in
der deutschen Außenpolitik immer ein hohes Maß an Kontinuität geben«, sagt Gerhardt, »zugleich aber muss ungewöhnlich viel repariert werden.« Deshalb gehe es um nichts weniger als einen »geordneten Neuanfang«.
Zumindest darin ist er sich mit führenden Unionspolitikern einig. »Wir bevorzugen Konsultationen anstelle von Alleingängen und Machtgebärden«, sagt etwa der CDU-Außenpolitiker Pflüger. Man werde weniger »Diplomatie auf Dreier- oder Vierergipfeln« zelebrieren und »Stil und Form« der deutschen Außenpolitik ändern. Die Fixierung der Regierung Schröder auf die Großmächte soll durch mehr Nähe zu den kleinen EU-Staaten ausbalanciert werden.
Wichtige Fragen aber sind nach wie vor offen. So soll der Bundestag bis zum 13. Oktober über die Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan entscheiden. Zwei Jahre lang hat die FDP als Oppositionspartei den Einsatz abgelehnt, weil ein klares Konzept fehle. Nun wird sich Gerhardt überlegen müssen, ob er als Abgeordneter gegen ein Militärprojekt stimmt, das er vielleicht als Minister kurz darauf als Routinesache im Nato-Rat behandeln muss.
Ähnlich heikel könnte es werden, wenn der Versuch Berlins scheitert, die Erweiterung des Uno-Sicherheitsrats diesen Sommer auf den Weg zu bringen. Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble lehnen einen ständigen deutschen Sitz in New York völlig ab. Gerhardt hält ihn zwar für erstrebenswert, aber nur als »zweitbeste Lösung« - nach einem europäischen Sitz. Völlig offen ist, ob er als Minister im Herbst einen erneuten Anlauf wagen würde, um zu beweisen, dass er eine entsprechende Initiative effektiver vorantreiben würde als sein Vorgänger Fischer.
Das Heer der Diplomaten im Auswärtigen Dienst beobachtet den aufziehenden Wahlkampf ohnehin mit gemischten Gefühlen. Seit den Debatten im Frühjahr über die Visaaffäre und die Nachrufe auf Ex-Nazis im Mitteilungsblättchen des Auswärtigen Amts ist das Haus politisch polarisiert wie selten zuvor.
Die sogenannten Betriebskampfgruppen von CDU/CSU und FDP haben bereits schwarze Listen über angebliche und tatsächliche Sozis und Grüne angelegt. Die SPD habe mit dem frisch beförderten Staatssekretär Georg Boomgaarden, Abteilungsleitern und Botschaftern in Staaten wie Russland und China viele Schlüsselstellungen besetzt.
Wird eine neue Leitung das Amt radikal säubern? Von einem CSU-Minister erwarten viele Beamte die weitere Politisierung des Hauses, von einem Liberalen die Fortsetzung der überparteilichen Tradition Genschers.
Doch noch mehr treibt die Diplomaten eine andere Frage um. Die FDP will Steuerprivilegien abbauen. Dazu könnte auch die steuerfreie Auslandszulage zählen, die bei den deutschen Abgesandten praktisch einem zweiten Gehalt gleichkommt.
Fischer hatte bei seinem Amtsantritt 1998 seine Popularität im Ressort gefestigt, indem er das lukrative Diplomatenprivileg »gegen Begehrlichkeiten« des Finanzministeriums verteidigte. Gerhardt lässt dagegen offen, ob er die Pfründen seiner potentiellen Mitarbeiter schützen würde. »Dies ist nicht Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik«, sagt er. Ein anderer Liberaler formuliert es drastischer: »Der Zulage geht's ans Leder.« RALF BESTE
* Vor Plakaten in Istanbul, die eine mit EU-Flagge verhüllte Türkin zeigen.