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LÄRM Geräusch vom Turm

Nach der Beschwerde eines einzigen Bürgers wurde der Herforder Petrikirche nächtliches Geläute untersagt -- Präzedenzfall für Glocken-Gegner.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Seit Jahrzehnten verkündete die Petrikirche am Wilhelmsplatz im westfälischen Herford die Zeit: Eine kleine Stahlglocke schlug die vier Viertel an, eine große alte Bronzeglocke dröhnte die vollen Stunden -- Tag und Nacht, rund um die Turmuhr.

Das regelmäßige Bimbam vom Gotteshaus der evangelisch-reformierten Gemeinde wurde von Gemeindegliedern. Andersgläubigen und Atheisten des Petri-Sprengels als traditionelle Geräuschkulisse geduldet oder gar geschätzt, bis 1974 ein Kaufmann -- dessen Name behördlich geschützt wird -- mit seiner Familie von auswärts in die Nähe der Kirche zog.

Der neue Nachbar beschwerte sich alsbald beim zuständigen Gewerbeaufsichtsamt in Minden über das alle fünfzehn Minuten ertönende Geräusch vom Petri-Turm; er fühlte sich »insbesondere während der Nachtzeit empfindlich gestört«.

Die Behörde installierte ein Meßgerät und stellte fest, so der Amtsleiter, Regierungsgewerbedirektor Klaas Knoch. »daß es in der Wohnung dieser Familie tatsächlich erheblich laut geklungen hat": Der Glockenschlag ergab Pegelwerte von 72 Dezibel, wie sie etwa im Schallbereich von lauten Automotoren, Baumaschinen oder Beatmusik registriert werden.

Nunmehr wurde Petri-Gemeindepfarrer Ernst Petersen von Amts wegen ersucht, das Geläut wenigstens während der Nachtzeit »stillzusetzen«, denn »das Schlagwerk einer Turmuhr kann als Anlage im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes angesehen werden«.

Dieses Gesetz, seit April 1974 in Kraft, ermöglicht behördliche Lärmschutz-Auflagen auch dann, wenn unzumutbare Geräusche nicht von Motoren und Maschinen, Baustellen oder Industriebetrieben, sondern von »sonstigen Anlagen« verursacht werden. Diplom-Ingenieur Knoch: »Wir haben klargemacht, daß es sich hierbei um eine neue Rechtslage handelt.«

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung und möglichen Konsequenzen nahm das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales das Glocken-Beispiel in eine jüngst vorgelegte Fallsammlung über Anti-Lärm-Aktivitäten der staatlichen Gewerbeaufsicht. Zwischen behördlichen Erfolgsberichten wie »Erdgasbeheizter Glühofen wurde leiser« und »Geräuscharmes Verfahren zum Einbringen von Spundbohlen« stellt das von SPD-Minister Friedhelm Farthmann geführte Ministerium klar: »Beim Geläut von Kirchenglocken muß zwischen dem liturgischen Geläut und dem Schlagwerk einer Turmuhr unterschieden werden.«

Nur der liturgische Glockenklang -- für Hochzeit oder Begräbnis etwa, bei Gottesdiensten, Kirchenfesten sowie an Sonn- und Feiertagen -- gehöre nach Grundgesetz-Artikel 4 ("Glaubens- und Bekenntnisfreiheit") zur geschützten Religionsausübung. Die Zeitansage jedoch sei »keine zum Kultus gehörende Funktion der Glocke«.

Weil der Stundenschlag nur eine »nicht sakrale Nebenaufgabe der Kirche« sei, die allerdings im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden könne, müsse die rechtliche Beurteilung von Nutz und Frommen des Gebimmels »nach den allgemeinen Grundsätzen des Polizeirechts, des Bauordnungs- und Nachbarrechts erfolgen«.

Erstaunlicherweise verzichteten die Petri-Gemeinde und Superintendent Helmut Gaffron von der evangelischen Kirchenleitung in Herford auf Einspruch gegen die Forderung der Gewerbeaufsicht. obwohl nur eine einzige Beschwerde den Anstoß gegeben hatte.

Statt dessen wurde ein elektrischer Regler installiert, der den Glockenschlag automatisch um 21 Uhr ab- und um 7 Uhr morgens wieder einschaltet. Pfarrer Petersen: »Als Reformierter bin ich da ein bißchen frei und habe gesagt: Was sollen wir da ein großes Trara machen.« Zudem hatte nur ein Gemeindeglied. eine alte Frau, das nächtliche Läuten vermißt; sie starb wenig später.

Inzwischen freilich sieht der Gemeindepfarrer ("Ich selbst finde die Ruhe nachts sehr wohltuend") ein, daß »dies ein Präzedenzfall war -- man hätte sich vielleicht dagegen wehren sollen«. Denn, so bestätigt Amtschef Knoch in Minden, »es steht jedem Bürger frei, sich daran zu orientieren und die Gewerbeaufsicht zu alarmieren

Knoch wundert sich sogar, daß aus seinem ganzen Amtsbereich bis jetzt nur die eine Beschwerde einging: »Andere Kirchen stehen noch viel mehr im Wohnbereich« und das Mittagsläuten der Stahlglocken vom Mindener Dom haut beispielsweise ganz anders hin -- da möchte man manchmal weglaufen.«

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