ZYPERN Gerangel der Veteranen
Es war ein drückend schwüler Juliabend, hinter den Troodos-Bergen ging die Sonne nieder, da packte Hasan Afanyali, 56, die Sehnsucht. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert hatte der Tavernenwirt aus Pasaköy im türkischen Nordteil der Insel den griechischen Süden seines Vaterlandes nicht mehr betreten. Er kramte seinen längst abgelaufenen Pass der ungeteilten Republik Zypern hervor und ging einfach hinüber.
Die türkischen, griechischen und die Uno-Soldaten an der schwach besetzten Demarkationslinie bei Famagusta schienen zu schlafen. Keiner bemerkte den verbotenen Grenzübertritt. Afanyali nahm ein Taxi und tauchte ein in das Nachtleben am Hafen von Limassol.
Verständigungsschwierigkeiten? Unüberwindliche Gegensätze der seit der Invasion von 1974 getrennten Volksgruppen? Nicht wirklich: Noch in der Nacht seiner Ankunft machte der Inseltürke Afanyali Bekanntschaft mit einer verwitweten griechischen Pensionsbesitzerin. Sprachbarriere und politische Divergenzen erwiesen sich rasch als zweitrangig.
Es waren eher moralische denn patriotische Skrupel, die das Abenteuer des frommen Muslims nach drei Tagen beendeten. In seinem Dorf in Nordzypern warteten Frau und Kinder - und der Geheimdienst des Türkenführers Rauf Denktas.
Dem Präsidenten der 1983 ausgerufenen und nur von Ankara anerkannten »Türkischen Republik Nordzypern« sind Untertanen wie Hasan Afanyali ein Dorn im Auge. Ihre Neugier und ihr nostalgischer Drang nach dem Süden unterminieren sein Regime, das auf die ethnische Trennung und endgültige Teilung der Insel aus ist.
Um dem wachsenden inneren und äußeren Druck zu begegnen, bot Denktas überraschend Gespräche an: Am Dienstag trifft er sich mit seinem langjährigen Gegner, dem griechisch-zyprischen Präsidenten Glafkos Klerides - zum ersten Mal seit einem gemeinsamen Besuch vor vier Jahren bei Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Es soll wieder Bewegung kommen in eine der hartnäckigsten Krisen der Weltpolitik.
Nach Jahrzehnten fruchtloser Debatten sind die Chancen für einen Durchbruch diesmal nicht schlecht, denn alle Beteiligten stehen unter akutem Handlungsdruck: Denktas, 77, ist schwer übergewichtig und herzkrank, Klerides geht auf die 83 zu. Die Europäische Union scheint entschlossen, den griechischen Südteil der Insel 2004 auch ohne eine endgültige Lösung des Zypern-Problems aufzunehmen: ein Szenario, an das Athen seine Zustimmung zur gesamten EU-Erweiterung knüpft, für das Ankara hingegen mit einer Kriegsdrohung im Wort steht - und der Ankündigung, Nordzypern endgültig zu annektieren.
Irgendetwas muss geradezu geschehen, wenn die beiden zyprischen Veteranen diese Woche in der Residenz des stellvertretenden Uno-Bevollmächtigten zusammenkommen. Dessen Villa liegt im Niemandsland, unweit des seit 1974 nicht mehr genutzten Flughafens von Nikosia.
Das Angebot kommt nicht zufällig von Denktas: Seine fixe Idee, den Pseudostaat Nordzypern endlich international anerkennen zu lassen, lehnt nicht nur die ganze Welt ab, sondern auch eine wachsende Minderheit auf dem türkischen Festland. Sollte es diesen Staat jemals geben, so witzelte ein Kolumnist der Istanbuler Tageszeitung »Hürriyet«, dann werde Denktas wohl dessen einziger Bewohner sein.
Schätzungsweise 100 000 türkische Zyprer haben den verarmten Norden der Insel seit der Invasion von 1974 verlassen. Die heute hier lebenden 120 000 wünschen sich einen fairen Deal mit den Griechen, der sie am Reichtum eines vereinten EU-Staates Zypern beteiligen würde. So dankbar viele noch der türkischen Armee sind, die sie einst vom Joch der griechischen Junta befreite - jetzt wären sie froh, wenn Ankara die Mehrheit seiner 35 000 »Mehmetçiks« wieder abzöge.
Dagegen sträubt sich bislang der türkische Generalstab, der um ein strategisches Kleinod fürchtet. Von den Basen in Nordzypern ist es zu Ankaras Nahost-Verbündetem Israel kaum weiter als zum potenziellen Gegner Syrien. Doch selbst an dieser Front zeigen sich erste Abweichler: Der Zypern-Veteran Admiral Atilla Kiyat bezweifelte kürzlich den militärischen Nutzen der Insel.
»Ich frage mich ohnehin«, sagt S¸ener Levent, Chefredakteur des Oppositionsblattes »Avrupa« ("Europa") und heimlicher Held der Widerspenstigen im Lande, »wer von der anhaltenden Besatzung Nordzyperns noch profitiert.« Seine Antwort: ein aufgeblähtes Bürokratenheer und die türkische Mafia, die mit Nachtclubs, Spielkasinos, Waffen- und Drogenschmuggel, den wenigen Boombranchen im Reiche von Denktas, Milliarden verdient.
Den einfachen Inseltürken hingegen plagen die Auswirkungen der katastrophalen Wirtschaftskrise im Mutterland. Der Tischler Hakan Hamaloglu, 34, den der Verfall der türkischen Lira in die Verschuldung trieb, hatte noch Glück: Er bekam die begehrte Erlaubnis, tageweise jenseits der Demarkationslinie zu arbeiten. »Hier im Norden verdiene ich kaum 200 Dollar im Monat, drüben sind es für den gleichen Job mehr als 1000. Plus Alters- und Krankenversicherung.«
Als Siebenjähriger musste Hamaloglu mit seinen Eltern aus dem südzyprischen Dorf Melandra in den Norden fliehen. Die Schauermär der türkischen Propaganda, die Griechen würden seinesgleichen zu Gyros verarbeiten, wenn sie jemals wieder über die Grenze kämen, verfängt aber nicht einmal bei dem Vertriebenensohn. Im Gegenteil: Es rührte ihn, was er beim Anblick seiner ersten selbst verdienten zyprischen Banknote sah. Dort stand, neben unleserlichen griechischen Buchstaben, in vertrautem Türkisch geschrieben: »Bir Lira, Kibris Merkez Bankasi« - »Ein Pfund, Zentralbank von Zypern«.
Sorgen macht Hamaloglu allerdings der Gedanke, ein steinreicher Inselgrieche könnte ihm eines Tages den Grund unter seinem Häuschen am Stadtrand von Nikosia (türkisch Lefkosa) wegkaufen: »Wir haben hier wie auf Stroh gebaut, wer weiß, wem mein Vorgarten früher gehört hat.«
Mit derlei Fragen werden sich Klerides und Denktas befassen müssen; irgendwo im Verhandlungsgestrüpp zwischen Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit, Föderation oder Konföderation, Alleinvertretungsanspruch und Minderheitenschutz liegt das Ende des vor Jahren abgerissenen Gesprächsfadens.
Einziger Fixpunkt einer tragfähigen Zypern-Lösung: Die Türken werden Land abgeben müssen. Sie besitzen rund 37 Prozent der Insel, ihr Bevölkerungsanteil zur Zeit der Invasion betrug aber nur 18 Prozent. Groteskes Symbol der gewaltsamen Landnahme ist die Geisterstadt Varoscha: 40 000 griechische Zyprer wohnten einst in der alten Touristenmetropole der Insel, einer Art Miami Beach anno 1970.
Heute tummeln sich nur mehr Schlangen, Ratten und Skorpione zwischen den von Dornengestrüpp überwucherten Hoteltürmen; außer der türkischen Armee und Uno-Soldaten darf Varoscha seit fast 30 Jahren keiner betreten. Österreichische Blauhelme berichten von noch heute unaufgeräumten Frühstückstischen, so überstürzt waren die Griechen am Morgen des 16. August 1974 vor den türkischen Panzern geflohen.
Für Nikosia-Süd ist die Rückgabe von Varoscha Voraussetzung einer Friedenslösung. Die Türken, die mangels Touristen ohnehin nichts mit den verlassenen Hotelbunkern anfangen können, ließen die Stadt lieber verfallen, als mit einer Rückgabe guten Willen zu zeigen. Die Griechen ihrerseits vergiften die Stimmung, weil sie Touristen von ihrer Seite der Demarkationslinie die leer stehenden Betonkästen als Beweis türkischer Barbarei vorführen.
»Je länger es dauert, desto schwieriger wird es«, philosophierte Rauf Denktas einst über die Möglichkeit einer Friedenslösung auf Zypern. »Manchmal wünsche ich mir«, sagte der Istanbuler Schriftsteller Yahya Tezel auf einem türkisch-griechischen Publizistentreffen, »es käme ein großes Schiff, nähme diese Insel an den Haken und schleppte sie, am Felsen von Gibraltar vorbei, hinaus auf den Atlantik. Adieu, zeitloses Zypern-Problem, auf Nimmerwiedersehen.«
Sogar die Griechen lachten.
BERNHARD ZAND