UDSSR / KERNENERGIE Geringste Gefahr
Sibirien schwimmt auf einem unterirdischen Meer von Öl, hat Erdgas die Fülle und Kohle im Überfluß -- behaupteten die Exportpropagandisten der UdSSR. Und ihre Freunde im Westen, etwa von der DKP, ergänzten: Die Atomenergie ist des Teufels.
Beide Werbeslogans gelten offenbar nicht mehr. Moskau hat zuwenig natürliche Energie und braucht deshalb Atomkraft. Nach dem neuesten Fünfjahresplan der UdSSR stammt ein Fünftel der elektrischen Leistung, die bis 1980 neu installiert werden soll, aus nuklearen Reaktoren. Dafür werden schleunigst zehn Atomkraftwerke errichtet, in den achtziger Jahren kommt noch ein Dutzend hinzu.
Fünf arbeiteten -- für zivile Zwecke -- schon 1975, das größte mit 2000 Megawatt steht dicht bei Leningrad. einer Stadt von vier Millionen Einwohnern. Im vorigen Monat nahmen zwei weitere Kernkraftwerke, die seit sieben Jahren im Bau waren, die Energieproduktion auf: das eine, mit dem Namen des Vaters der sowjetischen Atombombe, Kurtschatow, in der Nähe des Mammutstahlwerks und der Großstadt Kursk, wo die erste 1000-Megawatt-Einheit anlief, das andere in Metsamor (Armenien) mit der ersten von zwei 405-Megawatt-Einheiten.
Die nächsten drei Kernkraftwerke sollen in der Nähe der Städte Kiew, Smolensk und Nikolajew errichtet werden. Alle Probleme scheinen gelöst:
* Die Reaktoren rollen in einem neuen Kombinat vom Fließband: Im südrussischen Wolgodonsk bauen 19 000 Arbeiter eine Montagehalle, die 40 Meter hoch, beinahe einen Kilometer lang und einen halben breit ist. Kosten allein im vorigen Jahr: 350 Millionen Mark. Die erste Produktionsstufe soll fertig sein, wenn der Sowjetstaat diesen November seinen 60. Gründungstag feiert.
* Die Ingenieure für die Kernkraftwerke kommen aus einem jüngst eingerichteten »Atomkraft-Institut« (3500 Studenten) in Obninsk.
* Der Atommüll rutscht nach dem Müllschluckerprinzip ohne Außentransport unter die Produktionsanlage in -- speziell isolierte -- Keller, die für etwa 30 Jahre ausreichen.
Derzeit produziert die Sowjet-Union erst 3800 Megawatt Atomstrom (Bundesrepublik 6200 Megawatt), das sind 6,5 Prozent des gesamten Elektrizitätsaufkommens der UdSSR. In den nächsten vier Jahren sollen 20 000 Megawatt erreicht werden. Dann verfügt Rußland über ungefähr ebensoviel Atomenergie wie die Bundesrepublik oder Frankreich, während die USA viermal soviel ansteuern.
Grund der russischen Atomhast: Die erschließbaren Energiereserven der Sowjet-Union reichen kaum für das Land selbst; die Erdölförderung zum Beispiel stieg voriges Jahr nur um sechs Prozent. Doch auch der übrige Ostblock muß von Moskau mitversorgt werden -- obwohl das Öl im Westen Devisen bringen könnte. Folge: Die erst 1975 verdoppelten Ölpreise werden dieses Jahr unter Genossen um weitere 33 Prozent erhöht.
Die Bruderstaaten sollen auch ihre Reaktoren in der Sowjet-Union kaufen Betriebsfähige Atomwerke stehen bisher nur in der DDR und der CSSR. Polen, Bulgarien und Kuba sollen sich bis 1980 auch eins anschaffen, so daß der gesamte Ostblock 30 000 Megawatt Atomstrom erzeugt.
Die russischen Werke werden sämtlich im europäischen Teil der Sowjet-Union stehen: Moskaus Reserven an Rohstoffen und Wasserkraft finden sich im menschenleeren, unterentwickelten Sibirien, während sich Bevölkerung und Industrie vor allem diesseits des Ural konzentrieren. Da der Transport von Ost nach West zu teuer kommt, soll gerade in den dichtbesiedelten Gebieten Atomkraft helfen.
Während sich Westdeutschlands DKP im Kampf gegen den Kraftwerkbau an der Unterelbe für »Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Bürger sowie Verseuchung der Umwelt« stark machte, begannen 10 000 ihrer sowjetischen Junggenossen am Unterlauf des Don, am Simljansker Stausee, mit dem Bau eines neuen Kernkraftwerks und -- gleich daneben -- einer neuen Stadt.
Für die These, Atomkraftwerke seien gefährlich, gebe es »keinerlei wissenschaftliche Gründe«, verkündete Altgenosse Wassilij Jemeljanow, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR; »Alarmmacher« im Westen hätten dafür ganz andere, hochpolitische Gründe:
»Offenbar will jemand die öffentliche Aufmerksamkeit von der wirklichen Gefahr ablenken, die von den nuklearen Waffen ausgeht, indem man sie auf die eingebildete Gefahr hinlenkt, die von den Kernkraftwerken drohe.« Und wer ist dieser Jemand? Professor Jemeljanow: »Die Gegner der Entspannung und Abrüstung.«
Kollege Andronik Petrossjanz, Vorsitzender des sowjetischen Staatskomitees für die friedliche Nutzung der Atomenergie, behauptet: »Gäbe es nur die geringste Gefahr für die Bevölkerung, würde weder die Sowjet-Union noch ein anderes sozialistisches Land solche Atomkraftwerke errichten.«
Ein paar Gefahren hat die UdSSR, soweit bekannt, schon erlebt: 1954 starben viele Uranbergarbeiter an den Folgen direkter Berührung mit radioaktivem Material, 1958 explodierte -- so behauptet jedenfalls der emigrierte Dissident Jaures Medwedew -- bei Blagoweschtschensk eine Atommülldeponie unter der Erde. Der Überläufer Mjagkow meldete 1400 Sowjetsoldaten mit Strahlungsschäden nach einem Atombombentest. Voriges Jahr entdeckte man an den Reaktoren sowjetischer Atom-U-Boote gefährliche Lecks.
Jemeljanow und Petrossjanz argumentierten offensichtlich gegen einheimische Atomgegner. So arbeitet in den baltischen Sowjetrepubliken eine illegale Bürgerinitiative gegen den forcierten Bau von Atomkraftwerken.
Sie hat den Senior der sowjetischen Atomforschung auf ihrer Seite: Professor Pjotr Kapiza möchte die Werke allenfalls auf unbewohnten Inseln sehen. Bei der 250-Jahr-Feier der Akademie der Wissenschaften am 8. Oktober 1975 setzte Festredner Kapiza ein Atomkraftwerk von 1000 Megawatt der Vernichtungsenergie einer Atombombe von 20 Kilotonnen gleich.
Kapiza: »Im Falle eines Unglücks oder von Sabotage würde die entweichende Radioaktivität alles Leben im Umkreis von mehreren Quadratkilometern vernichten, etwa so wie die Hiroshima-Bombe.«
Kapizas Rede wurde von der Sowjetpresse nicht veröffentlicht.