Titel Germanias Kampf um Berlin
Dieses verdammte Miststück will wieder nicht. Fast vier Jahre geht das jetzt schon so.
Es ist natürlich nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, ob Angela Merkel Bundeskanzlerin bleibt und damit weiter im Besitz dieses technischen Hilfsmittels der Kanzlermaschine, das sie da in ihren Händen hält, aber so viel steht fest: Sie und dieses Mikrofon werden keine Freunde mehr, nicht in den letzten Wochen dieser Wahlperiode und auch nicht, wenn sie noch vier weitere Jahre miteinander verbringen.
Die Maschine fliegt über das Schwarze Meer, Merkel ist auf dem Weg zum russischen Präsidenten, und es ist immer wieder ein komisches Gefühl in dieser fliegenden Konferenzkabine. Irgendwie stimmen die Abstände nicht, nicht räumlich und sonst auch nicht. Man quetscht sich auf den Sitz, hockt auf Armlehnen, schwitzt oder friert gemeinsam, weil die Temperatur immer anders ist, aber nie angenehm. Man liegt Merkel zu Füßen oder rückt ihr auf der grauen Sitzbank unangenehm nah auf die Pelle. Es ist ein bisschen, als träfe man sich in der Sauna. Alles zu nah.
Merkel im Kampf mit der Tücke der Technik. Sie hat oft etwas rührend Unbeholfenes in ihrer Art, es dauert ein bisschen länger, bis sie die Dinge in den Griff bekommt. Jetzt auch wieder. Merkel hält das Mikro linkisch in den Händen, ihre Finger nesteln und fummeln am Schaft, sie pustet in den Kugelkopf und klopft darauf, und als sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, führt sie es ans Ohr und horcht daran, als wäre es ein Lautsprecher. Schließlich hat das Mikrofon Erbarmen.
»So, jetzt geht's«, ertönt ihre Stimme über die Lautsprecher.
Noch genau 44 Tage sind es an diesem 14. August bis zur Bundestagswahl. Von nun an beginnt die unberechenbare Phase des Wahlkampfs. Das Böse lauert jetzt immer und überall, und der Teufel ist ein Eichhörnchen oder heißt Josef Ackermann, Jürgen Rüttgers und Oberst Klein.
»Unforced errors«, wie sie im Tennis heißen. Fehler, die nicht vom Gegner erzwungen sind.
Gegner, was heißt schon Gegner? Angela Merkel fehlt der unmittelbare Gegner. Der Wahlkampf bestand und besteht für sie vor allem darin, die »unforced errors« zu vermeiden und mit einer Art Löschschaum alles, was von der SPD kommt, so lange einzuschäumen, bis es unter einem weißen Berg nicht mehr zu sehen ist.
Ansonsten heißt ihr Kontrahent nach Lage der Dinge weniger Frank-Walter Steinmeier, auch wenn der sich gut geschlagen hat im Fernsehduell. Ihre Gegner sind seit einem Jahr die Krise und der Zweifel in den eigenen Reihen. Sie hat einen »enemy within« und einen »enemy without«, einen inneren und einen äußeren Feind, wie es Margaret Thatcher einmal formuliert hat, die Eiserne Lady, mit der Merkel schon lange nicht mehr verglichen wird.
Merkels äußerer Feind ist die Weltkrise. Ihr innerer Feind ist ihre Partei, in der namhafte Leute bis heute Sätze zwischen den Zähnen hindurchzischen wie: »Helmut Kohl hat sich jedenfalls mehr um die Firma gekümmert.«
»Germania Tod in Berlin« heißt ein Stück des Dramatikers Heiner Müller, das vom Scheitern revolutionärer Aufstände in der deutschen Geschichte handelt. Germania - Kampf um Berlin heißt das Stück, das Angela Merkel in diesem Sommer aufführt, um ihre Wiederwahl zu sichern. Der Kampf gilt ihrem inneren und ihrem äußeren Feind. Sie muss in diesem Kampf klarmachen, warum sie Kanzlerin bleiben soll.
Wofür? Sie hatte vor, die Kanzlerin zu werden, die das Land zu einem ausgeglichenen Haushalt gebracht hat. Das Ziel ist perdu, schlimmer: Sie wird die Kanzlerin sein, die Deutschland in die tiefste Schuldenschlucht aller Zeiten führt. Generationen werden das abbezahlen müssen.
Die Finanzkrise, die sich zur Weltkrise auswachsen wird, ist lange Zeit nicht ihr Element. Sie wirkt wie ein Karpfen, den man in die Nordsee geworfen hat. Sie versteht wenig von den Zusammenhängen, und ihr naturwissenschaftlicher Verstand versagt ihr den Dienst bei dieser Materie.
Sie ist eine Versuchsanordnung wie im Labor gewohnt. Ändert man die Dosierung eines Bestandteils, kann man ahnen, wie sich das Ergebnis verändern wird. Genau das geht bei der Weltfinanz und ihrer Rückkoppelung mit der Realwirtschaft nicht. Das ist mehr Alchemie als Chemie.
Umstürze, ungeordnete Vorgänge, Revolutionen sind ihr ein Gräuel, damit fremdelt sie wie Goethe mit der Französischen Revolution. In Sopron in Ungarn steht sie an einem Mittwoch im August auf einem Rollrasen, der so gut eingeschwemmt ist, dass man darauf läuft, als wäre er aus Pudding. Genau hier hat vor 20 Jahren der ungarische Grenzoffizier Arpád Bella zugelassen, dass mehr als 600 DDR-Flüchtlinge durch ein altersschwaches Tor nach Österreich drängten.
Sie steht in einem weißen Zelt bei Bella und den Sobels und Kaisers und wie sie alle heißen, die sich damals aufgemacht haben, und sagt immer wieder diesen Satz: »Ich hatte den Mut damals nicht für das, was Sie gemacht haben.«
Sie hat die Sache aus der Ferne betrachtet. Sie wusste noch nicht, dass das, was da gerade passierte, dazu führen würde, dass sie Kanzlerin von Deutschland werden kann. Damals fragte sie sich, weshalb ihre Landsleute ihr Hab und Gut im Stich ließen und anrannten gegen eine Mauer, von der sich abzeichnete, dass sie bald fallen würde. Merkel wartete lieber ab, hatte am Ende auch die Freiheit, ohne persönliche Verluste.
»Ich bin nicht spontan mutig«, hat sie ihrer Biografin Evelyn Roll gestanden. »Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig«, sagte Merkel. »Aber ich brauche beachtliche Anlaufzeiten, und ich versuche, möglichst viel vorher zu bedenken. Spontan mutig bin ich nicht. Ich bin zu sehr kopfgesteuert.«
»Der ganze Shit«, wie sie die Folgen der geplatzten Blase an den Finanzmärkten manchmal in kleineren Runden nennt, ist so ein Umsturz, so eine Umwälzung, so eine Revolution, die mit einem Mal ihre Kanzlerschaft bedroht. Die Gefahr erwuchs aus den Geistern, die sie einst selbst gerufen hatte. Den »Ausbau des Verbriefungsmarktes« in Deutschland fordert ihr gültiger Koalitionsvertrag. Genau in solchen Briefen aber war der Shit fein säuberlich verpackt, der nun der Welt um die Ohren flog.
Als Oppositionsführerin wollte sie »den Markt für Private Equity fortentwickeln«. Heute ist sie gegen den Finanzinvestor Ripplewood als Käufer von Opel. Als Oppositionsführerin fand sie, der Staat lege die Finanzdienstleistungswirtschaft zu stark an die Leine. Heute sagt sie, die Banker hätten den Schlamassel angerichtet und segelten nun in ihren Yachten auf den Weltmeeren, während die Bürger blechen.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht solle »nicht nur als Regulierer und Aufseher«, sondern als »Partner der Finanzdienstleister« verstanden werden. Alles zitiert nach Bundestagsdrucksache 15/748 vom 1. April 2003. Gezeichnet Dr. Angela Merkel. Heute sagt sie, die BaFin müsse den Finanzjongleuren besser auf die Finger schauen. Die Krise und die Kanzlerin: Drei Jahre hat Merkel relativ komfortabel vor sich hin regiert, hat sich nicht viel vorgenommen, ihre Macht gesichert und es beim Notwendigsten belassen.
Was sie will, weiß man nicht so genau. Michael Naumann, der »Zeit«-Herausgeber, wollte es jüngst von einem wissen, der es wissen müsste. Er saß bei einem Festakt neben Helmut Kohl und fragte: »Herr Altbundeskanzler, was will Frau Merkel?« »Macht! Des is doch schon was!«, belehrte Kohl den »Sozzen«. Ältere Herrschaften in der CDU erinnern sich bei Merkel an einen Satz, den Wolfgang Schäuble auf eine ähnliche Frage einmal über Kohl sagte: »Er isch es halt so gern.«
Ist sie es halt so gern? Jedenfalls hat sie nichts getan, was ihre Kanzlerschaft bedroht hätte. Drei Jahre hat sie sich versteckt, hinter Zwängen, hinter der SPD, hinter weiß Gott was, hat moderiert, taktiert, laviert. Dann kam die Krise, und sie musste handeln.
Die Chronik einer Kanzlerin im Kampf mit der Krise und ihrer Partei. Und im Kampf um ihr Amt, was letztlich alles auf das Gleiche hinausläuft.
Am 1. Dezember 2008, beim CDU-Parteitag in Stuttgart, ist sie noch nicht so weit. Da hat sie noch keinen Bezug zu der neuen Situation gefunden. Sie fremdelt, sie ist verunsichert, sie stochert, sie tastet, aber sie darf sich das jetzt nicht anmerken lassen. Sie hatte vorher eine Regierungserklärung zur Finanzkrise im Bundestag abgegeben, mit brüchiger Stimme und magerem Inhalt. Wer das hörte, fühlte sich nicht gut aufgehoben.
In der Messehalle von Stuttgart, einer kalten, riesigen Halle, sitzt ihr der innere Feind tausendköpfig gegenüber, und sie erklärt ihm, wie sie gedenkt, den äußeren zu bekämpfen. Merkel steht auf einer riesigen, 30 Meter breiten Bühne vor einer kühlen blauen Wand, das Präsidium schrumpft zu Zwergen. Es ist eine seltsam rückwärts gewandte Rede. »Unsere Bilanz ist eindrucksvoll«, sagt sie, aber keiner jubelt, als sie zu sagen wagt: »Der Aufschwung der letzten Jahre wurde genutzt, um einem ausgeglichenen Haushalt sehr, sehr nahe zu kommen.« Sie preist die Tugenden der schwäbischen Hausfrau, die das Geld zusammenhält.
Kein Beifall, Merkel wirkt mit einem Mal sehr allein da oben auf ihrer riesigen Bühne. Es ist kühl in der Halle, und es wird immer kühler. Die Delegierten scheinen noch ein Stück mehr von der gigantischen Bühne wegzurücken und diesen großen Graben noch größer werden zu lassen. »Sehr, sehr nahe kommen« - davon kann man sich nichts kaufen: Knapp daneben ist auch vorbei. Der Saal ahnt, dass man von einem ausgeglichenen Haushalt bald sehr, sehr weit entfernt sein wird. Von wegen schwäbische Hausfrau.
Friedrich Merz tritt auf, ihr alter Widersacher. In der Woche zuvor hatte er ihr vorgehalten, dass man dabei sei, »den Zug zum Handeln zu verpassen«, ein schiefes Bild, aber alle wissen, was gemeint ist. Und vor allem, wer.
Merz merkt an, dass der Haushalt bei etwas mehr Willen bereits hätte saniert sein können - vor der Krise. Diesen Willen hätte Merkel aufbringen müssen. Der Saal geht voll mit bei Merz. Hinterher steht er vorn an der Kante der riesigen Bühne, und ein Journalist versucht ihn zu ermuntern, in einem Interview seine Kritik zu wiederholen. Merz schielt zur Bühne. Er wimmelt den Mann ab, er solle aufhören: »Sie beobachtet uns schon.«
Dann ist Weihnachten und Neujahr. In der Neujahrsansprache sagt Merkel einen seltsamen Satz: »Wenn sich auch im kommenden Jahr jeder an seiner Stelle für etwas einsetzt, das für ihn in diesem Land besonders lebens- und liebenswert ist, dann wird es uns allen noch besser gehen.«
Immer noch kein Gespür für die Krise. In den Wochen vor und nach Weihnachten geht Merkel durch die härteste Zeit ihres politischen Lebens. Sie hat bislang keinen Plan, den sie ihrem Volk präsentieren kann, keinen deutschen Weg durch die Krise, und in den Videokonferenzen und auch öffentlich machen ihre Kollegen Gordon Brown und Nicolas Sarkozy mächtigen Druck.
Das angelsächsische Modell, monströs gescheitert, gibt immer noch den Ton an. Vom Markt wurde zu Merkels Entsetzen wie von einem Menschen gesprochen. Der Markt will dies, der Markt fordert das, der Markt reagiert gereizt. Sie hasste diese Sprache und das Diktat dieses seltsamen Finanzmarktes, auf dessen Regungen alle gebannt blickten.
Im Präsidium der CDU lassen die meisten Ministerpräsidenten sie strampeln und rühren keinen Finger für sie und ihre Bemühungen, ein Konjunkturpaket und ein Bankenprogramm aufzulegen. Sie erlebt abermals, wie allein sie in dieser Partei in Wahrheit ist. Und Erfolg deshalb ihre einzige Lebensversicherung.
Unendlich viel Häme muss sie in dieser Zeit über sich ergehen lassen. Brown versucht sie in den Videoschalten in seine Idee der Mehrwertsteuersenkung hineinzuzwingen. Und die eigene Partei will wie ein kleines Kind ein Eis: Steuersenkungen auf breiter Front, aber Geld für ein Eis ist jetzt nicht da.
Montagmorgen, der 26. Januar, in der Lobby des Kanzleramts. Es hat sich etwas getan. Die Fotografen sehen das durch ihre Objektive als Erste. »Sie schaut wieder in die Kamera«, sagt einer am Rande der Szene. »Es geht los.«
90 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, man muss die Feste nur feiern wollen. Das Feminat hat parteiübergreifend Platz genommen auf den Treppenstufen des Kanzleramts, als Angela Merkel, flankiert von Ursula von der Leyen und Alice Schwarzer, herannaht. Hildegard Hamm-Brücher, die einstige Grande Dame der FDP, sitzt mit vorn in der Ehrenreihe, und Silvana Koch-Mehrin posiert, als wäre dies nicht das Kanzleramt, sondern eine Folge von »Germany's Next Topmodel«.
Merkel giggelt und schwatzt ohne Unterlass, patscht ihr unnachahmliches Klatschen. Etwa, als Brigitte Zypries gefragt wird, ob es denn nun unter dem Patriarchen Schröder oder Frau Merkel besser sei zu arbeiten. Letztlich, sagt Zypries, sei es egal, ob der Vorgesetzte ein Mann oder eine Frau sei. Wichtig sei, »dass man möglichst wenig Vorgesetzte hat«. Der Satz gefällt Merkel gut. Sie patscht, was ihre kleinen Hände hergeben. Sie arbeitet daran, weiterhin keine Vorgesetzten zu haben.
Am nächsten Tag, dem 27. Januar, wird Angela Merkel das größte Konjunkturpaket in der Geschichte der Bundesrepublik auflegen, das Land dafür in immense Schulden stürzen, den Zweck ihrer bisherigen Amtszeit, einen ausgeglichenen Haushalt bis 2011 vorzubereiten, der Krise opfern. 50 Milliarden Euro als Konjunkturpaket, 100 Milliarden an Bürgschaften für Unternehmen, 480 Milliarden für marode Banken.
Spätestens das ist das Ende der schwäbischen Hausfrau Angela Merkel.
Um 13 Uhr geht sie vor der blauen Wand im Kanzleramt an die Presse. Es war lange hin und her überlegt worden, ob sie das hier macht oder drüben im Reichstag auf dem Weg in die Fraktion, aber der Schutzraum des Amtes wurde für besser erachtet. Merkel gibt nur ein Statement ab. Sie trägt einen mattschwarzen Hosenanzug und hat ihre ausdruckslose Miene aufgesetzt. Nur wenige Politiker können eine so ausdruckslose Miene aufsetzen wie Angela Merkel.
Ein Paket sei das, sagt sie, »wie es das so in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat«. In Superlativen geht es weiter, sie wisse, es sei »die schwerste innenpolitische Entscheidung, die ich in meiner Amtszeit zu treffen hatte«. Und plötzlich, das ist neu, muss alles ganz schnell gehen: »Denn wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sieh an. Bisher wollte sich Merkel in keinen Wettlauf begeben. Bis zu diesem Tag hatte sie die Zeit, auf den Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten zu warten. Zwischen den merkelschen Haltungen liegen Welten, aber nur sieben Tage.
Das war die »beachtliche« Zeit, die sie brauchte, wie damals als Kind auf dem Drei-Meter-Brett, als sie eine Dreiviertelstunde wartete, bevor sie sprang.
»Als ich innerlich akzeptiert hatte, dass es um unendlich viele Milliarden geht«, wird sie Ende August beim abschließenden Gespräch im Kanzleramt sagen, »da war mit einem Mal alles ganz klar in meinem Kopf.«
In dieser Zeit bekam Merkel ein Gespür für die Krise. Sie begann, es mit ihrem äußeren Feind aufzunehmen. Sie hatte länger gewartet als andere, länger als die Flüchtlinge, die eine schon poröse DDR verlassen hatten, länger als ihre europäischen Kollegen, die schon handelten, während sie noch nachdachte.
Doch ihr innerer Feind stand ihr durch das, was sie tat, noch unversöhnlicher gegenüber.
Angela Merkel ist das Fräulein Smilla der Macht. Das Fräulein Smilla der Macht hat ein sehr feines Gespür dafür, wo die Gefahr wohnt. Die Gefahr wohnt in der Politik immer da, wo die Freunde sitzen. Merkel hat in den bald vier Jahren ihrer Kanzlerschaft fast nie eine Fraktionssitzung verpasst. Sie hat bei Helmut Kohl erlebt, wie es war, wenn er einmal eine Fraktionssitzung früher verlassen musste und dann unter dem Tagesordnungspunkt Verschiedenes der Aufstand geprobt wurde.
Damals hat sie sich geschworen: immer da sein, nie fehlen. Zum Festakt der Unionsfraktion im Bonner Bundestag wird Merkel im August eine Rede halten und behaupten, sie habe »tiefes Vertrauen« in die Fraktion. Das ist eine dem Festtag geschuldete Lüge. Tiefes Misstrauen trifft es besser.
Es wird hart zugehen in der Fraktionssitzung an diesem Dienstag. 15 Haushälter verweigern Merkel die Gefolgschaft und stimmen dem Konjunkturpaket nicht zu. Sie sagt wieder und wieder, dass sie sich auch etwas anderes gewünscht hätte als das, wie es nun gekommen sei. Opel, Arcandor, Schaeffler. Sie wisse genau, was Verstaatlichung heiße. »Sie kommt aus dem Sozialismus und führt uns in den Sozialismus«, zischt einer aus der Fraktion. Das »Gift des Zweifels«, wie es jemand aus Merkels Zirkel formuliert, hat sich tief hineingefressen in die eigenen Reihen.
Der Fraktionschef greift ein und verhindert, dass sich das Gift des Zweifels ausbreitet. »Das war schwierig«, raunt sie hinterher jemandem ironisch zu. »Es gibt Momente, da brauch ich die ganze Wucht der Autorität des Volker Kauder.«
Ihren Leuten macht sie in diesen Tagen klar, dass man jeden Tag in diesem Amt als Geschenk betrachten müsse. Die Presselage wird harscher. Die »Zeit« fragt: »Versagt Angela Merkel?« »Im Moment sieht es so aus.« Das Stück löst Alarm im Kanzleramt aus.
Es erscheint noch ein Artikel, ein kluger Leitartikel in der »FAZ«, über den sich die Morgenlage an Merkels Arbeitstisch aufregt. »Was fehlt: Die Erklärkanzlerin«. Der Autor schreibt, es könne sein, dass von Merkels Amtszeit nichts bleibe als der Satz, die Sparkonten der Deutschen seien sicher.
Merkel reagiert scheinbar unbekümmert auf die besorgten Hinweise ihrer Entourage. Was denn, brummt sie. »Det war ja ooch der wichtigste!«
Merkel macht, was Kanzler immer machen, wenn sie in dieser Lage sind. Sie geht in die Medien. Erst großes Interview in »Bild«, dann allein bei Anne Will. Schröder nannte das »'Bild', 'BamS', Glotze«.
Bei Anne Will kann man studieren, wie Merkel über die Medien hinweg den Bogen zu den Menschen schlägt. Ob sie der Krise gewachsen sei, fragt Will. »Ooch ja«, sagt Merkel, »glaub schon.«
Von da an fragt Will nicht nur gegen die Kanzlerin, sondern gegen den ganzen Saal an. Es gibt Solidaritätsbeifall bei jeder noch so nichtssagenden Antwort Merkels. Hinterher sind sie erleichtert im Kanzleramt. Es passiert etwas zwischen Volk und Kanzlerin. Merkel stellt einen direkten Kontakt her, sie baut eine Brücke über die Medien hinweg. Wenn das stattfindet, dann kann sich sogar das Gemäkel des Berliner Kommentariats als Vorteil erweisen. Dann stellen sich die Leute hinter die Angegriffene.
Sie ist jetzt Volkskanzlerin, nicht Kanzlerparteichefin. Sie ist die Kümmerin, die Mutter vons Janze, die Königin von Deutschland, Germania eben. Wie sie von der SPD redet: Da ist keine Häme herauszuhören, kein Triumph, eher Fürsorge und der analytische Blick dafür, was eine schwache SPD fürs Land bedeutet. Die Glucke Merkel nimmt auch noch das Küken SPD unter ihre Fittiche. Auch weil sie vielleicht ahnt, dass ihrer Volkspartei noch bevorstehen könnte, was die SPD schon erleidet.
Den äußeren Feind bekämpft sie mit einem neuen äußeren Freund. Der Franzose Nicolas Sarkozy und sie haben sich nicht gleich gefunden. Sarkozy hatte Späße auf ihre Kosten gemacht, und Helmut Schmidt rüffelte Merkel bei einem Bankett im Schloss Bellevue über den Tisch hinweg für das schlechte Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland unter ihrer Kanzlerschaft. Gerhard Schröder, der mit am Tisch saß, konnte nicht so viel Rotwein trinken, wie er sich freute.
Es ist Mittwoch, der 1. April im Ballroom des Londoner Berkeley Hotel, als Merkel und Sarkozy sich verbünden. Noch keine drei Stunden auf britischem Boden, haben die beiden eine Pressekonferenz anberaumt, um sich die angelsächsische Glitzerwelt der Spekulation und des Banking als Hütchenspiel zur Brust zu nehmen, in Sichtweite zu den Bankentürmen der Londoner City.
Merkel spricht eine Sprache, die nicht die ihre ist. Dieser Gipfel - »ich halte ihn für einen entscheidenden Gipfel für die Zukunft der Welt«. Sie macht eine Pause, als staune sie selbst dem ungläubig hinterher, was sie eben gesagt hat. »Das hört sich groß an«, sagt sie, »aber das ist es auch.«
Sonst ist es immer umgekehrt. Sonst hören sich die Dinge bei ihr immer klein an und sind in Wahrheit groß. Sie ist die Runterdimmerin. Jetzt reißt sie die Regler auf.
Während Peer Steinbrück auf dem Rückflug im Flugzeug noch davon schwärmt, wie toll das war mit Merkel in London, lässt Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier in Berlin eine Presseerklärung zu den Ergebnissen von London verbreiten. Die seien nicht schlecht, müssten aber erst noch umgesetzt werden, nörgelt der Kandidat. Als Chefin von Kandidat und Finanzminister, das lehren sie diese Tage, kann sie ihren Widersacher mit dessen eigenen Parteifreunden neutralisieren.
Tags drauf sitzt der Herausforderer mit der Amtsinhaberin in der Regierungsmaschine nach Baden-Baden. Nato-Gipfel an der deutsch-französischen Grenze. Die kleine badische Seniorenresidenz platzt fast vor plötzlicher Bedeutung. Über den Dächern wummert der Rotor eines amerikanischen Militärhubschraubers, der zum Landeanflug ansetzt. Auf den Dächern und in den Fenstern haben sich Scharfschützen postiert, schwarze amerikanische Vans mit verdunkelten Scheiben rasen vor und bremsen scharf.
Merkel steigt aus dem Auto aus und schlüpft unter einem rot-weißen Absperrband durch, um die ihr entgegengestreckten Hände zu schütteln. Sie wird in Baden-Baden begrüßt wie eine Herrscherin aus früheren Zeiten, wie eine Monarchin.
In vielerlei Hinsicht ähnelt Merkel der englischen Königin Elizabeth I. Die wurde von ihrem Volk respektvoll gemocht. Sie verfügte über Autorität ohne Pomp. Sie war für ihre abwartende Politik berühmtberüchtigt. Sie hat früh und schmerzhaft Kontrolle über ihre Gefühle gelernt, sie war nicht katholisch und kinderlos. Sie wurde Königin - wider alle Wahrscheinlichkeit.
Distanziert, kontrolliert. In Baden-Baden vor dem Rathaus ist Merkel für einen Moment die Kanzler-Königin zum Anfassen. Sie hat sich nicht verschlissen. Sie ist eine Fremde geblieben, eine Ferne, aber genau darin liegt die Faszination.
Steinmeier muss sich derweil auf dem Marktplatz in einer Reihe mit Hillary Clinton aufstellen, die Merkel und Barack Obama hinterher zum Händeschütteln abschreiten. Steinmeier hat bisweilen einen Flunsch, der so aussieht wie der von Merkel, jetzt hängt der Flunsch noch tiefer. Er ist die Hillary Clinton von Angela Merkel.
Die Gefahr kommt jetzt aus einer anderen Richtung, vom »enemy within«.
Ende Februar geht in der Eisenbahnstraße 64 in Freiburg im Breisgau ein Brief ein, der wenig später in der ganzen Republik gelesen wird. Dem CDU-Kreisvorsitzenden teilt der Autor mit, dass er nach 37 Jahren Mitgliedschaft seinen Austritt aus der Partei erkläre. Dazu führten erstens die »Profillosigkeit und das Lavieren der Vorsitzenden« sowie die »Nichtbeachtung der Beschlüsse des Leipziger Parteitages«. »Unerträglich« findet der Absender den Umgang der Parteivorsitzenden mit verdienten Persönlichkeiten der CDU. »Das leitende Prinzip« sei jedes Mal »Populismus und die Stabilisierung ihrer eigenen Machtposition« gewesen. Mit der Abtreibungsbefürworterin Alice Schwarzer aber zeige sie sich traut in der Öffentlichkeit
Keiner hat es bisher gewagt, Merkel so brutal zu kritisieren. Der Brief des einstigen CDU-Ministerpräsidenten Werner Münch, das ist die reine und klare Stimme ihres inneren Feindes.
Bei der Kommunalwahl am 7. Juni stürzt die CDU in Freiburg um über fünf Prozentpunkte auf 20,7 Prozent. Das ist das schlechteste Wahlergebnis, das die CDU in der Bischofsstadt je erzielt hat. Acht Prozentpunkte Verlust im Schnitt bundesweit in der katholischen Wählerschaft hat die Union bei der Europawahl am 7. Juni zu verschmerzen. Der 3. Februar wirkt nach.
Am 3. Februar begeht Angela Merkel den wahrscheinlich größten politischen Fehler - jedenfalls gegenüber ihrer Partei. Es ist kein Flüchtigkeitsfehler, sondern ein Fehler mit festem Vorsatz. Als sie mit ihrem Besucher, dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, vor die blaue Fernsehwand tritt, weiß sie schon, was passieren wird. Bei Werner Münch in Freiburg wird dieser Tag »das Fass zum Überlaufen« bringen.
Der Papst hatte vier exkommunizierte Bischöfe der Piusbruderschaft rehabilitiert, darunter auch einen Holocaust-Leugner. »Dazu werde ich etwas sagen müssen«, hatte Merkel ihren Leuten prophezeit. Die Regierungssprecher waren mehrere Tage mit Sprachregelungen für die Bundespressekonferenz versorgt worden. Über eine eigene Pressekonferenz hatte Merkel nachgedacht. Aber dann wird als »letzter Slot« vor der nächsten Generalaudienz des Vatikans die Pressekonferenz mit Nasarbajew gewählt.
»Wie bewerten Sie die Konsequenzen der personellen Entscheidungen des Papstes und der Diskussion in Europa, vor allem aber in Deutschland?«, wird sie gefragt.
Es ist eine bestellte Frage. Merkel hat sich die Antwort zurechtgelegt. Es sei eine »Grundsatzfrage, wenn durch eine Entscheidung des Vatikans der Eindruck entsteht, dass es die Leugnung des Holocaust geben könnte, dass es um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit dem Judentum insgesamt geht. Deshalb darf das nicht ohne Folgen im Raum stehen bleiben«.
Dieser wurmlange Satz wird als »Papstkritik« in die Geschichte eingehen. Es ist nicht erinnerlich, wann ein Regierungschef des christlichen Abendlandes zuletzt einen Papst so kritisiert hätte. Wer den Holocaust relativiert, wird attackiert, sei er Hinterbänkler im Bundestag oder Stellvertreter Christi auf Erden. »Ich als Bundeskanzlerin«, so hat sie ihren Leuten in einer internen Runde gesagt, »kann mir nicht aussuchen, wann ich etwas sagen muss. Ich habe gewartet, mehrere Tage lang. Aber es ist nichts passiert in Rom.« Sie würde es wieder tun, sagen ihre Leute.
Eine deutsche Pflicht? Oder sind bei diesem ins Überirdische reichenden Kampf sehr irdische Mächte im Spiel? Man hat diese Frage an einen hochmögenden Publizisten des Axel-Springer-Verlags noch nicht zu Ende gestellt, da fällt der Mann ins Wort und sagt:
»Friede Springer, na klar.«
Am Tag, als Merkel den Papst rüffelt, hat Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner den Kommentar in »Bild« geschrieben. Der Papst füge »Deutschland in der Welt großen Schaden zu«, schreibt der Mann, dessen »Bild« Ratzinger mit der Zeile »Wir sind Papst!« begrüßt hatte.
Der Verlag ist Merkels Schutzpatron und Friede Springer eine wichtige Verbündete. Sie knabberte Kekse aus der Tupperschale, oben bei den Merkel-Mädels auf der Besuchertribüne, als die Kanzlerin ihren Eid schwor. Friede Springer, Mathias Döpfner, Kai Diekmann saßen mit am Tisch, als Merkel für Josef Ackermann ein Geburtstagsessen gab. Als Merkel Ende Juli für eine Signierstunde nach Sylt flog, schaute sie noch bei Frau Springer vorbei.
Vom Schaumburger Hof in Bad Godesberg hat man einen schönen Blick auf das Siebengebirge und den Petersberg über dem Rhein, der geruhsam sein Wasser führt, erstaunlich klares Wasser verglichen mit früher übrigens, als es die rheinische Republik noch gab.
Martin Lohmann hat das Lokal vorgeschlagen. Hier hat der Parlamentarische Rat getagt, dem Konrad Adenauer vorsaß.
Lohmann ist Katholik, Journalist und unbequemes CDU-Mitglied. Er hat ein Foto von sich, seiner Familie und dem Papst in seinem iPhone. Manchmal schreibt er auch Kommentare in »Bild«. Er hat ein Buch veröffentlicht. »Das Kreuz mit dem C - wie christlich ist die Union?« Darin geht es um das C, es geht aber auch um Angela Merkel, die Lohmann eine Ich-AG nennt, »die beste Ich-AG«, die er kenne, und eine, die die CDU in ihrem Wesenskern bedrohe.
Seine erste Begegnung mit Angela Merkel liegt 20 Jahre zurück, als Lohmann im »Rheinischen Merkur« einen katholischen Arbeitskreis in der CDU forderte. Merkel rief bei ihm an. »Ich möchte Sie kennenlernen.« Sie trafen sich noch am selben Tag in Merkels Büro. Aber zusammen kamen sie nicht, der rheinische Katholik und die Protestantin aus dem Osten. Lohmann hat ihr sein Buch ins Kanzleramt gebracht. »Der CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in kritischer Loyalität und christlicher Verbundenheit zugeeignet« hat er reingeschrieben. Ein Gespräch wollte sie nicht.
Sie gehe mit Kritik nicht souverän um, sei »eine eiskalte Rechnerin«, verfüge über eine grenzenlose Anpassungsfähigkeit und agiere im »Überzeugungs-Nirwana«, sagt Lohmann. Sie sei der perfektere Schröder.
In der Katholischen Akademie Bayern, da habe sie »geredet wie hundert Bischöfe zusammen nicht«. Aber er glaubt ihr nicht. Denn selbst wenn sie so rede: Sie handele nicht so. Mit ihrer Kritik am Papst habe sie sich verschätzt. Sie hoffte auf wohlfeilen Beifall und habe unter katholischen CDU-Anhängern einen enormen Schaden angerichtet. Er kenne viele Bischöfe, die sagen: Ich habe immer CDU gewählt. Ich werde es nicht mehr tun.
Sie denke nicht über den »letzten Tag Merkel« hinaus. Der letzte Tag Merkel ist für Lohmann der Tag, an dem sie das Kanzleramt verlässt und die CDU in Trümmern liegt.
Merkel sagt: »Ich weiß, dass ich der CDU einiges zumute.« Aber es gebe einen fundamentalen Unterschied zu Schröder und der SPD. »Herr Schröder hat sich nicht mehr umgedreht und geschaut, ob die Menschen ihm noch folgen können. Ich versuche sie dagegen zu überzeugen.«
Bei Lohmann klappt das nicht so. Ohne große Leidenschaft geht er am späten Nachmittag mit zu Merkels Wahlkampfauftritt auf dem Bonner Marktplatz. Als Merkel von Jürgen Rüttgers in Empfang genommen wird, steht Martin Lohmann, den Rüttgers unbeirrt »Manni« nennt, dabei. Merkel und Lohmann geben sich die Hand, freundlich. Nach der Rede sagt er bitter, sie habe wieder kein Wort zum C gesagt. Aber sie sei wieder sehr »situationsecht« gewesen.
Situationsecht. Kein schlechter Begriff.
Wahlkampf in Binz auf Rügen. Donnerwetter, kann das regnen in Merkels Wahlkreis. Vor dem Kurhaus hat sich ein Regenschirmgebirge gebildet, in Kaskaden stürzt das Wasser von den Rändern der oberen Schirme auf die darunter liegenden. Es ist alles grau. Wie flüssiges Blei rollt die Ostsee an den Strand. Die Atomkraftgegner machen Stimmung auf dem Platz, während Merkel redet. Sie weicht von ihrem Standardtext ab und sagt, die Union sei für Atomkraft, »aber sicher nicht für alle Zeiten«. Brückentechnologie nennt sie die Kernenergie, für deren Verlängerung sie sonst kämpft. Merkel ist elastisch wie ein Expander.
»Situationsecht« würde Martin Lohmann das nennen. Sie selbst nennt das anders. Sie nennt das »Agieren in einem Kraftfeld, das immer relativ ist«.
Es ist Mittwoch, der 26. August, noch 32 Tage bis zur Bundestagswahl. Die Kabinettssitzung fällt aus, was Zeit gibt für ein Gespräch in ihrem Amtszimmer.
Merkel kommt die Treppe in den siebten Stock allein heraufgelaufen. »Lassen Sie uns schon mal anfangen. Herr Wilhelm kommt später dazu.«
Ein Gespräch ohne den Regierungssprecher, ohne Aufpasser. Das ist nicht die gleiche Frau wie jene, die vor vier Jahren Kanzlerin werden wollte. Wer sie da traf, traf auf ein Nervenbündel, das über den Tisch hinweg die Fragen versuchte zu lesen, die auf sie zukommen würden. Sie ist gedrungener geworden, der Kopf verschwand zunehmend zwischen ihren Schultern. Sie zog sich physisch in sich zurück.
Jetzt lehnt sie sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Sie öffnet sich, ist erstaunlich nahbar, sie geht aus sich heraus. Sie ist eine wache Gesprächspartnerin, die auf die Fragen eingeht. Wenn sie nachdenken muss bei der Antwort und nach Formulierungen sucht, formen ihre Hände runde, weiche Gebilde in die Luft. Manchmal spitzt sie den Mund und züngelt ein bisschen, wenn sie nach Worten sucht.
Ihren Fingernägeln geht es besser als vor vier Jahren. Sie kann froh sein, dass es ihr nicht erging wie Gordon Brown. In der Hochzeit der Krise hatte der »Guardian« Großaufnahmen seiner Hände gezeigt. Zu sehen waren abgebissene Fingernägel. Sind wir in diesen Händen gut aufgehoben? Das hießen diese Bilder.
Zurück zu Merkels Relativitätstheorie in der Politik. Damals, als sie für Freiheit auf den Finanzmärkten war, da sei das relative Kraftfeld ein anderes gewesen als heute. Rot-Grün hatte die Märkte in Deutschland liberalisiert. Die Wall Street in New York, die City in London, das war hip, und wie es in der Mode schwer ist, einen Minirock zu tragen, wenn alle in langen Röcken herumlaufen, so ist das offenbar auch bei Finanzdingen.
Sie lag falsch, jawohl. Aber sie nimmt jedenfalls für sich in Anspruch, schon 2006 umgesteuert zu haben. Sie hat gelernt, weniger relativ zu sein.
Sonntag, 30. August. Am Tag der drei Landtagswahlen und der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen sitzt Merkel auf der Bühne des Thalia Theaters in Hamburg. »Zeit«-Matinee.
Die beiden journalistischen Herausforderer von Angela Merkel, Josef Joffe und Michael Naumann, von Natur aus mit hinreichend Selbstwertgefühl ausgestattet, müssen an diesem Vormittag erfahren, was es zurzeit heißt, es mit Merkel aufnehmen zu wollen. Man muss unwillkürlich an den Satz von Michael Glos denken, der gesagt hat, dass Merkel wie kein Jägersmann auf der Welt darum wisse, dass man Auerhähne am besten auf dem Balzplatz schieße.
Das Publikum pfeift, es pfeift mehrfach, wenn Naumann und Joffe versuchen, Merkel aus der Reserve zu locken. Die beiden erleben das gleiche Problem, das auch Anne Will zu spüren bekam.
Merkel strahlt Selbstsicherheit aus. Die brüchige Stimme von der ersten Regierungserklärung zur Krise - weg. Pampige Antworten auf missliebige Fragen - weg. Es gelingt ihr alles, sogar die Pointen. Und das ist nun wirklich neu.
Am Anfang sagen die beiden, sie sei ja eine Hamburgerin, was sie denn mit Hamburg verbinde. Merkel sagt »Na ja« und macht eine Pause. »Die Erinnerungen an meine ersten sechs Lebenswochen halten sich in Grenzen.«
Gegen Ende des Gesprächs. Joffe drückt aufs Tempo, »denn Sie müssen ja weg!«. 90 Minuten seien angesetzt worden, sagt Merkel ungerührt, »das ist das Format, nicht meine Vorgabe«. »Für die Bundeskanzlerin hätten wir verlängert«, sagt Joffe. »Wie bei einem Fußballspiel«, ergänzt Naumann. »Na ja«, sagt Merkel. »Es steht ja hier nicht unentschieden.«
»Glaub nich«, entfährt es Joffe in seltener Demut.
Am Dienstag, dem 8. September, hält Merkel eine Regierungserklärung zu Afghanistan. Es lief nicht gut für sie die vergangenen Tage. Es gab unnötige Fehler der eigenen Leute. Jürgen Rüttgers rüpelte gegen Rumänen, Dieter Althaus irrlichterte zurückgetreten durch Thüringen. Und in Afghanistan ließ ein deutscher Oberst zwei entführte Tanklastzüge bombardieren.
Die CDU, sie hebt einfach nicht ab, wie ein fetter Vogel mit zu kurzen Flügeln. Es gibt keine Wechselstimmung im Land, aber auch keine Welle, die Merkel haushoch wieder ins Kanzleramt trüge. Das Fernsehduell hat Merkel nicht genutzt.
Georg Brunnhuber hat sich bei seiner letzten Sitzung im Bundestag von einem Kollegen mit der Kanzlerin fotografieren lassen. Der Chef der baden-württembergischen Landesgruppe kommt nach der Wahl nicht wieder. Er kennt das Problem Merkels mit ihrem inneren Feind. »Schorsch«, hat sie ihn gefragt, als sie Kanzlerkandidatin war, »wird das gehen?« Sie sei doch gar nicht konservativ genug.
»Ach lass mal«, sagte Brunnhuber, »konservativ sind wir alleine.«
Das war der Plan. Brunnhuber und all die anderen Konservativen plus die moderne Merkel. Simple Addition, Ausweitung der Kampfzone.
Und auch jetzt noch, im Bundestagsrestaurant, sagt Brunnhuber, wie richtig das alles war. Allerdings, fügt er hinzu, sei die Bundestagswahl schon ein »Prüfstein«, auf den man schauen werde.
Das klingt mit einem Mal gar nicht mehr gütig, sondern recht kühl. Das ist das Kleingedruckte im Vertrag zwischen Angela Merkel und ihrer CDU.
So geht Angela Merkel in die letzten Tage vor der Bundestagswahl. Sie hat die Krise, ihren äußeren Feind, in den Griff bekommen. Abwrackprämie, Kurzarbeit, die Welt macht ihre Politik nach, während Gordon Brown, der Hämische, mit seiner eiligen Mehrwertsteuersenkung, die er ihr aufschwatzen wollte, auf die Nase gefallen ist. Der »Economist«, Zentralorgan des angelsächsischen Modells, konzediert, dass Deutschland und Frankreich schneller aus der Krise kommen als die USA und Großbritannien.
Aber ihr innerer Feind lauert mehr denn je. Er taxiert und wird am 27. September registrieren, ob sie liefert, ob sie all das Leid wert war, das sie der Partei zugefügt hat. Am 27. September wird abgerechnet.
Sie hat einen Vorschuss bekommen und 2005 schon nicht zurückgezahlt. Jetzt muss sie liefern. Liefern, das heißt: Schwarz-Gelb erreichen. Liefern, das heißt: 37, 38 Prozent. Das ist der tiefere Grund, weshalb Merkel das Bündnis mit den Liberalen preist.
Parteien sind gnadenlos. Sie vergeben die Macht wie einen Kredit, und sie nehmen sie auch wieder. Die SPD hat Schröder in seiner zweiten Amtszeit nach der verhassten Agenda den Parteivorsitz wieder weggenommen. Es war der Anfang von seinem Ende als Kanzler.
Gut möglich, dass Merkel nach dem 27. September Bundeskanzlerin bleibt. Aber Kanzlerin wovon? Kanzlerin einer Großen Koalition wäre der Anfang von ihrem Ende.