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Titel Geschäft mit der Hoffnung

Viele hunderttausend Paare bleiben in Deutschland ungewollt kinderlos - und es werden immer mehr. Die verhinderten Mütter und Väter fühlen sich von den Nachbarn mitleidig beäugt, von den Ärzten ausgenommen und von der Politik im Stich gelassen.
Von Ulrike Demmer und Udo Ludwig
aus DER SPIEGEL 22/2008

An das erste Mal kann sich Sabine Steinkamp noch genau erinnern. Es war Valentinstag, ausgerechnet, und ihr Bauch angeschwollen von den Hormonspritzen. In der Arztpraxis saßen nur Paare, stumm, die Männer meistens hinter Zeitungen verschanzt.

»Jetzt müssen Sie es nur noch behalten«, hatte der Arzt ihr nach der Behandlung selbstzufrieden gesagt. Wie wütend sie das gemacht hatte, als hätte sie nicht längst alles dafür getan.

Am schlimmsten aber waren die beiden Wochen, in denen das Warten endlos schien. Das Warten nach der künstlichen Befruchtung. Und dann kam sie doch, die Periode. Niederschmetternd. Trotz aller ärztlichen Kunst war sie nicht schwanger geworden.

Sabine Steinkamp, 33, kauert mit angezogenen Beinen auf dem Sofa in ihrer Wohnung in Hamm, Westfalen. Vor dem Bauch hält sie ein Kissen umklammert, als müsste sie sich und ihren Unterleib vor der Welt beschützen. »Man kommt sich so defekt vor«, sagt die Fremdsprachensekretärin, »wie ein Versager.«

Im Sessel gegenüber sitzt ihr Mann und versucht ein Lächeln. Seine Augen suchen ihre. Das macht es ihr leichter, wenn es auch nichts besser macht. Er fühle sich hilflos, »irgendwie ohnmächtig«, sagt Heiner Steinkamp, 44. Es ist die Prüfung ihrer Ehe, die Last ihres Lebens, und manchmal fürchten sie, dass sie daran kaputtgehen werden. Seit acht Jahren wünscht sich das Paar verzweifelt ein Kind.

Heiner und Sabine Steinkamp können nicht sagen, wann es anfing, wann der Wunsch zum Problem wurde. Es gibt keinen Tag, keinen Moment, den sie mit einer Schreckensmeldung verbinden. Irgendwann nach Monaten schlichen sie sich ein: die Zweifel, dass da irgendetwas nicht stimmen könnte bei ihnen.

Als Sabine vor acht Jahren die Pille absetzte, war sie 25, Heiner 36 Jahre alt. Beide waren schlank, sportlich, Nichtraucher und im besten Alter, um Nachwuchs zu zeugen.

Es gab keine Ahnung, kein Gefühl, das sie vorbereitet hätte auf das, was jetzt auf dem Couchtisch zwischen ihnen liegt: ein dicker grauer Aktenordner. »Arztberichte« steht auf dem Rücken geschrieben.

Sabine hat den Ordner nach den ersten Arztbesuchen angelegt. Da hatten sie schon zwei Jahre versucht, ein Kind zu zeugen. Ganz unten, als Erstes abgeheftet, liegen Bilder von Sabines Unterleib, die Untersuchungsergebnisse der Bauchspiegelung.

Die dunklen Schatten auf den Bildern, das sind Wucherungen an ihrer Gebärmutter, erklärt die junge Frau im nüchternen Ton einer Expertin. Nicht ideal, aber auch nichts, was eine Schwangerschaft ausschließen würde. Dann zeigt sie auf blaue Schlieren, die sich durch rosarotes Gewebe ziehen. Ein gutes Zeichen, Kontrastmittel, das ungehindert fließen kann. »Daran erkennt man, dass die Eileiter durchlässig sind«, sagt sie.

An Heiners Spermien hatte der Urologe gar nichts auszusetzen. Die Steinkamps sind fruchtbar, stellten die Ärzte damals fest. Nach zwei Jahren vergeblicher Versuche sollten sie es trotzdem mal mit einer künstlichen Befruchtung versuchen, riet ein Gynäkologe.

Also begann Sabine zu spritzen: Ihr Bauch wurde runder, nicht von einem Kind, sondern von den Hormonen, die 10 bis 20 Eizellen gleichzeitig reifen lassen sollten - in einem Zeitraum, in dem sonst eine heranwächst. Auch der Ordner wurde dicker, füllte sich mit Rechnungen: 387 Euro für die erste Insemination, 2625 Euro für die erste In-vitro-Fertilisation (IVF), 768 Euro für eine Kyrokonservierung. Die Hälfte von jeder Rechnung haben sie selbst bezahlt.

Und so sind die Steinkamps in jenen Sog geraten, dem Kinderwunschpaare nur in zwei Gemütszuständen entkommen: vollkommen glücklich oder unendlich traurig.

Bis vor 30 Jahren hatten kinderlose Paare keine andere Chance, als sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Der liebe Gott, so hieß es dann, habe es halt nicht gewollt. Heute, angesichts von rund 150 000 Kindern, die allein in Deutschland inzwischen mit Hilfe der gut 120 Fertilitätskliniken geboren wurden, sind die Begehrlichkeiten groß: Kaum jemand scheint noch willens, die Laune der Natur zu akzeptieren.

Das Drama ungewollter Kinderlosigkeit ist so alt wie der Sinn für Stammes- oder Familienidentität. Im antiken Griechenland war ausbleibender Nachwuchs ein gesetzlicher Scheidungsgrund, im Mittelalter galt er als Strafe Gottes. Heinrich VIII. verstieß gleich zwei Frauen, die ihm nicht den gewünschten Thronfolger schenkten, und auch der Schah von Persien trennte sich von seiner Gemahlin Soraya, weil sie ihm keine Kinder gebar.

Befeuert von einer Wissenschaft, die mit immer ausgeklügelteren Methoden das Baby auf Bestellung verheißt, sind heute immer mehr Paare zum Äußersten bereit. Viele ruinieren sich finanziell, manche gesundheitlich - und oft halten die Beziehungen dem Druck nicht stand.

Ihr Wunsch kann zur Manie werden, gar zu einer Sucht, die das ganze Denken beherrscht. Schließlich wird dieser Wahn auch unablässig genährt von einer Gesellschaft, die den Wert der Familie wiederentdeckt hat, Mutterglück idealisiert und Väter vom Arbeitsplatz an den Wickeltisch komplimentiert. Schauspielerinnen inszenieren ihre Schwangerschaft, Fußballer stellen beim Torjubel pantomimisch das Wiegen eines Säuglings nach, Top-Models präsentieren sich kugelrund und im Nu wieder gertenschlank, und selbst Politiker werden öffentlich Papa - wenn auch nicht notwendigerweise mit der Ehefrau.

Galt Kinderlosigkeit zu Zeiten der Emanzipationsbewegung noch als Nachweis von Selbstbestimmung, so wird das Gebären heute eingefordert, als handle es sich um eine vaterländische Pflicht. Zeugungsverweigerer, so haben Familienpolitiker unlängst angeregt, sollen weniger Rente beziehen. Höhere Pflegeversicherungsbeiträge leisten sie heute schon.

Wie eine Aussätzige fühle sie sich, sagt Sabine Steinkamp, in einen Topf geworfen mit all den Paaren, die keine Kinder wollen. »Es gab Freunde, die haben uns Selbstsucht vorgeworfen, als karrieregeile Dinks beschimpft«, berichtet Heiner Steinkamp. Die Abkürzung steht für »Double income, no kids« - die Traumkombination vieler Hedonisten ist für die Steinkamps der Alptraum ihrer Realität.

Dem Ehepaar schnürt es die Kehle zu, wenn ihnen von Plakatwänden dieses planschende Baby der »Du bist Deutschland«-Kampagne entgegengrinst oder wenn im dazugehörenden Fernsehspot eine sanfte Stimme zu anrührenden Kinderbildern erzählt, dass Babys in der Anschaffung kostenlos seien und Deutschland mehr Nachwuchs brauche. Sabine Steinkamp kommen dann die Tränen, und ihr Mann ist geneigt, mit der Bierflasche den Bildschirm zu zertrümmern. Kinderlose, so steht es im Talmud, sind tot bei lebendigem Leib.

Rund 1,4 Millionen Paare teilen das Schicksal der Steinkamps, schätzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung - etwa jede zehnte Ehe bleibe in Deutschland ungewollt kinderlos. Doch nur wenige reden über ihre Probleme, denn Unfruchtbarkeit ist für viele ein Drama, für manche eine Schande und auf jeden Fall umstellt von Tabus. Wer möchte schon mit dem Makel konfrontiert werden, keine »vollwertige Frau« oder kein »richtiger Mann« zu sein?

Von den Nachbarn mitleidig beäugt, von Ärzten ausgenommen und vom Staat vergessen, fühlen sich viele Paare ausgegrenzt und alleingelassen. Und das, obwohl sich ihr Vorhaben doch mit dem hehren Ziel der Politiker deckt, die niedrige Geburtenrate in der alternden Republik zu steigern.

Zwar investiert Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU), Mutter von sieben Kindern, Milliardenbeträge in Elterngeld und Kinderkrippen, um Deutschland wieder mehr Nachwuchs zu bescheren. Doch jenen, die auf die Künste der Reproduktionsmedizin angewiesen sind, schenkt sie kaum Aufmerksamkeit. Im Gegenteil. Vor vier Jahren hat der Gesetzgeber ihnen den Weg noch steiniger gemacht: Die Krankenkassen zahlen bei unverheirateten Paaren gar nicht mehr, verheiratete müssen Eingriffe und Medikamente zur Hälfte bezahlen. Und nach dem dritten Versuch stellen die Kassen auch hier jede Beihilfe ein.

Kinderwunschpaare werden heute geschröpft wie sonst nur die Kunden von Schönheitsoperateuren. Und das hat Folgen: Im Schnitt greifen Fortpflanzungsmediziner jetzt halb so oft zu Pipette und Spritze wie vor der Reform. Rund 10 000 Kinder kommen seit 2004 pro Jahr in Deutschland weniger zur Welt - das ist in etwa die Zahl der Neugeborenen einer Großstadt wie Köln. Besonders stark ist der Rückgang in ärmeren Bundesländern wie Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.

So ist der Streit um die Bezahlung der künstlichen Befruchtung zu einem Muster verkorkster deutscher Sozialpolitik geworden: Das volkswirtschaftlich gebotene Ziel, die Überalterung der Gesellschaft durch mehr Geburten einzudämmen, wird glatt hintertrieben.

Das ist umso unverständlicher, als die finanziellen Effekte für das Gesundheitssystem kaum der Rede wert sind: Rund 200 Millionen Euro, gerade mal 0,14 Prozent des Gesamtetats, sparen die Kassen nun jährlich ein - jedes Kind, das jetzt nicht mehr gezeugt wird, entlastet sie also um 20 000 Euro. Nach medizinökonomischen Rechnungen, sagt Heribert Kentenich, Chefarzt der Berliner DRK-Frauenklinik und Leiter des Fertility Center Berlin, »erwirtschaftet ein Retortenbaby weit mehr Geld, als es kostet«.

Und das Phänomen Unfruchtbarkeit droht zur Volkskrankheit zu werden. Frauen besinnen sich immer später auf ihren Kinderwunsch, weil Beruf und Familie konkurrieren. Oft ist es dann zu spät, denn mit dem Alter nimmt die Fruchtbarkeit der Frau drastisch ab (siehe Grafik Seite 48). Und auch die Männer verharren lange im Zeugungsstreik, sie wollen noch nicht, immer noch nicht - bis es nicht mehr geht.

Schuld sind außerdem medizinische Gründe, etwa Umwelteinflüsse, die die Fruchtbarkeit reduzieren. Der Brite William Ledger, Gynäkologe an der University of Sheffield, spricht sogar von der »infertility time bomb«, der Unfruchtbarkeits-Zeitbombe, die ohne weiteres in der Lage ist, die westlichen Industriestaaten mit ihren eh schon niedrigen Geburtenraten schwer zu schädigen.

Bei den Männern hat sich innerhalb der vergangenen 50 Jahre die Spermiendichte halbiert. Bei den Frauen wächst die Zahl von Übergewichtigen und Magersüchtigen - auch keine guten Voraussetzungen, um schwanger zu werden. Und selbst die freie Liebe mindert die Chance auf Nachwuchs: Durch den zunehmenden Partnertausch nehmen sexuell übertragbare Krankheiten zu; einige davon - etwa die Chlamydieninfektion - können zu Unfruchtbarkeit führen.

Oft würde allerdings schon ein bisschen Aufklärung helfen. Denn in deutschen Betten herrscht offenbar auch 40 Jahre nach Oswald Kolle noch große Ahnungslosigkeit - so hat es jedenfalls Yve Stöbel-Richter von der Universität Leipzig erfahren. »Insbesondere wird die fruchtbare Phase der Frau völlig falsch eingeschätzt«, sagt die Psychologin. Bei ihrer Umfrage im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wussten oder ahnten nur drei Prozent aller Befragten, dass die Fruchtbarkeit der Frau schon ab dem 25. Lebensjahr nachlässt. Ein Drittel tippte auf das 40. Lebensjahr.

Ebenso ahnungslos sind viele Menschen, wenn es um den richtigen Zeitpunkt der Zeugung geht. Die Hälfte der ungewollt kinderlosen Paare hatte an den durchschnittlich fünf fruchtbaren Tagen pro Monat gar keinen Sex, wie das Berliner Robert-Koch-Institut in einem Bericht für die Bundesregierung feststellt - da ist dann alle Liebesmüh vergebens.

Heiner Steinkamp weiß inzwischen genau, wann der Eisprung seiner Frau naht. Die beiden probieren es auch immer noch auf natürlichem Wege. Fünf Tage vorher verzichtet das Paar regelmäßig auf Sex, »weil die Spermien dann leistungsstärker sind«, sagt Steinkamp. Doch auch an den Tagen davor und danach hat sich die Romantik verflüchtigt. »Weil es sich nicht lohnt«, bemerkt Sabine trocken. Der »ergebnisorientierte Sex«, wie sie das nennt, vermiest den Eheleuten die Lust am Körperkontakt.

Sabine Steinkamp zieht aus dem Aktenordner ein Foto hervor, klein und schwarzweiß, ähnlich den Ultraschallbildern, die werdende Eltern gern von ihrem Nachwuchs herumreichen. Zu sehen ist die vergrößerte Aufnahme eines Embryos im Reagenzglas, drei Tage alt, acht Zellen zu einem Kreis zusammengedrängt, gleich groß, ebenmäßig. Ein »A-Klasse-Embryo wie aus dem Bilderbuch«, habe der Arzt gesagt und ihr den Zellklumpen eingepflanzt, aber funktioniert hat es trotzdem nicht.

Es gibt auch B-, C- und D-Embryos. Im Labor der Praxisklinik für Fertilität in Berlin hängt ein Plakat, das die unterschiedlichen Bewertungen mit vier Bildern erklärt. Die Konturen der Zellen werden von Klasse zu Klasse schrumpeliger, die Größen variieren stärker.

Karen Rosenberg nimmt das Plakat kaum noch wahr. Wenn die Biologin direkt daneben am Mikroskop sitzt, an ihrer beheizten, körperwarmen Edelstahlarbeitsplatte, dann hat sie nur Augen für die Embryonen und Eizellen unter dem Vergrößerungsglas. Hier zwischen all den Brutschränken, die aussehen wie Kühlschränke, bringt sie im Reagenzglas zusammen, was bei Paaren wie den Steinkamps allein durch Lust und Liebe nicht gelingen will. Allmächtig fühlt sie sich dabei nicht. »Wir stupsen die Natur nur an, die eigentliche Befruchtung passiert ohne unser Zutun«, sagt Rosenberg.

Ärzte beherrschen heute ein ganzes Arsenal von Methoden, die kinderlosen Paaren helfen können - von ein paar simplen Tricks bis zum vollen Einsatz medizinischer Hightech. Für die sogenannte In-vitro-Fertilisation - wörtlich übersetzt: Befruchtung im Glas - gießt Rosenberg rund 80 000 aufbereitete Spermien über eine Eizelle. Nach 24 Stunden im 37 Grad warmen Brutschrank kontrolliert sie unter dem Mikroskop, ob die Eizelle mit einer der Samenzellen verschmolzen ist. Hat das funktioniert, wird der Embryo nach zwei bis vier Tagen der Mutter eingespült.

Verfügt der Mann nicht über genug starke Spermien, nutzt Rosenberg die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (Icsi). Hierfür spritzt sie ein einziges, sorgfältig ausgesuchtes, besonders bewegliches und wohlgeformtes Spermium mit einer feinen hohlen Glasnadel direkt in die Eizelle.

Tausende Eizellen hat die Biologin auf diese Weise schon befruchtet. Reine Routine, die Technik ist vor rund 30 Jahren entwickelt worden. Das weltweit erste Retortenbaby, Louise Brown aus England, wurde am 25. Juli 1978 geboren. Der britische Ärzteverband kritisierte damals die »gewissenlose« Forschung des Biologen Robert Edwards und des Gynäkologen Patrick Steptoe. 20 Jahre hatten die beiden experimentiert - mit Eizellen, die sie Frauen ungefragt entnommen hatten, und Spermien-Cocktails, von denen die Spender nicht wussten, was die Wissenschaftler damit im Schilde führten. Obwohl Edwards und Steptoe für die Fortpflanzungsmedizin ein neues Zeitalter eröffneten, wurden sie weder von der Königin geadelt noch mit einem Nobelpreis belohnt.

Auch in Deutschland setzte 1982, nach der ersten erfolgreichen künstlichen Befruchtung, eine Diskussion über Ethik, Moral und die Würde des Menschen ein. Sie dauert bis heute an, und sie reicht von nicht selten religiös geleiteten Bedenkenträgern, die alles ablehnen, was die Natur nicht von allein schafft, bis hin zu jener Fraktion, die alles erlauben will, was die Wissenschaft irgendwann können wird.

»Bei unserer Methode ist kein Missbrauch möglich«, versicherte Siegfried Trotnow, nachdem er vor 26 Jahren in der Frauenklinik der Universität Erlangen dem kleinen Oliver auf die Welt geholfen hatte. Der Professor für Frauenheilkunde prophezeite, sein Verfahren werde wohl auf einen kleinen Personenkreis beschränkt bleiben - eine Fehleinschätzung.

Inzwischen ist fast alles auf dem Markt erhältlich, nicht überall, aber die Grenzen sind überwindbar. Samen gibt es aus dem Katalog, Eizellen in England oder den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Frauen können weit jenseits der Menopause Mutter werden, und die Gefriertechnik ermöglicht sogar Männern, die längst gestorben sind, die Vaterschaft. Ende letzten Jahres brachte eine 64-jährige Frau aus Aschaffenburg eine Tochter zur Welt. Die Frau im besten Oma-Alter hatte sich im Ausland die Eizelle einer 25-jährigen Frau einpflanzen lassen, die mit Sperma ihres 64-jährigen Ehemanns befruchtet worden war. Somit ist sie biologisch betrachtet nur die Leihmutter, da das Kind nicht ihr Erbgut trägt.

Derartige Meldungen wecken die Erwartung, jedes Problem sei technisch zu lösen: Babys für alle - hoffnungslose Fälle gibt es nicht. Die Ärzte profitieren von diesem Irrglauben. Das Geschäft mit der Hoffnung bringt Rendite.

Es gibt Kliniken, die Frauen jenseits der 40 die Behandlung verweigern, weil sie sich die Erfolgsstatistik nicht verderben wollen. Junge Frauen haben bessere Chancen, schwanger zu werden, sind also besser für die Statistik. Und eine gute Statistik sorgt für neue, hoffnungsvolle Patienten.

In der Arztpraxis in Dortmund, die Heiner und Sabine Steinkamp so oft besuchen, hängen die Behandlungserfolge golden gerahmt im Wartezimmer: drei Collagen in Postergröße, zusammengesetzt aus unzähligen kleinen Babygesichtern. Wie Trophäen weisen sie die Patienten auf die erfolgreichen Befruchtungen der drei behandelnden Ärzte hin.

Dass die Erfolgsquote einer In-vitro-Fertilisation lediglich bei 15 Prozent liegt, dass sich mit jedem neuen Versuch die Wahrscheinlichkeit zwar erhöht, aber eben nicht addiert, dass insgesamt 60 Prozent aller Paare die Therapie nach drei Behandlungszyklen ohne Kind beenden, das erfahren die wenigsten.

Und so probieren es die Paare eben wieder und wieder. Reproduktionsmediziner klagen, Deutschland bleibe mit seinen miesen Quoten weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Allein das Embryonenschutzgesetz, das den Tatendrang - und durchaus auch das Profitdenken der Ärzte - bremst, verhindere ihren Erfolg: Das Gesetz sei medizinisch veraltet.

Es ist auf jeden Fall umstritten. Die strengen deutschen Regeln kann »kein ausländischer Kollege mehr verstehen«, sagt Michael Thaele, Ehrenvorsitzender des Bundesverbands Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands. Die deutsche Bioethik sei »menschenfeindlich«, urteilt gar Gerhard Leyendecker vom Kinderwunschzentrum Darmstadt, sie zwinge Kinderwillige zum »Roulettespiel« mit minderwertigen Eizellen und unzureichenden Untersuchungsmethoden.

Viele Paare sehen sich als Opfer einer Grundsatzdiskussion. Sie verstehen nicht, warum ihnen aus ethischen Gründen Behandlungen versagt bleiben, die in anderen Ländern längst alltägliche Praxis sind. »Deutsche Frauen sind doppelt bestraft«, findet deshalb Professor Thomas Katzorke, Leiter des Essener Zentrums für Reproduktionsmedizin, »bleiben sie hier, müssen sie mehr bezahlen und bekommen nicht die modernsten Methoden geboten.«

Zu Hunderten pilgern deshalb deutsche Paare über die Grenze, nach Spanien oder Belgien, Tschechien oder Polen, England oder in die Slowakei. Längst haben die Betroffenen aufgegeben, die hiesige Gesetzeslage verstehen zu wollen, die vor allem durch Widersprüchlichkeit auffällt. So ist es erlaubt, einen Fötus bis zum dritten Monat abzutreiben, aber es ist verboten, einen im Reagenzglas befruchteten Zellklumpen - etwa der C- oder D-Klasse - zu vernichten. Es ist erlaubt, Föten im Mutterleib auf Krankheiten zu testen, aber es ist verboten, befruchtete Eizellen im Reagenzglas auf Anomalien zu untersuchen. Die Samenspende ist erlaubt, die Eizellspende verboten.

Es ist sogar verboten, befruchtete Eizellen von zukünftigen Eltern zu untersuchen, wenn die Männer und Frauen Gene für unheilbare Krankheiten in sich tragen. Die sogenannte Präimplantationsdiagnostik könnte viel Leid ersparen, doch der herangezüchtete Embryo wird hierzulande in die Frau gesetzt, ohne dass er zuvor auf Risiken überprüft werden durfte.

In der Slowakei sind hingegen medizinische Hightech-Methoden wie die Invitro-Behandlung schon ab 1000 Euro zu haben - mitsamt aller in Deutschland illegalen Tests. Inzwischen weisen sogar einige deutsche Privatversicherungen ihre Kunden mehr oder minder direkt auf die günstigen Angebote im Ausland hin, Bulgarien und die Ukraine gelten als besonders preiswert. In einem Brief an den Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen beschwerte sich unlängst ein Dresdner Gynäkologe vehement darüber, dass nun gar die gesetzlichen Krankenkassen »die künstlichen Befruchtungen im Ausland mitfinanzieren und dadurch dazu beitragen, dass das Deutsche Embryonenschutzgesetz umgangen wird«.

Allein in Tschechien gibt es rund 20 Reproduktionskliniken, die sich vornehmlich an deutsche und italienische Patienten wenden. Der Fruchtbarkeitstempel in Pilsen etwa behandelt jedes Jahr mehrere hundert Paare aus der Bundesrepublik - und das, so behauptet Klinikleiter Petr Uher, mit weitaus höheren Erfolgsquoten als in deutschen Fortpflanzungsfabriken. Über die Hälfte der Kundinnen werde schwanger.

Solche Statistiken sind umstritten, aber sie heizen das Geschäft mit der Hoffnung weiter an. In ihrer Kundenwerbung verweisen die ausländischen Zeugungsspezialisten vor allem auf den Standortvorteil. In Deutschland werden Eizellen bereits zwei bis drei Tage nach einer künstlichen Befruchtung im Reagenzglas in den Uterus zurückgesetzt - sobald mikroskopisch erkennbar ist, dass eine Zellteilung stattfindet. Die Kliniken jenseits der Grenze warten dagegen die Entwicklungen aller befruchteten Eizellen bis zum fünften Tag ab - und setzen dann nur jene ein, die am geeignetsten scheinen. Der Rest wird weggeworfen, in Deutschland ein illegaler Vorgang. Hierzulande muss jeder lebensfähige Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt werden.

Dabei selektiere »jeder Mensch täglich und wählt für sich das Beste aus«, so der österreichische Reproduktionsmediziner Herbert Zech - ob im Restaurant oder bei der Partnerwahl. Denn nur eine Auswahl aus vielen Möglichkeiten bringe »die besten Ergebnisse«. Der Babymacher aus den Alpen lädt in deutschen Großstädten zu »Kinderwunsch Informationsabenden« ein - und preist seine Rundum-sorglos-Pakete an: Urlaub, Wellness, Kultur in Pilsen, Bregenz, Salzburg - und dazwischen eine künstliche Befruchtung.

In Deutschland entzündet sich an der Selektion der Eizellen in gute und schwache die Debatte um die Fortpflanzungsmedizin. Spätestens seit den Greueln des Nationalsozialismus und den Menschenversuchen des SS-Arztes Josef Mengele gibt es Tabus, wenn es um die Einordnung von Leben in lebenswert und lebensunwert geht - und die Frage, wann Leben beginnt, wird wohl nie zu beantworten sein.

Das deutsche Embryonenschutzgesetz will dem menschlichen Leben schon in der frühesten Phase höchstmöglichen Schutz bieten. Jede »befruchtete, entwicklungsfähige« Eizelle, heißt es dort, »gilt als Embryo« und ist damit zu achten wie ein Mensch. Das bedeutet in der Praxis: Alle lebensfähigen Embryonen müssen in den Uterus. Das führt zu Mehrlingsschwangerschaften, die wiederum häufig Frühgeburten nach sich ziehen. Das Risiko körperlicher und geistiger Behinderungen ist bei diesen Kindern deutlich erhöht.

Doch damit nicht genug: Das Gesetz, klagt der Darmstädter Gynäkologieprofessor Gerhard Leyendecker, zwinge ihn dazu, auch kränkelnde Embryonen zu implantieren, »von denen wir wissen, dass sie nicht überleben können«.

In anderen Ländern arbeiten die Mediziner freizügiger. Schließlich, so lautet dort die Argumentation, haben die Embryonen am fünften Tag gerade das sogenannte Bläschenstadium erreicht, in dem der Zellhaufen normalerweise erst den Eileiter verlässt und sich in der Gebärmutter einnistet. Bei der Empfängnisverhütung mit Spirale zum Beispiel wird die befruchtete Zelle oft viel später getötet, ohne dass daran Anstoß genommen wird.

Die Folgen der strikten Gesetzgebung in Deutschland, so der Österreicher Zech, hätten besonders die Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch zu tragen. Die Berlinerin Nadine S. entschied sich erst mit 37 Jahren, ein Kind bekommen zu wollen. Als sich auf natürlichem Wege nichts rührte, ging die Zahnärztin in ein anerkanntes Berliner Institut für Reproduktionsmedizin und ließ sich künstlich befruchten. Einmal, zweimal, dreimal, vergebens.

Vor dem sechsten Versuch - sie war mittlerweile 41 Jahre alt - eröffnete sie dem Klinikprofessor, dass sie es nun in den USA versuchen wolle. Warum denn das, habe der gefragt: »Fahren Sie doch nach Bregenz.« Nadine S. war fassungslos. In all den fünf erfolglosen Jahren hatte ihr niemand gesagt, dass es im nahen Österreich viel leichter geht: »Weil sie an mir verdienen wollten«, glaubt die Frau. Weil die Ärzte die Flucht ins Ausland nicht empfehlen dürfen, sagt der Gesetzgeber.

Wenig später saß Nadine S. in Bregenz am Bodensee. Professor Zech entnahm ihr 14 Eizellen und befruchtete alle im Reagenzglas. Nach zwei Tagen hatten sieben überlebt, nach fünf Tagen waren nur noch drei übrig, von denen ihr die Mediziner zwei einpflanzten. Eine Zelle entwickelte sich wunschgemäß: Neun Monate später gebar Nadine S. einen Sohn.

Den zunehmenden »Fortpflanzungsmedizintourismus« empfindet Klaus Diedrich, langjähriger Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, »beschämend für ein hochzivilisiertes Land«. Diedrich kritisiert vor allem, dass »wir in Deutschland gezwungen sind, uns an das 17 Jahre alte Embryonenschutzgesetz zu halten, obwohl sich die Reproduktionsmedizin seither dramatisch fortentwickelt hat«.

Andererseits ist zu fragen, ob wir unser Wertesystem andauernd den wissenschaftlichen Eroberungen anpassen müssen. Nicht allein die katholische Kirche warnt davor, ethische Standards weiter abzuräumen - wie es in etlichen Bundesstaaten der USA schon geschehen ist, wo sich Frauen für 30 000 Dollar als Leihmutter andienen (siehe Seite 52).

Wenn schon in den achtziger Jahren die Patchwork-Familie als bedrohliches Phänomen diskutiert wurde, so bedeutet das »genetische Patchwork« der modernen Reproduktionsmedizin für die traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen eine Revolution. Der Akt menschlicher Fortpflanzung, der intimste Moment selbstbestimmter Zweisamkeit, öffnet sich für Dritte. Wenn ein Baby zustande kommt, weil ein Mann seine Samenzelle, eine Frau ihre Eizelle, eine dritte ihre Gebärmutter zur Verfügung stellt, und ein weiteres Paar die Elternrolle annimmt, dann ist das gültige Familienmodell fundamental ausgehebelt. Das kulturelle Unbehagen ist groß.

Aber so viel in Deutschland über Moral und Ethik der Reproduktionsmedizin auch diskutiert wird, mit ihren Ängsten und Enttäuschungen bleiben die Betroffenen weitgehend allein. Die Burg-Klinik im thüringischen Stadtlengsfeldt hat diese Marktlücke entdeckt.

Die Klinik liegt gut versteckt im Thüringer Wald und wirkt eher wie ein ländliches Hotel. In der Lobby stehen rote Sofas, die langen Flure sind mit Teppichen ausgelegt. Die Patienten hier brauchen keine sterilen Zimmer und keine Apparatemedizin. Das Haus hat sich auf psychosomatische Krankheiten spezialisiert. Therapiert werden Essstörungen, Depressionen, Burnout - und neuerdings auch der Stress mit dem unerfüllten Kinderwunsch.

Sechs Paare, alle zwischen Anfang 30 und Mitte 40, haben sich in einem Kreis versammelt. Binnen einer Woche sollen sie hier in psychologisch betreuten Gesprächsrunden lernen, besser umzugehen mit ihrem Schicksal.

»Ich hasse meinen Körper«, bricht es aus einer blonden, etwas molligen Frau mit weißem Teint heraus. Drei Fehlgeburten und einen Nervenzusammenbruch hat Ute König hinter sich. Jetzt hat die Zittauerin einen Hund. Den Traum vom Kind hat sie dennoch nicht ganz aufgegeben.

»Ich möchte meine Frau besser verstehen«, sagt einer der Männer. »Wir haben die Heimlichkeiten so satt«, sagt seine Frau. Fast alle sprechen ihren Frust hier zum ersten Mal offen aus.

Am Nachmittag stehen Entspannungsübungen des Qigong auf dem Programm. Das Ehepaar König aus Zittau kommt im sportlichen Partnerlook. »Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass ich mal mit solchen Verrenkungen im Wald stehen würde, hätte ich ihn ausgelacht«, sagt der stämmige Fleischfachverkäufer verlegen. Dabei hat er inzwischen schon ganz andere Sachen versucht: Tino König schläft mit einem Rosenquarz unter dem Kopfkissen, seine Frau trägt um den Hals Amethyst. Irgendwo stand, dass solcher Hokuspokus hilft. Und irgendwie hilft vielleicht auch dieses Qigong. Möglicherweise sind sie ja alle nur zu gestresst?

»Das ist Quatsch«, sagt der Psychologe Tewes Wischmann, »es gibt keine Belege für einen Zusammenhang zwischen psychischem Stress und Unfruchtbarkeit.« Der Frust mit dem Babywunsch habe ebenso wenig Einfluss auf die Fruchtbarkeit wie eine schlechte Ehe oder eine schlimme Kindheit, »es sei denn, aus diesem Grund hat das Paar keinen Sex«.

Seit 1994 hilft Tewes Wischmann in seiner Sprechstunde am Universitätsklinikum Heidelberg frustrierten Paaren, die erfolglosen Behandlungen zu verarbeiten. Er weiß, wie viele Gerüchte im Umlauf sind.

Ein Märchen sei es, dass Frauen genau dann schwanger würden, wenn sie ihren Kinderwunsch gerade aufgegeben hätten, etwa nach einer Adoption. »Gerade mal vier Prozent der Frauen haben solches Glück«, sagt Wischmann. »Wenn Stress zur Unfruchtbarkeit führt, dann dürften im Krieg oder nach Vergewaltigungen keine Kinder geboren werden.«

Wischmann ist kein Gegner der Reproduktionsmedizin. Therapiewochen, wie sie die Burg-Klinik anbietet, begrüßt er: »Aufklärung und psychosoziale Betreuung werden in Deutschland vernachlässigt.« In Kanada sei etwa eine psychologische Beratung vor einer künstlichen Befruchtung Pflicht. Denn auch wenn die Seele allenfalls in Ausnahmefällen etwas mit der ausbleibenden Schwangerschaft zu tun habe, so führten die Folgen der ungewollten Kinderlosigkeit oft zu einer existentiellen Krise, die nur schwer zu verkraften sei.

Auf der Hitliste der Ursachen für psychische Pein steht die Frage der Finanzierung ganz oben. »Von den Politikern werden wir für unseren Kinderwunsch auch noch bestraft«, klagt ein verhinderter Vater im Therapieraum der Burg-Klinik. Er löst damit bei allen zustimmendes Kopfnicken aus.

Als die rot-grüne Koalition vor vier Jahren das Gesundheitsmodernisierungsgesetz verabschiedete, verordnete sie der Reproduktionsmedizin einen engen finanziellen Rahmen. Selbst wenn die Zeugungsschwäche eindeutig die Folge eines Unfalls oder einer Krankheit ist, übernehmen seitdem die Kassen die Kosten künstlicher Befruchtung nur bei den ersten drei Versuchen und nur zur Hälfte.

Auch zahlen die Versicherungen seit 2004 keine Befruchtungsversuche mehr bei Frauen, die über 40 Jahre sind - weil sich der Aufwand wegen der geringeren Fruchtbarkeit seltener lohnt. Gerade beruflich erfolgreiche Frauen aber, die ihren Kinderwunsch jahrelang zugunsten der Karriere aufgeschoben und nebenbei auch viel Geld an die Krankenversicherung gezahlt haben, sehen darin eine Diskriminierung - besonders wenn die Entscheidung zur IVF getroffen wurde, nachdem sie es zunächst zeitraubend auf natürlichem Wege probiert hatten.

Selbst wenn sehr junge Paare die Hilfe der Babymacher benötigen, zahlt die Kasse nicht mehr - 25 Jahre alt muss eine Frau nun sein, um von den Segnungen der Reproduktionsmedizin zu profitieren.

Darunter zu leiden haben Ehepaare wie Inga und Patrick Kops. Die beiden aus dem kleinen Ort Seelbach bei Koblenz glaubten, füreinander bestimmt zu sein. Und sie hatten einen ganz traditionellen Lebensplan: Hochzeit, Haus, Kinder. Sie war 21, er 29 Jahre alt, als sie heirateten. Nur mit dem Kinderkriegen klappte es trotz intensiver Bemühungen nicht.

Patrick Kops sitzt in der Küche, trinkt eine Tasse Kaffee und blickt auf seinen Unterleib: »Da unten war etwas nicht in Ordnung. Das sei nicht heilbar, haben mir die Ärzte gesagt.« Vermutlich hatte ein Arbeitsunfall Jahre zuvor unbemerkt Folgen hinterlassen. Die beiden versuchten es zunächst mit Hormonpräparaten, doch der Erfolg blieb aus. Schließlich probierten sie es mit einer Icsi, der Spermieninjektion. Am Ende hatten sie 6457,23 Euro ausgegeben. »Meine Ersparnisse sind komplett draufgegangen«, sagt Kops, der als Schichtarbeiter in einem Werk für Kleinmöbel arbeitet.

Immerhin brachte die Icsi-Methode ein Ergebnis zustande: Nick ist etwas quengelig, doch während der Junge seinen Erdbeerjoghurt löffelt, vergisst der Vater seine Müdigkeit. »Ich liebe ihn über alles«, sagt Kops, »hätte ich mit dem Kinderkriegen warten sollen, bis es meine Krankenkasse so will?« Mit jedem Jahr des Wartens wären seine Spermien schlechter geworden. »Was erlauben sich Politiker eigentlich, mit solchen Gesetzen unser Leben bestimmen zu wollen?«

Kops kann nicht verstehen, wieso die Kassen Abtreibungen bezahlen, während er ein Darlehen für die Erstausstattung seines Kindes aufnehmen musste, weil er nach der Befruchtung finanziell abgebrannt war.

Schon »aus Prinzip« verklagten die Kops die AOK auf Rückzahlung der gut 6400 Euro. Doch sie verloren, vor dem Sozialgericht in Koblenz und dann vor dem Landessozialgericht in Mainz. Die Urteilsbegründungen haben die Kops weiter in ihrer Meinung bestärkt, dass »Deutschland kein familienfreundliches Land« sei. Bei einer Fertilitätsstörung, sagten die Koblenzer Richter, handle es sich zwar um einen »gesundheitlichen Defekt«, der »jedoch nicht zwingend eine Behandlungsmaßnahme nach sich ziehen muss«.

Regelrecht zynisch klingt die Begründung der Mainzer Kollegen: Der Gesetzgeber habe mit seiner 25-Jahre-Regel recht, weil nicht auszuschließen sei, dass »die medizinische Wissenschaft bis zum Erreichen der Altersgrenze doch noch Heilungsmöglichkeiten« für den Geschädigten finde. Außerdem sei das Warten ja auch gar nicht so schlimm, weil dadurch »die Ernsthaftigkeit des Kinderwunsches über einen längeren Zeitraum« bestätigt werden könne.

Die richterlichen Einlassungen zeugen zwar nicht gerade von Sensibilität. Anderseits führt die künstliche Befruchtung mitten hinein in den Grundkonflikt des klinischen Fortschritts. Müssen alle medizinischen Innovationen allen Menschen offen stehen? Und soll die Solidargemeinschaft für alles aufkommen - selbst für das menschheitsgeschichtlich widernatürliche Spätgebären der Babyboomer-Generation?

Oder gibt es so etwas wie ein Menschenrecht aufs eigene Kind?

Die mehreren hundert Klagen von Kinderwunschpaaren, die in Deutschland gegen die Beschränkungen der Gesundheitsreform laufen, erwecken diesen Eindruck. Der Berliner Rechtsanwalt Udo von Langsdorff vertritt allein 250 Mandanten.

Die Sozialgerichte in Fulda, Gelsenkirchen oder Duisburg wiesen indes Beschwerden ausnahmslos ab. »Einige Richter haben uns in den Verhandlungen durchaus zu verstehen gegeben, dass sie die Anliegen der Männer und Frauen für berechtigt halten«, sagt Udo von Langsdorff, »aber die Gesetze würden eben eindeutig bestimmen, dass der Staat an dieser Stelle Kosten sparen will.«

Der Anwalt hat deshalb Ende November eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt. Dass er dort Erfolg haben wird, scheint eher unwahrscheinlich. Denn die Richter müssten von ihrer bisherigen Rechtsprechung abweichen, nach der Unfruchtbarkeit nicht als Krankheit gilt. Krank sei ein Mensch erst, wenn ein regelwidriger Zustand von Körper oder Geist behandlungsbedürftig sei und den Patienten arbeitsunfähig mache. Und wer ungewollt kinderlos bleibe, könne ja durchaus weiterleben und arbeiten.

Die Weltgesundheitsorganisation stuft Unfruchtbarkeit dagegen als Krankheit ein, da die Sterilität sehr oft Folge körperlicher Gebrechen wie verwachsener Eierstöcke oder malader Spermien sei. Die künstliche Befruchtung, argumentiert Helge Sodan, ehemaliger Präsident des Berliner Verfassungsgerichtshofs, »vermag einem Ehepaar zu einem gemeinsamen Kind zu verhelfen« - und damit die Folgen »eines anomalen körperlichen Zustandes der Frau zu überwinden«. Auch Ingo Kailuweit, Vorsitzender der Kaufmännischen Krankenkasse KKH, hält es für einen Fehler, die Kinderwunschpaare nur noch eingeschränkt zu unterstützen. »Die 10 000 Kinder, die jetzt jährlich weniger geboren werden, fehlen als künftige Beitragszahler«, so Kailuweit, »die gehen den Sozialsystemen verloren.«

Natürlich müsse die Anzahl der Versuche beschränkt werden. »Aber es gibt keinen Grund, warum verklebte Eileiter ein medizinisches Luxusproblem sein sollen, während kaputte Kniescheiben oder Raucherbeine von der Kasse bezahlt werden«, sagt Kailuweit. Geradezu »erschreckend« sei die Ignoranz, »wo es um so lächerliche Beträge geht. Jeder stationäre Check-up kommt die Kasse teurer zu stehen«.

Tatsächlich zahlt die Krankenversicherung, wenn Patienten zum Beispiel unter seelischen Schäden leiden oder das psychische Gleichgewicht bedroht ist - wie etwa durch eine angeborene Hasenscharte. Und sie zahlt für Abtreibungen, wenn absehbar ist, dass das Baby die künftige Mutter aus der Bahn werfen könnte. Für viele Männer, besonders aber für Frauen kann jedoch die Sterilität ebenso quälend sein. Und deshalb, so die Anwälte unfruchtbarer Paare, müsse die Kasse zumindest den ersten Versuch voll bezahlen.

Sollte das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde abweisen, will Udo von Langsdorff vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen - er wird dort vermutlich Christina A. aus Mecklenburg-Vorpommern vertreten.

Am 20. Januar 2004 erschien die Frau, Ende 30, in der Bürgersprechstunde von Angela Merkel, in deren Wahlkreisbüro in Stralsund. Christina A. weinte, die Berufsschullehrerin war nervlich angeschlagen, weil der Kinderwunsch, auf den sie »sich so sehr konzentriert hat«, noch immer nicht in Erfüllung gegangen war.

Christina A. fühlte sich nach der Reform 2004 ungerecht behandelt. 50 Prozent der Kosten für eine Kinderwunschbehandlung - der Preis schien ihr zu hoch. Deshalb ging sie zu Angela Merkel. Die CDU-Vorsitzende, damals noch Oppositionspolitikerin, hörte sich das Problem geduldig an.

22 Tage später schrieb sie zurück, sie könne leider auch nichts tun. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe die Pläne der damals regierenden rot-grünen Koalition, den Anspruch auf ärztliche Leistungen zu kürzen, nur »abmildern« können. »Da uns bewusst ist, dass angesichts stetig sinkender Geburtenzahlen« die künstliche Befruchtung finanziell unterstützt werden müsse, so Angela Merkel weiter, »werden wir uns weiterhin dafür politisch stark machen.«

Eindreiviertel Jahre später zog Merkel ins Bundeskanzleramt, doch geschehen ist seither nichts. ULRIKE DEMMER, UDO LUDWIG

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