»Gestörte Identität, stolpernder Gang«
Über alle Schrecken dieser Welt fühlte sich Anna, geboren 1947, eigentlich aufgeklärt.
Sie wußte, daß Rotkäppchen vom Wolf gefressen wurde, daß Suppenkasper verhungerte, weil er seine Suppe nicht essen wollte; sie erfuhr von den Metzeleien auf den Kreuzzügen, vom Blutrausch während der Französischen Revolution. Und, schließlich, auch vom Dritten Reich, dem Zweiten Weltkrieg, den Gaskammern, den sechs Millionen ermordeten Juden. Aber: »Wer um Gottes willen hat uns je gesagt, daß es die eigenen Eltern waren?«
Die eigenen Eltern hätten es Anna jedenfalls nicht aus freien Stücken mitgeteilt, daß der Vater Leiter einer KZ-Wachmannschaft war. Das erfuhr sie erst, als er, angezeigt von ehemaligen Häftlingen, wegen Mordes angeklagt wurde.
Vom Gericht wurde der Mann freigesprochen, nicht jedoch von der eigenen Tochter.
In ihr entstand »eine unendliche Lust«, aus ihrem Vater herauszubekommen, was ihm das Gericht nicht nachweisen konnte: seine Taten im KZ. Alles Fragen war vergeblich. Die Eltern schwiegen. Anna: »Ich hätte genausogut ins Waschbecken sprechen können. Jedes Wort von mir wurde weggespült.«
So wie der heute 39jährigen ging es wohl Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Altersgenossen - Kindern von großen und kleinen Nazi-Tätern oder auch nur Mitläufern, die vor den Greueln der Hitler-Diktatur die Augen fest geschlossen hielten. Fast ausnahmslos rannten die Jungen, wie Anna, gegen eine Mauer des Schweigens.
Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich hatten zwar mit dem diagnostischen Etikett »Unfähigkeit zu trauern« eine Erklärung geliefert für den beispiellosen Verleugnungsprozeß, der nach 1945 bei der den Nationalsozialismus tragenden Generation einsetzte. Zutiefst erschraken sie gleichwohl angesichts der Tatsache, daß die große Masse eines Volkes gegen Schuld. Scham und Trauer schlicht Abwehr setzte: einen infantilen Selbstschutz, Entlastungstechnik nicht etwa gegen ein infantiles Schulderlebnis, sondern gegen eine »reale Schuld« ungeheuerlichen Ausmaßes.
Die Generation der Scham zu werden, die »Sühnedeutschen« (Mitscherlich), das überließen die Täter ihren Kindern und Enkeln, die sich schon eher der Schuld ihrer Vorfahren stellen wollten. Schriftsteller versuchten es literarisch aufzuarbeiten, Günther Anders etwa mit »Wir Eichmannsöhne« oder Bernward Vesper, Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper, mit »Die Reise«; in Kürze erscheint Peter Schneiders »Vati«, erzählt aus der Perspektive eines Mengele-Sohns. Filmemacher nahmen sich das Thema vor, zuletzt Bernhard Sinkel mit der TV-Serie »Väter und Söhne«, in der er die »fundamentale Lüge« aufdecken wollte, die zwischen den Generationen steht.
Wie die Kinder und Enkel der Opfer seien die Nachkommen der Täter »unter der Last der Taten ihrer Eltern oft ebenso schlimm seelisch wie körperlich erkrankt«, nimmt der in Jerusalem und London lehrende Psychologie-Professor Joseph Sandler an. Bei beiden gebe es ein »Weiterreichen von Traumatisierung, tiefer seelischer Verwundung über mehrere Generationen«.
Peter Sichrovsky, 1947 als Sohn zurückgekehrter jüdischer Emigranten in Wien geboren, hat derart traumatisierte Nachkommen der Opfer, junge Juden in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, in einem 1985 erschienenen Buch porträtiert (SPIEGEL-Serie 10-12/1985). In seinem jüngsten Buch, aus dem der SPIEGEL Auszüge in einer dreiteiligen Serie druckt (siehe Seite 82), wendet er sich den »anderen«, Nazi-Kindern in Österreich und der Bundesrepublik, zu. Titel: »Schuldig geboren«. _(Peter Sichrovsky: »Schuldig geboren. ) _(Kinder aus Nazifamilien«. Verlag ) _(Kiepenheuer & Witsch, Köln; 192 Seiten; ) _(16,80 Mark. )
Diese »anderen« waren dem Autor nicht fremd. Im Kindergarten, in der Schule, an der Universität, in Diskotheken war er - rein mathematisch gemessen an der einstmals großen Zahl von Nazis in Wien - »umgeben von Gleichaltrigen, deren Eltern ein paar Jahre zuvor versuchten, meine umzubringen«.
Persönliche Betroffenheit war Sichrovskys Motiv für die Gespräche mit jungen Juden über deren Hoffnungen und Ängste in den Ländern der einstigen Verfolger. Diesmal war es Wißbegier, wie die NS-Erben fertig werden mit »ihren Sorgen, ihren Phantasien und Belastungen, die sie durch die Geschichte ihrer Eltern mit sich herumschleppten«.
Bei seiner neuen Zielgruppe handelte er sich eine Reihe von Absagen ein: »Teils hatten sie sich eine neue Existenz aufgebaut, losgelöst von der Vergangenheit, _(NS-Propagandaphoto von 1939. )
oder befürchteten, den Vater kritisieren zu müssen, oder wollten einfach ihre Ruhe haben.«
Die 40 Partner, die sich schließlich dem Gespräch stellten und von denen 16 für das Buch ausgewählt wurden, können nicht repräsentativ sein für die Seelenlage aller Nachkommen von Nazi-Vätern. Doch die autorisierten Tonband-Protokolle sind, von der Mischung her, aufschlußreich.
Denn nicht nur Töchter und Söhne von Nazi-Prominenz reden: Wären nur sie zu Wort gekommen, hätte es der Sammlung »einen Unterton der Mystifizierung« (Sichrovsky) gegeben. Über ihre Entwicklung sprachen vielmehr auch Kinder von Beamten, Offizieren, Bürgermeistern und Lehrern, die nicht gleich Hunderttausende auf dem Gewissen hatten, die sich jedoch, orientierungslos nach dem Verlust ihres Führers und seiner Machtordnung, einfügten in die große Phalanx des angstvollen, verstockten Schweigens, das ihren Nachfahren bis auf den heutigen Tag so zu schaffen macht. Das Schweigen wirkt fort. Zwei Drittel der Befragten wollten ihre Namen nicht nennen, sie kennt nur der Autor und der Verlag.
Alle Befragten wußten, daß ihr Interviewer zur Gruppe der Verfolgten ihrer Eltern gehörte, was nicht immer unproblematisch war: Eine Nazi-Tochter, Psychologin von Beruf, fühlte sich durch Sichrovsky »an ihren möglichen Täteranteil erinnert«. Gelegentlich reagierten die Gesprächspartner mit aggressiven Vorwürfen, daß der Autor es trotz der Schicksalsschläge in seiner Familie letztlich leichter habe als ein zu »lebenslänglich, Grund: Mördersohn« Verurteilter.
Als entscheidender Unterschied zwischen den Kindern der Täter und denen der Opfer tat sich für Sichrovsky auf, daß letzteren »die Angst und die Ungewißheit« fehle, was denn die Eltern während des Krieges getan haben könnten.
Informationen über die Greuel des Dritten Reiches erhielt die Masse der Nazi-Nachfolgegeneration erst spät, wenn überhaupt, gegen Ende ihrer Schulzeit. Seither sorgten Historiker und Publizisten für eine Flut von Informationen. Jedoch: Aufklärung über eventuelle Verbrechen der Eltern, soweit die nicht zu den verurteilten oder gesuchten Kriegsverbrechern gehörten, blieb meist privaten Nachforschungen vorbehalten.
Die Wut der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre ist möglicherweise auch zu erklären mit dem Ausmaß des Entsetzens über die Enttarnung der begangenen oder tolerierten Grausamkeiten einer weitgehend braunen Elterngeneration. Der Psychoanalytiker Erich Simenauer ging in einer äußerst umstrittenen Arbeit sogar soweit, in einigen Terroristen eine Art Wiederkehr der Verfolger von einst zu sehen.
20 Jahre zuvor waren diese Verfolger von ihren noch kleinen Kindern ganz anders erlebt worden: als Besiegte, Versehrte, Gedemütigte, sich vor den Fahndern der Alliierten Versteckende, als Flüchtende, Ausgebombte, ihrer Habe, ihrer Werte Beraubte - kurz: als Opfer.
Allerdings haben nicht wenige Kinder einstiger Nazis zu leiden gehabt unter den über den Zusammenbruch hinweggeretteten autoritären Erziehungsmethoden und faschistischen familiären Wertvorstellungen; doch hat andererseits so mancher der Befragten die Eltern als »stinknormal«, »liebend« und »treusorgend« empfunden.
Als »Opfer der Eltern« hätten sie sich meist erst gefühlt, als sie die wahre Rolle der Eltern während der Nazi-Zeit erfuhren. Derlei Aufschlüsse verstörten zutiefst, sie strafen jedes Gerede von der Gnade der späten Geburt Lügen.
Selten reagierten die Erben des Dritten Reichs auf die Schuldhypothek der Eltern ohne innere Qual und Erschütterung. Bei Sichrovsky sind jedenfalls jene rar, die sich den Verleugnungspraktiken der Eltern anschließen oder versuchen, deren individuelle Verstrickung zu relativieren.
In der »FAZ« schilderte vor vier Jahren Dörte von Westernhagen. Tochter eines SS-Offiziers der »Leibstandarte Adolf Hitler«, die Schmerzen der Betroffenen im Umgang mit der Erinnerung an den toten Vater. Es schien schier unmöglich, mit ihm. »Held und Verbrecher zugleich«, ins reine zu kommen.
Die Autorin, die gerade an einem Buch über die Probleme der Nazi-Kinder arbeitet, schlug sich in den Sechzigern auf die Seite der linken Studenten. Mitten in deren »Haß-Ausbruch, der die Abwehr der Alten noch gereizter« machte, entdeckte sie ihre »eigene, ganz private Unmenschlichkeit«. Ähnliche Gefühle, glaubt sie heute, wiesen möglicherweise einigen der Kommilitonen den »Weg in den Terror«.
Andere suchten ihr Seelenheil darin, sich mit den Opfern der Nazis zu identifizieren. Sei es, daß sie sich als »der Jude in der Familie« bezeichneten, daß sie als eine Art persönlicher Wiedergutmachung in israelischen Kibbuzim arbeiteten, demonstrativ den Davidstern anlegten _(In Polen. )
oder gar zum jüdischen Glauben übertraten.
Eines, glaubt »Schuldig geboren«-Autor Sichrovsky, treffe auf fast alle zu: Eine »positive Identifikation mit den Eltern« sei weitgehend gestört.
Nach den Begriffen der klassischen Freudschen Analyse bedeutet dies psychische Störungen, schlimmstenfalls Charakterdeformationen - wenn es nicht gelingt, sich von den Eltern abzulösen und Abschied zu nehmen vom Wunsch nach einem lupenreinen Elternbild.
Über Nazi-Kinder müßte die Wissenschaft eine Unmenge Material gesammelt und ausgewertet haben. Unvorstellbar, daß im allgemeinen Psychologisierungsboom der bundesdeutschen Nachkriegszeit, während dem sich Zehntausende von Experten anschickten, ein jedes unbekannte Wesen bis in den verschlungensten Seelenwinkel auszuleuchten, eine ganze Problemgruppe unter die Couch gefallen sein sollte.
Sie ist es anscheinend. Die Münchner Ärztin Anette Hahn beispielsweise fand zum Thema nur ein rundes Dutzend wissenschaftlicher Arbeiten in einschlägigen Bibliotheken und Institutionen.
Die bundesdeutschen Psychoanalytiker machten erst 1985 in Hamburg auf dem 34. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, der erstmals seit der Vertreibung der Juden auch aus ihrer Zunft wieder auf deutschem Boden tagte, den Versuch, sich dem Problemkreis, Identifikation und ihre Schicksale im Zusammenhang mit dem Nazi-Phänomen« zu nähern. Dies geschah nicht zuletzt auch auf Betreiben ausländischer Wissenschaftler wie etwa des Professors Milton Kestenberg aus New York, den schon lange die Frage umtrieb: »Was denken diese Nazi-Kinder über ihre Väter und Mütter?«
Von »Identifikationsproblemen« der Tochter eines hohen NS-Funktionärs berichtete in einer Arbeitsgruppe, von der die Öffentlichkeit unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht ausgeschlossen war, der Tübinger Analytiker Friedrich-Wilhelm Eickhoff. Es war der einzige deutsche Beitrag zum »Nazi-Phänomen«. Eickhoff hatte unter Fachkollegen umgefragt, wer denn noch Kinder von Nazis behandele. Ergebnis: kaum jemand.
Gleichwohl spielt der Nationalsozialismus »in jeder Analyse in Deutschland eine Rolle«, hält dem die Heidelberger Analytikerin Sophinette Becker entgegen, nur werde er nicht »zum Thema«.
Es gibt sehr persönliche Motive für Berührungsängste. Das liegt an der spezifischen Praxis der Anhänger der Freudschen Schule, wobei der Analytiker die Pein des Patienten »übertragen« bekommt.
Soweit bekannt, hat sich nie ein NS-Täter einem Analytiker gestellt. Dem Bösen im tiefsten Innern des Verfolgers ins Auge zu sehen wäre vermutlich für beide Beteiligten unerträglich.
Doch selbst noch bei Kindern von Tätern ist die Behandlung belastend. Während der »Vernichtungsphantasien« seiner Patientin habe er sich innerlich erstarrt »wie ein Stein« gefühlt, berichtete Eickhoff auf dem Hamburger Kongreß seinen Kollegen.
Zuweilen entsteht »in unserem Behandlungsraum etwas von dem, was Auschwitz und all die Unmenschlichkeit möglich und wirklich gemacht hat«, sagt die Heidelberger Psychoanalytikerin Barbara Vogt-Heyder, die auch schon Nazi-Kinder betreut hat. Wenn sie versuchte, Patienten dazu zu zwingen, die Identifikation mit ihren Nazi-Vätern aufzugeben, sei das »ein heftiges und sehr schwieriges Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen«, das von den Behandelten »nahezu wie der Zusammenbruch des Dritten Reiches für den Nazi-Vater« erlebt werde.
Für die Berliner Autorin Caroline Neubaur, die an dem Hamburger Kongreß teilnahm, wurde bei Eickhoffs Fall-Schilderung klar, »daß die Realität, die da behandelt wird, repräsentativ für das ganze Volk« stehe und es daher dringend »ärztliche Behandlung braucht«. Den Seelenkundlern wirft sie pauschal vor, verabsäumt zu haben, »der massenhaften Traumatisierung der Deutschen ins Auge zu sehen«.
Alles zu spät, glaubt zumindest Peter Sichrovsky, »die Sache ist bereits gelaufen«. Heute studierten bereits die Enkel der Täter auf den Universitäten, und deren Eltern hätten es verpaßt, »aus der Geschichte der Täter zu lernen. Das Schweigen der Täter kann zu einer Art Zeitbombe werden«.
Viele von Sichrovsky befragte Personen waren überzeugt, daß sich die Ereignisse der Nazi-Zeit wiederholen könnten. Diesen »neuen« Deutschen, einer wenig optimistischen Generation, hätten es die »alten« nicht eben leicht gemacht: »Sie kehrten unter den Teppich, bis man über den Haufen Dreck stolpern mußte.« Und: »Ob aus diesem Stolpern jemals ein sicherer Gang werden kann, bleibt abzuwarten.«
Zu früh geboren also für die bei konservativen Politikern gefragte »neue Identität«, den Sprung heraus aus dem Schatten der Vergangenheit?
Die nächste, die Generation der Enkel, kommt bei Sichrovsky auch zu Wort mit Stefanie. Sie fühlt sich unschuldig geboren, findet ihren SS-Großvater einen »geilen Typ« und möchte »einmal unter Siegern leben«. _(In Bergen-Belsen 1945. )
Peter Sichrovsky: »Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien«.Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 192 Seiten; 16,80 Mark.NS-Propagandaphoto von 1939.In Polen.In Bergen-Belsen 1945.