BULGARIEN Gesunde Familie
Das Gefühl der Klassenpflicht gegenüber der Revolution«. so klagte noch voriges Jahr das bulgarische ZK-Organ »Partijn Schiwot«, » ist bei manchen Arbeitern und besonders bei der jüngeren Generation nicht stark genug.«
Kein Grund zur Klage mehr: Die Arbeiter des Naiden-Kiroff-Kombinats im Industrieort Ruse, an der Grenze zu Rumänien, entwickelten nach dem polnischen Dezember-Aufstand 1970 revolutionäres Klassengefühl: Sie streikten,
Am selben Ort wurde dieses Jahr auch die jüngere Generation revolutionär: Es entstand eine konspirative Zelle.
Die jungen Bulgaren druckten und verteilten Flugblätter. Wegen »Teilnahme an einer illegalen Gruppe und Verbreitung verleumderischer Behauptungen in bezug auf den Staat und die gesellschaftliche Ordnung in der Volksrepublik Bulgarien« wurden drei der Illegalen verurteilt. Das meldete -- ohne Angabe des Strafmaßes -- Radio Sofia in seiner ständigen Staatsschutz-Sendung »Schild und Schwert«.
Die drei Verurteilten (die vom Rundfunk im Gefängnis Stara Sagora interviewt wurden):
Ljuben Petroff, der (so Radio Sofia) »aus einer guten. gesunden Familie mit positiver Einstellung zu unserer Regierung« stammt;
* Germinal Tschiwikoff, Student der deutschen Philologie an der Sofioter Universität und Mitglied des Staatsjugendverbands »Komsomol«; > Stefan Nessedoff. zur Bewährung freigelassen.
Anführer Petroff: »Ich möchte den Willen zum Kampf gegen die Partei und gegen die Sowjet-Union wecken, für volle Gleichheit, und vor allem: für demokratischen Kommunismus.« Öffentlich hatte er zudem erklärt: »Die Ischechoslowaken haben zu früh gehandelt, und das war ihr einziger Fehler.«
Vater Petroff -- gut, gesund, positiv beschuldigte den Studenten Tschiwikoff, die Rolle eines Links-Kommunisten gespielt zu haben, und entschuldigte seinen Sohn: Der war
unzufrieden mit einer Reihe schlechter Dinge --- die sozusagen unvermeidliche Begleiterscheinungen unserer Entwicklung im gegenwärtigen Stadium sind. Mit seinem jugendlichen Feuer und Enthusiasmus sah und fühlte er diese Dinge in einem viel dunkleren Licht. Er hat übertrieben. Er sah den Wald vor Bäumen nicht und war bereit, sein Haus abzubrennen, um die Mäuse loszuwerden. Die Staatsanwaltschaft hatte auch ermittelt, wo die jungen Leute ihre rebellischen Gefühle her hatten: von einem »nicht unbekannten deutschen Juden. Linksrevolutionär und Phrasendrescher«. Gemeint war Daniel Cohn-Bendit. dessen Buch »Linksradikalismus« (Ko-Autor: Bruder Gabriel) bei dem deutsch sprechenden Tschiwikoff gefunden worden war.
Die Sendung von Radio Sofia -- am 16. Juli -- hieß »Cohn-Bendit und seine unseligen Freunde aus Ruse« und diente offenbar der Abschreckung: Die radikale Stimmung wächst nicht nur im revolutionären Ruse.
»Zweifel an der Richtigkeit unserer Ideen« hatte Politbüro-Mitglied Boris Weltscheff schon früher gemeldet. Er gab die Schuld dem »skrupellosen Imperialismus«, der »unser Land von innen demoralisiert und infiltriert, indem er seine Hauptstoßrichtung gegen die Jugend ansetzt«.
Und Komsomol-Chef Iwan Paneff nannte noch andere Schuldige: Bulgaren der älteren Generation, »die der Jugend gern Ratschläge erteilen möchten. ihre Gefühle aufputschen und sie dazu anstiften, sich von der Partei und ihrer Führung zu trennen«.