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»Gewissen entzieht sich der Taktik«

aus DER SPIEGEL 46/1977

In einem zehnseitigen Positionspapier nimmt der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Hansen generell das Recht in Anspruch, wie beim Kontaktsperregesetz gegen die Fraktionsdisziplin zu verstoßen.

Wenn Rechtsgüter wie freie Wahl des Verteidigers. Anspruch auf rechtliches Gehör, die Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten berührt sind und die Summe der vorgenommenen Verschärfungen (Vorschriften über Untersuchungshaft, Verteidigerausschluß, Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten. Überwachung des Schriftverkehrs zwischen Mandant und Verteidiger, Kontaktsperre) an den Kern rechtsstaatlicher Solidarität rührt, gibt es gewiß gute Gründe für die Annahme, daß die Ablehnung des »Kontaktsperre«-Gesetzes. zu den »an einer Hand« aufzählbaren (Willy Brandt) Fällen von Gewissensentscheidungen im Parlament gehören ...

Wer ein solches Verhalten als »bürgerlichen Individualismus« (Horst Ehmke) oder als »Ungehorsam« (Karl Liedtke laut »Welt« vom 8. 10. 1977) disqualifiziert, muß sich fragen lassen, ob er den Absatz 1 des Artikels 38 im Grundgesetz ("Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen") nur als dekoratives Versatzstück der Verfassung ansieht, dessen Inanspruchnahme mit Sanktionen zu ahnden ist. Eine, nach sorgfältigem Abwägen des Für und Wider, nach bestem »Wissen« also, getroffene »Gewissens«-Entscheidung entzieht sich per definitionem taktischem Kalkül und fraktioneller Opportunität. Andernfalls ist sie keine ...

Nun gibt es Stimmen, die dem Verzieht auf Gewissensentscheid um der Geschlossenheit der Fraktion und der Unterstützung der Regierung willen das Wort reden. Auch Willy Brandt hat davor gewarnt, durch »Einzelgängerei, Selbstgerechtigkeit oder Unbedachtsamkeiten« die Regierungsfähigkeit zu erschüttern. Fraktionsdisziplin ist notwendig, um parlamentarische Mehrheiten und damit die Funktionsfähigkeit der Regierung zu sichern. Dies ist der Normalfall und ständige Praxis ... Ein sozialdemokratischer Abgeordneter hat mit seinem Mandat jedoch nicht den Auftrag übernommen, irgendwie die Regierung his zum Ende der Legislaturperiode an der Macht zu halten, sondern er hat durch ständiges Drängen dafür zu sorgen, daß diese Regierung sozialdemokratische Politik verwirklicht

Ebenso unzweifelhaft wie im Normalfall Geschlossenheit zur Funktionstüchtigkeit einer Fraktion gehört, stehen wirkliche Gewissensentscheidungen dazu nicht in Konkurrenz. Diese Inkompatibilität ist bestenfalls vermittelbar über den von Sozialdemokraten in Anspruch genommenen Grundwert »Solidarität« ...

Wenn »Solidarität nirgendwo im Leben eine Einbahnstraße« ist (Helmut Schmidt), dann sollte eine Minderheit in den Ausnahmefällen einer Gewissensentscheidung mit der solidarischen Toleranz der Fraktionsmehrheit rechnen dürfen, ohne als gesinnungslose Lumpen mit dem Ausschluß aus der Solidargemeinschaft bedroht zu werden.

Im übrigen wäre jetzt Gelegenheit und vielleicht die Zeit, über ein neues Selbstverständnis der Fraktion als Treuhänder zwischen Partei und Regierung im Sinne einer basisverpflichteten kritischen Solidarität nachzudenken ... Nur ein durchgreifender Wandel der Rolle und des Selbstverständnisses der Fraktion kann die Bedingung der Möglichkeit herstellen, die Prägekraft der Partei auf Regierungsentscheidungen spürbar zu verstärken, damit Reformwilligkeit wieder zu den Grenzen des politisch Möglichen (gerade auch in Koalitionen) vorstößt. Dazu müssen die Fraktionen ihre Rolle als Treuhänder und Sachwalter von Parteiprogrammen und Parteitagsbeschlüssen gegenüber der aus ihren Reihen gebildeten Regierung neu begreifen. Ihr Verhältnis zur Regierung muß als »kritische Solidarität« verstanden und ausgefüllt werden.

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