»Gib das mal den Mädels«
Elf Jahre lang habe ich bei einem Armeesportklub gearbeitet. Ich war Offizier, obwohl ich im Grunde nie Offizier werden wollte. Alles, was ich anstrebte, war ein Sportstudium und der Posten eines Trainers. Weil sich dieses Ziel bei der Nationalen Volksarmee jedoch schneller erreichen ließ als auf zivilem Weg, habe ich die Uniform in Kauf genommen.
Als Schwimmtrainer hatte ich zügig Erfolg: zunächst als Sportoffizier bei einer Pioniereinheit in Havelberg, später dann, seit Dezember 1978, beim Armeesportklub (ASK) Potsdam. Ich habe hier mit einer Gruppe von zwölfjährigen Jungen gearbeitet, die bald darauf bei den »Jugendwettkämpfen der Freundschaft« ihre ersten Siege verbuchten. Es gelang mir, sogenannte Ausschulungskandidaten - Sportler, die nach allgemeiner Auffassung das Ende ihrer leistungssportlichen Enwicklung bereits erreicht hatten - neu zu motivieren. Kurz: Ich habe immer und überall mein Plansoll erfüllt.
Unvermittelt kam dann der Tag, an dem ich, so kommt es mir jedenfalls heute vor, endgültig als vollwertiges Mitglied des DDR-Sports akzeptiert und in dessen tiefere Geheimnisse eingeweiht wurde. Das geschah so beiläufig und so selbstverständlich, daß ich es zunächst gar nicht als etwas Besonderes erkannte.
Ich war damals, im Juni 1987, für eine Gruppe von 12- bis 14jährigen Schwimmerinnen verantwortlich. Unter ihnen hatte ich zwei Mädchen mit überdurchschnittlichem Talent entdeckt: Grit Müller und Diana Block. Beide waren zwar erst 13 Jahre alt, schwammen aber schon so schnell, daß sie bei der Jugend-Europameisterschaft in Rom an den Start gehen sollten.
Wie jeden Tag stand ich während des Trainings am Beckenrand, als mich der beim ASK Potsdam für die Sektion Schwimmen zuständige Arzt Jochen Neubauer zu sich ins Zimmer 131 an der Kopfseite der Halle bat.
Neubauer schloß die Tür hinter sich, wir saßen uns an seinem kleinen Konferenztisch gegenüber. Dann legte er einen verschlossenen Briefumschlag auf den Tisch.
»Paß mal auf«, sagte der Arzt, »hier sind ein paar Pillen drin. Red da mal nicht drüber und gib denen, die zur Europameisterschaft fahren, pro Tag eine halbe Tablette. Du wirst sehen, das ist gut so.«
In dem Umschlag waren zwölf blaue Tabletten, rund, etwa vier Millimeter lang. Jeweils eine halbe davon sollte ich den Schwimmerinnen während der nächsten zwölf Tage verabreichen - »und zwar am besten so, daß sie nichts davon merken«, wie Dr. Neubauer betonte. Der Einfachheit halber könne ich die Pillen in Wasser auflösen und sie dann »dem Vitamingetränk beimischen«. Auf meine Frage, was das denn überhaupt für ein Mittel sei, meinte Neubauer lapidar: »Das erkläre ich dir ein andermal. Gib das mal, ist schon okay.«
Schließlich klärte er mich noch über mögliche Nebenwirkungen auf. »Die Mädels«, meinte er, würden durch diese Tabletten vermutlich »ein bissel lustiger« werden, und sollte eine Sportlerin zudem »über Verspannungen klagen«, so müsse ich eben mal einen Tag mit der »Gabe« aussetzen.
Weil uns beide zu diesem Zeitpunkt schon ein absolutes Vertrauensverhältnis verband, habe ich an diesem Tag keine weiteren Fragen gestellt und mich strikt an die Anweisungen gehalten.
Bis dahin hatte ich meinen Sportlern täglich eine Vitaminmixtur mit Traubenzucker, Zitrone, bisweilen auch Eisen und Kalium-Magnesium angesetzt und sie in die jeweils mit Namensschildern versehenen Plastikflaschen abgefüllt. In den Trainingspausen tranken die Mädchen daraus. Grit Müller und Diana Block nahmen so in den kommenden zwölf Tagen zusätzlich eine halbe dieser blauen Tabletten ein - ohne es zu wissen.
Die beiden Mädchen haben dann ein knallhartes Trainingspensum absolviert. Sie sind ihre Strecken geschwommen, aus dem Becken gestiegen und haben sich enorm schnell regeneriert, so daß sie gleich anschließend dieselbe Serie noch einmal hätten bewältigen können. Diese Leistungssteigerung habe ich seinerzeit darauf zurückgeführt, daß ein Wettkampf wie die Jugend-Europameisterschaft offenbar eine ganz besondere Motivation darstellen muß.
Wenn ich heute darüber nachdenke, muß ich mir vorwerfen, grenzenlos naiv gewesen zu sein. Ich hatte mir damals einfach gedacht: Die Mädchen kriegen ja ohnehin schon eine Unmenge von diesem Pillen-Zeug - und jetzt kriegen sie eben eine Sorte mehr. Eine Sorte, die man halt nur vor dem Wettkampf nimmt. Heute weiß ich, daß dies nur die halbe Wahrheit war.
Denn als ich den beiden 13jährigen damals eine neue Sorte in die Flasche mischte, habe ich sie gedopt - ohne daß es mir und ihnen bewußt war. Ich habe ihnen ein Anabolikum verabreicht. Es heißt Oral-Turinabol. Auf Rezept ist es in jeder Apotheke der DDR als Medikament gegen Muskelschwund erhältlich.
Daß solche Mittel im DDR-Sport verwendet werden könnten, hielt ich damals für undenkbar. Denn ich habe jahrelang grundsätzlich nur an das Gute im Sozialismus geglaubt. Ich war ein überzeugter Kommunist. Meine Freunde sagten mir damals nach, ich sei jemand, der immer auf der obersten Zinne stehe und die rote Fahne schwenke. Ich habe an die Partei geglaubt, an den Staat, an die Gesellschaft.
Deshalb faszinierte mich gerade der Leistungssport: eine absolut starke Sache, ein ehrliche Sache; ein Gebiet, auf dem der Sozialismus stets bewiesen hat, daß er das bessere System ist.
Als dann der Doktor kam, der mir in Potsdam über Jahre hinweg geholfen hatte, der sich aufgerieben hatte für die Mannschaft, und mir die Pillen in die Hand drückte, da dachte ich nur: Es ist gut so, der Mann versteht sein Fach, und er hat eben die Möglichkeit, unsere Sportler besser auf Wettkämpfe vorzubereiten als andere.
Die Ergebnisse der Mädchen in Rom haben mich in diesem Irrglauben bestärkt. Grit Müller gewann den Wettkampf über 800 Meter Freistil. Zwei Tage zuvor hatte sie in einem Abstand von zirka 40 Minuten bereits zwei schwere Strecken bewältigt und dabei jeweils die Bronzemedaille gewonnen - über 400 Meter Freistil und 400 Meter Lagen. Solche Leistungen, das weiß ich aus meiner heutigen Erfahrung, sind fast ausschließlich auf die Einnahme von Anabolika zurückzuführen.
Genauso arglos wie ich waren seinerzeit auch die Sportler. Doping existierte nach ihrer Vorstellung allenfalls im kapitalistischen Ausland.
Nun mußten wir die Athleten allerdings darauf vorbereiten, daß sie sich bei internationalen Wettkämpfen möglicherweise einer Dopingkontrolle zu unterziehen hätten. Dieses Problem wurde in der DDR nach Art des Landes überaus heuchlerisch gelöst.
Während der Europameisterschaft in Rom etwa gab der damalige Mannschaftsleiter Wolfram Allendorf der versammelten Truppe eine »mündliche Einweisung": »Also, paßt mal auf«, hieß es dabei, »wir befinden uns hier sozusagen auf Feindgebiet. Die Kapitalisten wollen uns am Zeug flicken.« Besonders gefährlich werde es immer bei »diesen Dopingkontrollen - um uns zu überführen, versuchen die, uns dieses Zeug heimlich in die Vitaminflaschen zu füllen«. Jeder habe deshalb peinlich genau darauf zu achten, daß seine Flasche niemals unbeobachtet bleibe.
In Wahrheit wurde in den letzten Jahren nur deshalb nie einer erwischt, weil die Anabolika nach einem ausgetüftelten System verabreicht werden. Aber das habe ich erst später begriffen.
Die nächste Lektion bekam ich Ende September 1987. Wieder bat mich Jochen Neubauer in sein Zimmer. Er legte ein vorgefertigtes DIN-A 4-Blatt auf den Tisch. Ich hätte ja mitbekommen, meinte der Arzt, »daß wir da bestimmte Sachen machen, die nicht ans Licht der Öffentlichkeit gehören«. Und da ich jetzt eine feste Größe in der Konzeption des ASK Potsdam sei, würde er mich »bitten, das hier mal eben zu unterschreiben. Die entsprechenden Informationen bekommst du noch von mir«.
Auf dem Formular stand dem Inhalt nach folgendes: Hiermit wird der Unterzeichner darauf aufmerksam gemacht, daß alles, was im Zusammenhang mit den »Unterstützenden Mitteln« (UM) steht, der strengsten Geheimhaltung unterliegt. Ein Verstoß gegen diese Geheimhaltungsvorschriften wird bestraft.
Ich wollte wissen, was UM zu bedeuten hat, doch ich bekam keine Antwort. Ich habe das Formular dennoch sofort unterschrieben, weil ich im Hochleistungssport weiterarbeiten wollte. Das Gespräch hat nicht einmal zehn Minuten gedauert.
Vier Wochen später erklärte mir Jochen Neubauer den Begriff UM. Dies sei lediglich »ein Beitrag von medizinischer Seite, der die Sportler belastungsverträglicher macht und auch psychisch ein bißchen lockerer«.
Ende Oktober wurde mir der Posten des Trainers für die weibliche Spitzengruppe des ASK Potsdam angedient. Dazu gehörten neben Grit Müller und Diana Block noch Katrin Gronau, Heide Grein, Corinna Meyer, Franziska Zietemann und Andrea Koch. Ich war nun dafür verantwortlich, möglichst vielen von ihnen die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1988 in Seoul zu ermöglichen. Als erster, ernsthafter Test für Korea stand damals der Europacup in Monte Carlo vom 12. bis zum 13. Dezember 1987 auf dem Programm.
Als Vorbereitung darauf sollte, so erfuhr ich von Doktor Neubauer, ein sogenannter Zyklus - also die Verabreichung von UM über zwölf Tage hinweg - durchgeführt werden. Zum erstenmal erhielt ich nun die Tabletten nicht mehr in einem Briefumschlag, sondern original verpackt. Dabei ordnete der Arzt an, ich solle die Pillen rausdrücken und die Folien dann mitsamt der Packung vernichten - »und zwar so, daß es niemand merkt«.
Ich habe also die Pillen im verschlossenen Trainerraum aus den Folien rausgedrückt, habe die Dinger mit nach Hause genommen und dort im Ofen verbrannt. Selbst meine Frau hat davon nichts mitbekommen. Es blieb eine Angelegenheit zwischen dem Arzt und mir.
Unvermittelt war ich in eine Zwitterrolle geraten: Einerseits wußte ich, daß sich die Parolen vom sauberen DDR-Sport als eine Mär entpuppt hatten, andererseits war ich nun so etwas wie ein Geheimnisträger und somit unversehens in die Rolle des Mittäters geschlittert.
Meinen Sportlerinnen erzählte ich wider besseres Wissen lediglich von »sportmedizinischen Maßnahmen«, die »keinerlei Nachteile« nach sich ziehen würden. Im Gegenteil: »Wenn ihr die anderen schlagen wollt, wird euch nichts anderes übrigbleiben, als mitzumachen.« Ich habe die Mädchen dann einzeln zum Arzt geschickt. Auch sie mußten dann dieses Formular unterschreiben, womit sie zur Geheimhaltung verpflichtet waren. Selbst mit ihren Eltern durften sie nicht darüber reden.
Solche Praktiken empfand ich zwar als unsauber, dennoch hatte ich kein schlechtes Gewissen dabei. Ich war davon überzeugt, daß der Kapitalismus ausschließlich das Scheitern unseres sozialistischen Systems zum Ziel hat. Um das zu verhindern, dachte ich, mußten alle Mittel erlaubt sein. Zudem hatte mir der Doktor versichert: »Es machen ohnehin alle, auch die im Westen. Wir machen es nur ein bißchen besser.«
In der Tat konnte ich dann beobachten, daß auch die Trainer der männlichen Gruppen, Jürgen Höfner und Lutz Wanja, das Büro des Arztes mit denselben Medikamentenschachteln verließen wie ich. Solche Kurzbesuche in Zimmer 131 wurden fortan zu einer Selbstverständlichkeit - wenn ein Zyklus begann, wurden wir reingerufen, dann gab es dieses Zeug.
Für die älteren Sportler gehörten die Anabolika ohnehin längst zum Alltag. Zuweilen mußten die Pillen sogar für Scherze herhalten. Wenn etwa jemand im Kraftraum, wo sich auch Leichtathleten, Kanuten und Turner aufhielten, zur Hochform auflief, machten schon mal Sprüche wie: »Hast wohl wieder drei Blaue eingeworfen« oder »Der hat zuviel Kristall gefressen« die Runde. Die Zeiten, in denen den DDR-Sportlern die muskelbildenden Präparate noch mit dem Suppenlöffel verabreicht wurden und die Mädchen teilweise mit Baritonstimmen herumliefen, waren jedoch längst passe.
Die Anwendung der Anabolika wurde zentral gesteuert. In Ost-Berlin saß eine Kommission, die jedes Jahr ein »Programm für die sportmedizinische Unterstützung« erstellte - dies diente keinem anderen Zweck als dem systematischen Aufbau der Athleten mit Anabolika.
In solchen Programmen wird detailliert festgehalten, welcher Sportler in welchem Klub zu welchem Zeitpunkt UM einzunehmen hat. Nur die Dosierung wird vor Ort bestimmt. Am Ende eines Trainingsjahres erfahren die Herren in Berlin dann, wieviel Tabletten jeder Sportler in den letzten zwölf Monaten eingenommen hat - denn die Trainer sind verpflichtet, über jeden Zyklus penibel Protokoll zu führen.
Die sportmedizinische Kommission verschickte ihre aktuellen Pläne nur an die Klubärzte, die dann die Trainer informierten. Jochen Neubauer etwa hatte bei solchen Gesprächen meist den Ordner mit den Terminen für meine Sportler vor sich liegen. Die Anordnungen wurden stets genau befolgt, denn sie garantierten perfektes Timing - nie wurde ein Mitglied des ASK Potsdam des Dopings überführt.
Um diese Gefahr vollkommen auszuschließen, darf kein Sportler das Land verlassen, der sich vorher nicht einer Dopingprobe unterzogen hat. Dafür zeichnet das »Zentrale Dopingkontrollabor des Sportmedizinischen Dienstes« in Kreischa, einem kleinen Ort unweit von Dresden, verantwortlich. Hier wird rund um die Uhr gearbeitet.
Jeweils eine Woche vor der Abreise zu Wettkämpfen im Ausland mußten sich etwa die Sportler des ASK Potsdam morgens um sechs Uhr im Klub einfinden, um ihre Urinprobe abzugeben. Regelmäßig zwischen sechs und halb sieben fuhr dann ein »Barkas«, ein Kombiauto mit Wartburg-Motor, vor, sammelte die Proben ein und fuhr stracks zurück nach Kreischa. Wenige Tage später wurden dem Klubarzt die Ergebnisse telefonisch übermittelt.
Nur einmal habe ich es erlebt, daß aus Kreischa ein positiver Befund übermittelt wurde. Während eines Trainingslagers in Lindow wurde uns mitgeteilt, daß ein Nachwuchsschwimmer aus Halle »positiv« sei und mithin die Reise ins Ausland nicht antreten dürfe. Um den Zwischenfall zu vertuschen, rief die Mannschaftsleitung sämtliche Athleten zusammen und gab eine »dringende Einweisung": Jeder solle streng darauf achten, »daß er auch alle Reiseunterlagen zusammen hat«. Andernfalls könne es einem ähnlich ergehen wie dem armen Sportfreund aus Halle: »Dem fehlt nämlich ein wichtiges Dokument, der darf nicht mit.«
Das verschleiernde Gerede war typisch. Zumindest die älteren Sportler wissen, daß jeder von ihnen mit leistungsfördernden Mitteln versorgt wird. Darüber gesprochen wird allerdings nie, und zugeben würde es auch niemand. Das führt zwangsläufig immer wieder zu skurrilen Situationen.
So spielte sich während des Zyklus in der Potsdamer Schwimmhalle zur Vorbereitung auf den Europacup 1987 eine merkwürdige Zeremonie ab. Gemeinsam trainierten fünf Gruppen in dem 50 Meter langen und 15 Meter breiten Becken. Jede Gruppe hatte einen eigenen Trainer. Als die Schwimmer ihr Pensum absolviert hatten, bauten die Trainer um das Becken herum jeweils einen quadratischen Tisch auf. Jede Gruppe mußte nun bei ihrem Betreuer anstehen, um sich - so die offizielle Version - ihre »Vitamine« abzuholen.
Ich war zu dieser Zeit für acht Sportlerinnen verantwortlich - auf meinem Tisch also hatte ich acht Häufchen mit verschiedenen Vitaminen, Eisen und Kalium-Magnesium zusammengestellt. In meiner Umhängetasche auf dem Boden befand sich zudem ein Medizinfläschchen mit Oral-Turinabol-Tabletten. Sie durften nicht auf den Tisch gelegt werden, sondern mußten sofort und möglichst unauffällig geschluckt werden. Die Übergabe erfolgte deshalb in Form eines beherzten Händedrucks.
Die Schwimmerinnen streckten mir nacheinander ihre Handflächen entgegen, die Innenseite nach oben gekehrt. Dann reichte ich jeder einzelnen meine Rechte und übergab so die »Blauen«. Die Mädchen schlossen ihre Hand zur Faust und führten sie zum Mund. Einmal hatte ich vergessen, Grit Müller ihre Tablette in die Hand zu drücken. Sie blieb einen Moment am Tisch stehen und sagte dann: »Herr Regner, da fehlt noch was.«
Zwar konnte jeder in der Halle diese Rituale beobachten, aber niemand hat darüber gesprochen. Zudem durfte kein Trainer vom anderen wissen, wieviel er welchem Sportler gibt. Denn die wirkungsvolle Versorgung der Sportler mit Anabolika garantiert den Erfolg und mithin die Reputation jedes Trainers - an diesem Punkt hört die Kollegialität auf. Ich habe das erfahren, als ich einmal von Lutz Wanja wissen wollte, welche Menge er seinen Sportlern verordnet. Da hat er nur milde gelächelt und gesagt: »Das mußt du schon selber rauskriegen.« Die Dosierung darf ein Trainer nur mit dem Arzt abstimmen.
So hat mir dann anfangs auch Jochen Neubauer ein Konzept für meine Gruppe ausgearbeitet. Danach bekamen die älteren Sportler die blauen Fünf-Milligramm-Tabletten aus der Originalverpackung, für die jüngeren bekam ich in einem Briefumschlag Ein-Milligramm-Tabletten - weiße, gelbe, manchmal auch rosafarbene.
Ich habe beim Zyklus die »Gabe« dann unserem Trainingsverlauf angepaßt, den wir »Dreieinhalb-Tage-Rhythmus« nannten. Drei Tage lang wurde das volle Pensum absolviert - während der ersten zwei Tage gab ich den Schwimmerinnen jeweils eine halbe Tablette, am dritten Tag eine ganze. Am vierten Tag wurde nur vormittags trainiert, deshalb bekamen sie nichts.
In solchen Phasen haben alle Mädchen im Schnitt ein bis zwei Kilogramm zugenommen, was fast ausschließlich auf Muskelzuwachs zurückzuführen war. Ich machte zudem die Erfahrung, daß meine Dosis für Langstreckler zu hoch war - Heide Grein zum Beispiel wurde davon ziemlich fest, das heißt, ihre Muskeln verspannten sich. Für Brust- und Lagenschwimmerinnen war die Menge optimal, auch die Jüngeren zeigten die erwartete Leistungssteigerung.
Denselben Zyklus wiederholten wir dann vor den DDR-Meisterschaften im Juli 1988, bei denen es um die Nominierung zu den Olympischen Spielen ging. Die Reise nach Seoul fand allerdings ohne mich statt, weil keine meiner Sportlerinnen die Qualifikation geschafft hatte. Vom ASK Potsdam fuhren lediglich der spätere Olympiasieger Uwe Daßler sowie Jörg Hoffmann und Susanne Börnike nach Korea, als Trainer wurde Lutz Wanja mitgeschickt.
Der Dopingskandal von Seoul um den Kanadier Ben Johnson hat den DDR-Sport in Panik versetzt. Daß einer der weltbesten Athleten erwischt worden war, wirkte wie ein Schock. Keiner wußte, ob Doping nun überhaupt noch eine Zukunft haben würde.
In dieser Situation, es war im November 1988, sprach ich bei einer Tasse Kaffee den Kollegen Lutz Wanja in unserem Dienstzimmer neben der Schwimmhalle erstmals auf das Thema an.
Auf meine Zweifel fand er nur eine knappe Antwort. Es mache ohnehin jeder, Doping sei »allgemein üblich« - »und wenn du es nicht machst, dann bist du schön blöde«.
Einen Monat vor diesem Gespräch hatte der Schwimm-Cheftrainer des ASK, Knut Kempa, eine überraschende Order ausgegeben: »Es läuft nichts mehr«, ließ er uns wissen. Zwar suche der Sportmedizinische Dienst nach neuen Wegen, »aber erst mal ist stop«. Später erfuhr ich von Jochen Neubauer, daß in dieser Zeit neue Dopingmittel ausprobiert wurden, die aus Nasenspray-Fläschchen eingenommen wurden. Dieses Experiment habe sich aber, so der Doktor, »nicht bewährt«.
Ausgerechnet während dieser heiklen Phase wäre mir meine Arglosigkeit beinahe zum Verhängnis geworden. Ich lag seinerzeit mit einer Grippe zu Hause, und Knut Kempa hatte meine Trainingsgruppe übernommen. In meinem Zimmer suchte er nach den Trainingsplänen.
Den Schlüssel zu meinem Schreibtisch hatte ich verloren, und so konnte er die Schubladen durchsuchen. Dabei fand er im untersten Fach einige Oral-Turinabol-Folien - ich hatte vergessen, sie zu vernichten. An meinem ersten Arbeitstag bat er mich in sein Büro und kanzelte mich ab: »Wenn das noch mal passiert, bist du in diesem Bereich untragbar.«
Zwei Monate hielt die Unsicherheit an, wann und wie denn jetzt gedopt werden solle. Im Januar 1989 fand dann in Lindow ein Treffen hochrangiger Trainer und ausgesuchter Ärzte statt. Jürgen Tanneberger, unser Verbandstrainer, berichtete, daß andere Verbände, etwa die Kanuten, auch nach Seoul »ohne Unterbrechung« weitergemacht hätten. Offensichtlich sei »alles nicht so schlimm« wie ursprünglich befürchtet. Schließlich erhielten wir Order von der Sportmedizinischen Kommission: »Zunächst einmal weiterarbeiten wie gewohnt.«
So konnte ich erfahren, daß ich noch längst nicht in alle Geheimnisse eingeweiht worden war. Der nächste Zyklus war für die Zeit vom 4. bis zum 13. April 1989 angesetzt - er sollte die Schwimmer auf einen Länderkampf gegen die Sowjetunion in Gera vorbereiten.
Während dieser Phase eröffnete mir Jochen Neubauer, daß die Gabe von Oral-Turinabol lediglich die erste Phase der perfekten Vorbereitung sei. Dieses Stadium nenne man »M 1«. Anschließend sollte ich vier Tage lang eine andere Sorte von Medikamenten verabreichen. In Fachkreisen nenne man das »M 2«. Vom 14. bis zum 17. April gab ich jeder Sportlerin täglich eine weiße Fünf-Milligramm-Tablette, die ich wiederum in einem Briefumschlag vom Doktor bekommen hatte - es sollte die Einnahme von Oral-Turinabol vertuschen.
Bis zur Europameisterschaft im August in Bonn mußte dieser Zyklus noch zweimal wiederholt werden, und zwar jeweils während eines Höhen-Trainingslagers. Besonders heikel ist bei solchen Reisen der Transport der Anabolika.
Bevor ich am 4. Mai ins Trainingslager nach Zachkadsor in Armenien aufbrach, mußte ich sämtliche Pillen in ein undurchsichtiges, mit meinem Namen versehenes Fläschchen packen, das unser Verbandsarzt Horst Tausch auf dem Flughafen in Empfang nahm. Nachdem jeder Trainer seine Medikamente abgegeben hatte, verstaute Tausch sie in seinen Medizinkoffer, den er dann verplombte. Die Tabletten für meine Sportler habe ich erst wieder in der Sowjetunion ausgehändigt bekommen.
Der »M 1«-Zyklus sollte hier vom 7. bis zum 27. Mai durchgeführt werden. Während der ersten Woche habe ich damit allerdings ausgesetzt, die Zeitspanne war mir einfach zu groß. Meinen Sportlerinnen habe ich das so erklärt: »Paßt auf Mädels, der Zyklus ist mir zu lang. Hier geht es nur um die Vorbereitung auf die DDR-Meisterschaften, und wir wollen ja nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.«
Die DDR-Meisterschaften begannen am 13. Juni, deshalb sollte vom 28. bis 31. Mai »M 2« verabreicht werden. Jeweils zwölf Tage vor einem Wettkampf nämlich dürfen keine Tabletten mehr eingenommen werden. Hier habe ich auch auf »M 2« verzichtet, weil ich die Athleten nicht überfüttern wollte.
Im Sportkomplex von Zachkadsor bewohnte ich im zweiten Stock des Hotels gemeinsam mit Stefan Hetzer, dem Trainer der sechsfachen Olympiasiegerin Kristin Otto, ein Zimmer. Zum erstenmal war ich im Kreis der Nationalmannschaft unterwegs. Und spätestens hier wurde mir endgültig klar, daß unsere Methoden aus Potsdam mit denen im gesamten DDR-Schwimmsport identisch waren.
Häufig haben wir während dieser Tage abends in unserem Zimmer zusammengesessen. Wir haben dann Musik gehört, und jeder hat dabei auf dem Tisch die Tabletten - Vitamine, Eisen und auch die »Blauen« - für den nächsten Tag abgezählt. Stefan Hetzer war der einzige Kollege, mit dem ich offen über das Thema Doping reden konnte.
So erzählte er mir beispielsweise, daß seine beiden Parade-Schwimmerinnen, Kristin Otto und Silke Hörner (zweimal Gold in Seoul), im Zuge der allgemeinen Angst vor verschärften Kontrollen »erst mal bis zu den DDR-Meisterschaften sauber bleiben« sollten. Vermutlich würden sie während des ganzen Jahres »nichts kriegen« - denn je häufiger man diese Präparate benutze, um so höher müsse die Dosis beim nächsten Mal sein, damit überhaupt noch eine Wirkung erzielt werde. Lediglich seine jüngeren Sportler, erklärte er mir, sollten weiterhin am Zyklus beteiligt werden.
In Armenien habe ich am eigenen Leib erfahren, welche durchschlagende Wirkung Anabolika haben können. Denn hier habe ich meinen zweiten »Selbstversuch« unternommen - ich habe mich selber gedopt, um die Folgen wirklich beurteilen zu können.
Beim ersten Selbstversuch vor den DDR-Meisterschaften 1988 hatte ich exakt dieselbe Menge Tabletten eingenommen, die auch meine Sportler bekamen. Täglich trainierte ich dann etwa drei Stunden, nahm dabei durch Muskelzuwachs etwa eineinhalb Kilo zu - und war am Ende schlichtweg frischer.
Beim zweiten Mal setzte ich die Dosen wesentlich höher an und schluckte täglich bis zu zehn Milligramm, also zwei Tabletten Oral-Turinabol. Zudem trainierte ich wie ein Besessener - zwei Stunden Krafttraining pro Tag und obendrein mindestens zwei Stunden Tennis oder Jogging. Das Ergebnis: ein Faserriß im Oberschenkel und permanente Krämpfe in der Nacht, so daß mich Stefan Hetzer massieren mußte. Gleichwohl fühlte ich mich körperlich in einer phantastischen Verfassung, ich hatte fast vier Kilogramm zugelegt.
Mir ist dabei klargeworden, welchen Anteil diese Drogen tatsächlich am Erfolg des DDR-Sports haben. Bei entsprechendem Talent und entsprechendem Training haben Anabolika eine ungeheure Fahrstuhlwirkung. Jugendliche im Alter von 14 oder 15 Jahren werden damit systematisch aufgebaut und so in relativ kurzer Zeit auf Weltklasse-Niveau gehievt. Ohne dieses Zeug könnten sie diese Leistung wohl nur schwer erbringen. Das ist wie mit einem Motor, der getunt wird.
Wenn solche Pillen unverantwortlich geschluckt werden, kann das fatale Folgen haben. Und offenbar gibt es in der DDR auch heute noch Trainer, die ihre Sportler hemmungslos vollstopfen.
So mußte ich etwa während des Höhentrainingslagers im mexikanischen Toluca, wo die unmittelbare Vorbereitung auf die Europameisterschaft in Bonn stattfand, auch die Rostocker Schwimmerin Anja Eichorst betreuen. Vor dem Abflug klärte mich ihr Heimtrainer Ingolf Jopke über die Dosierung auf: Das Mädchen sollte am Tag bis zu zehn Milligramm schlucken. Das hielt ich für absoluten Wahnsinn und gab ihr während des Zyklus vom 7. bis zum 31. Juli die gleiche Menge wie den anderen Schwimmerinnen auch.
In diesen Tagen habe ich zum erstenmal ernsthaft daran gedacht, aus diesem Geschäft auszusteigen.
Auf dem Flug von Ost-Berlin nach Mexiko fiel mir vor der Zwischenlandung in Amsterdam ein, daß ich vergessen hatte, meine Medikamente vorher beim Verbandsarzt abzugeben. Die Pillen lagen noch in meinem Handgepäck, einer blauen Umhängetasche, irgendwo zwischen Fotoapparat und Stoppuhren.
Ich habe mich neben Doktor Tausch gesetzt und ihn gefragt, wie ich mich verhalten soll. Mit aschfahlem Gesicht gab er mir den Rat: »Behalt sie am Mann und sieh zu, wie du durch die Kontrolle kommst.« Im Notfall solle ich die Präparate »als Herztabletten deklarieren«.
Einen Moment lang war ich fest entschlossen, mich in Amsterdam abzusetzen. Ich hatte Angst, sah schon die hämischen Schlagzeilen der Westmedien vor mir. Aber auch wenn es nicht auffliegen würde, so dachte ich mir, sei ich erledigt: Denn als Geheimnisträger war ich jetzt nicht mehr tragbar.
Aber die Kontrolle verlief reibungslos, und ich bin später nie mehr darauf angesprochen worden. Doktor Tausch wird den Vorgang wohl verschwiegen haben, um sich nicht selber zu kompromittieren. Ich war von ihm abhängig, und er war von mir abhängig.
Obwohl in Toluca nach den üblichen Methoden munter weitergedopt wurde, mußten jetzt verschärfte Regeln eingehalten werden. Chef-Verbandstrainer Wolfgang Richter verlangte, daß alles zu unterbleiben habe, »was uns irgendwie verdächtig machen könnte«. Erstmals * »M 1«-Zyklus vom 4. bis 13. April 1989, Beginn des »M 2«-Zyklus am 14. April. Die Einträge 0,1 bzw. 0,2 stehen für die Tagesdosis seiner Schwimmerinnen. händigte der Arzt deshalb den Trainern nicht mehr alle Tabletten zu Beginn des Zyklus aus. Sie wurden nur noch in Rationen für jeweils drei Tage ausgegeben. Auch durften die Pillen jetzt nicht mehr in der Schwimmhalle verteilt werden. Statt dessen kamen die Sportler abends zu ihrem Trainer und holten sich ihre Portion für den nächsten Tag ab.
Ich teilte mein Zimmer im ersten Stock des Hotels mit dem Magdeburger Kollegen Wolfgang Sack, der die derzeit besten DDR-Schwimmerinnen zu betreuen hatte: Kathleen Nord, Olympiasiegerin, Welt- und Europameisterin, Anke Möhring, dreimalige Europameisterin, und Astrid Strauß, die bei den Olympischen Spielen eine Silbermedaille gewonnen hatte. Abends zählten wir die Tabletten ab und packten sie in Röhrchen.
Dann besuchten uns die Athleten, holten sich ihre Röhrchen ab und verschwanden wieder. Eines Abends hatte eine Schwimmerin von Wolfgang Sack vergessen, die Tabletten abzuholen. Auf seine Nachfrage antwortete sie anderntags treuherzig: »Wir haben das unter uns geklärt und halbe-halbe gemacht.«
Schließlich kam der Tag, an dem ich plötzlich wußte, daß ich zu meiner Arbeit nicht mehr stehen konnte, daß ich diesem Sumpf entfliehen mußte.
Vom 7. bis zum 10. August fand in Karl-Marx-Stadt noch eine letzte Vorbereitung auf die Europameisterschaft statt. Hier nahm mich Doktor Tausch beiseite und verfügte: »Schick die Mädels noch mal zu mir, die bekommen noch 'ne Spritze in den Hintern.« Ich müsse damit rechnen, daß sie »in den nächsten Tagen koordinative Schwierigkeiten haben könnten«. Auf meine Frage, was da gespritzt werde, bekam ich eine schroffe Abfuhr: »Das geht dich nichts an.«
Niemals zuvor ist mir so bewußt geworden, daß der Leistungssport in der DDR exakt so organisiert ist wie die Armee.
Ein letztes Mal habe ich den Sportlerinnen etwas vorgemacht, weil ich ihren Start in Bonn nicht gefährden wollte. Ich habe ihnen erzählt, die Spritze erleichtere nur die Umstellung von der Höhenluft Mexikos auf das Flachland.
In Karl-Marx-Stadt hatte ich die deprimierende Erkenntnis gewonnen, daß ich über Jahre zwar offiziell für Kinder und Jugendliche verantwortlich war, im entscheidenden Moment aber eine Statistentrolle spielen mußte. Ich hatte endgültig den Einfluß auf die Mädchen verloren, weil irgendein Vorgesetzter mit ihnen anstellen durfte, was er wollte. Und das ging mir zu weit. *HINWEIS: Im nächsten Heft Oberste DDR-Funktionäre als Doping-Drahtzieher - Wie Zwischenfälle vertuscht wurden