Zur Ausgabe
Artikel 29 / 86

ÄRZTE Gib Ihm was

Freispruch im Frankfurter Kunstfehlerprozeß: Ein gesunder 19jähriger starb am Unterschenkelbruch, weil im Krankenhaus die Hilfe ausblieb. Das Gericht befand: Kein Arzt ist schuld.
aus DER SPIEGEL 20/1978

Professor Rudolf Frey aus Mainz, als Anästhesist und Experte für Probleme der Wiederbelebung eine internationale Kapazität, legte sich im Frankfurter Amtsgericht auf eine Bank im Sitzungssaal und warf seine Arme und Beine in die Luft.

Die Demonstration des Sachverständigen ging in jeder Hinsicht ins Leere. Was Frey vor Gericht markierte, waren die Krampfzustände eines Patienten, der sich zwar nur die Unterschenkel gebrochen hatte, dann aber verstarb, weil die notwendige ärztliche Hilfe im Krankenhaus ausblieb -- ein Kunstfehlerfall so kraß wie selten, doch vor dem Frankfurter Schöffengericht verlor sich jedwede Schuld im Theorien-Nebel von Medizinern und Juristen.

Zwar hatte Frey noch einmal konstatiert, »daß ja nicht alle Leute sterben, die sich das Bein gebrochen haben«, und auch deutlich hinzugefügt, »daß dieser Patient fast mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch hätte gerettet werden können Doch nach sieben Tagen Hauptverhandlung fällte das Schöffengericht am Dienstag letzter Woche das Urteil so: Oberarzt Dr. Homi Irani, 42, wird vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung und unterlassenen Hilfeleistung auf Kosten der Staatskasse freigesprochen.

Der Waffennarr, der leichtfertig mit seinem Gewehr hantiert, bis sich ein tödlicher Schuß daraus löst, der betrunkene Autofahrer, der einen Fußgänger auf die Haube nimmt -- Alltagsfälle um fahrlässige Tötung und keine Probleme für deutsche Richter: Beweisführung, Schuldfeststellung und Strafzumessung schnurren ab.

Schuld im weißen Kittel hingegen scheint auf seltsame Weise unfaßbar, klassische Zeugen im Operationssaal oder am Krankenbett treten vor Gericht nicht auf -- und falls ausnahmsweise doch einmal, so wollen sie nicht mit der Sprache heraus. Als Gutachter schließlich über Mediziner kann der Kollege Mediziner auch seine Objektivität doch oft noch um eine Nuance freundlicher einfärben.

Wie die Frankfurter Justiz jenen Beinbruch mit Todesfolge abhandelte, nimmt sich aus wie der eigens inszenierte Versuch, die Berechtigung jenes Vorurteils nachzuweisen, wonach das Strafgesetzbuch nicht für Ärzte geschrieben ist -- es sei denn, wie Wilhelm Isenhardt, Vater des Opfers und Nebenkläger, forsch formuliert, »sie schlügen ihre Patienten tot«.

Sein Sohn, Karl-Heinz Isenhardt, war gerade 19, hatte Abitur gemacht und wollte studieren. Er war kerngesund, voll wehrtauglich und als Sportler aktiv. An einem Juliabend 1972 fuhr er mit seinem Motorrad durchs heimatliche Hofheim im Taunus. Doch weil er den Seitenständer nicht hochgeklappt hatte, kam er in einer Kurve zu Fall. Er blieb ansprechbar und voll orientiert, nur die Beine taten ihm weh. Der Rettungswagen fuhr ihn ins nächste Unfallspital: zum Hofheimer Sankt-Marien-Krankenhaus. Das Fahrtziel wurde ihm zum Verhängnis.

Der Patient kam in ein Krankenhaus, das zwar als Unfallklinik firmierte, für Komplikationen aber nicht ausgerüstet war. Professor Edgar Ungeheuer vom Frankfurter Nordwestkrankenhaus gutachtete später vor dem Kreisausschuß: »Dieses Haus ist höchstens für ein Blinddärmchen geeignet.« Ein Kollege aus demselben Kreis hielt sogar solche Eingriffe noch für zu riskant und setzte die Grenze schon »oberhalb einer Nagelbettvereiterung« an.

Es gab keine Intensivstation und keine Wachstation, keinen Anästhesisten und nicht einmal automatische Atemgeräte. Gutachter Frey: »Wir lassen in Rheinland-Pfalz solche Häuser in Altersheime umwandeln, damit wir nicht in so heikle Situationen kommen.«

Der junge Patient überstand die nächtliche Operation ohne Beschwerden. Oberarzt Irani hatte die Frakturen gerichtet und die Knochen verschraubt. Tags darauf war Karl-Heinz Isenhardt munter, plauderte mit den Bettnachbarn und empfing die Eltern zu Besuch. Abends begannen die Schmerzen.

In der Nacht wurde die Situation dramatisch. Das Bewußtsein schwand, Isenhardts Mitpatienten riefen um Hilfe. Aber es war weder ein ausgebildeter Arzt noch eine ausgebildete Schwester auf der Station.

Hildegard Carleo, damals 22, versah als Schwesternhelferin allein vorschriftswidrig den Nachtdienst. »Isenhardt hat getobt und mich gar nicht mehr erkannt«, sagt sie als Zeugin vor Gericht. »Ich mußte mich über ihn legen und seine Beine festhalten. Ich holte noch eine Kollegin von der anderen Station zu Hilfe, und wir waren uns einig, daß es ein Alarmfall war. Dann holte ich den Dr. Krause, der spritzte Valium und wußte auch nicht mehr, was er noch tun sollte.«

Kaum verwunderlich, denn Dr. Krause war kein approbierter Arzt, sondern nur Medizinalassistent. Erst 18 Tage zuvor frisch vom Hörsaal in die Klinik gekommen, versah er allein -- und damit unzulässig -- den zweiten Nachtdienst seines Lebens. Krause, alle Examensfächer »sehr gut«, will sich trotz der dramatischen Umstände heute als Zeuge möglichst überhaupt nicht erinnern -- an nichts jedenfalls, was ihn selber noch in die Gefahrenzone brächte. Nebenkläger Isenhardt nimmt ihn hart an: »Daß Sie hier nicht als Angeklagter stehen, ist ausschließlich die Schuld der Staatsanwaltschaft.«

Professor Thomas Gürtner, Chefarzt für Intensivtherapie an einer Frankfurter Unfallklinik und als Obergutachter geladen, fand »das Verhalten des jungen Kollegen etwas eigenartig. Bei mir ist der erste Nachtdienst 25 Jahre her, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern -- da hat man doch Lampenfieber«. Auch die Richter äußerten den Verdacht, »daß dieser Zeuge aus falsch verstandener Sympathie mit dem Angeklagten wichtige Dinge verschleiert«.

Um Mitternacht jedenfalls rief Krause den angeklagten Oberarzt in dessen Wohnung aus dem Bett ans Telephon. Welche Einzelheiten dabei über den Zustand des Patienten besprochen wurden, stellten beide Gesprächspartner so dar, daß sich juristische Klippen umschiffen ließen.

Irani, heute praktischer Arzt in Hofheim: »Krause sagte, Isenhardt sei unruhig und habe Schmerzen. Ich dachte nur ans Bein und habe deshalb nicht weiter gefragt und habe ihm gesagt, gib ihm was und hänge eine Infusion an. Ich meinte damit ein Schmerzmittel. Vielleicht habe ich aber auch Lipostabil verordnet.«

Irani verließ sich auf den unerfahrenen Kollegen, legte sich wieder schlafen und kam nicht selber ans Krankenbett -- obwohl, wie er zugab, »meine Wohnung nur ein paar Schritte vom Krankenhaus entfernt war«.

Die Beweisaufnahme ergab, daß in jener Nacht tatsächlich Lipostabil gespritzt worden war, ein Mittel gegen die Fettembolie; der Gefahrenzustand war also erkannt. Morgens lag der Patient bewußtlos, schon blauverfärbt, mit eingeknickten Atemwegen und nach innen verkrampften Händen -- deutliches Anzeichen einer massiven Hirnschädigung, laut Gutachter Frey die eindeutige Folge von Sauerstoffmangel.

Der Angeklagte Irani benachrichtigte den Vater des Jungen, der voll böser Ahnung gleich seinen Hausarzt mit ins Krankenhaus brachte. Dr. Oster: »Mein erster Eindruck: ein Sterbender.« Vater Isenhardt und Oster drängten auf Verlegung in die Intensivstation eines großen Krankenhauses, Irani hielt den Kranken nicht für transportfähig, weil »er bewußtseinsgetrübt war. Da dachte ich, abwarten, was draus wird« -- eine Ansicht, die keiner der Gutachter für vertretbar hielt.

Vater und Hausarzt alarmierten den Notarztwagen. Der Notarzt verlangte sofortige Beatmung per Intubation. Dann endlich wurde der Schwerkranke in die Frankfurter Universitätsklinik gchracht. Doch die Hilfe kam zu spät: 17 Tage später setzte das Herz aus.

So miserabel sich die ärztliche Versorgung des Patienten in Hofheim erwies, die rechtliche Nachbehandlung durch die Frankfurter Justiz gedieh zum Satyrspiel nach der Tragödie: In Gang kam das Verfahren allein durch die Strafanzeige des Vaters Wilhelm Isenhardt, Flugingenieur im Lufthansa-Jumbo: »Ich wollte gar nicht zu Gericht und habe die Sache an die Ärztekammer herangetragen, weil ich die Vorstellung hatte, daß so einem Arzt der Kittel ausgezogen wird. Aber da war ich auf dem Holzweg.«

Auch der Rechtsweg erwies sich als ungewöhnlich hindernisreich. Dreimal stellte die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wieder ein. Zahlreiche Beschwerden waren vonnöten, eine Anweisung des Justizministeriums, das Oberlandesgericht trat in Aktion

vier Jahre insgesamt vergingen allein bis zur Anklageerhebung. Weitere vier Monate später lehnte Amtsrichter Rolf Schwalbe, 39, die Eröffnung des Verfahrens ab: Dr. Irani habe »die zu erwartende Hilfe geleistet«.

Rechtsanwalt Rainer Hamm, Sozius in der renommierten Frankfurter Schmidt-Leichner-Kanzlei, setzte nach. Das Landgericht wies Schwalbe schließlich an, die Hauptverhandlung anzuberaumen. Dafür tat sich Richter Schwalbe, der noch hartnäckig mit »Amtsgerichtsrat« firmiert, obwohl es den Titel schon seit Jahren nicht mehr gibt, mit sehr persönlicher Handhabung des Prozeßrechts hervor. Nicht einmal die wichtigsten Tatzeugen, den Medizinahassistenten Krause und (hie Schwesternhelferin Carleo, mochte er als Zeugen vernehmen: Die Anreise aus Norddeutschland sei nicht zumutbar. Da widersprach sogar die Staatsanwältin und ließ Krause eigens einfliegen.

Zwei Gutachter schickte Schwalbe schon wieder nach Hause, bevor jene Zeugen schließlich gehört wurden, die neue und medizinisch relevante Anknüpfungstatsachen bekundeten. Anklägerin und Nebenkläger wollten deshalb die Gutachter erneut anhören, doch Schwalbe lehnte ab, das »käme einer Prozeßverschleppung gleich« -- das schlechte Brauchtum der Terroristenprozesse frißt sich in. den Rechtsalltag.

Professor Julius Hackethal, der sich in den ersten Prozeßtagen ganz unbefangen über die vielen Kunstfehler der ärztlichen Kollegen geäußert hatte, wurde von Schwalbe für befangen befunden, weil er sich während des Verfahrens in Interviews zur Sache eingelassen habe. Auch hier irrte Schwalbe: Hackethal hatte sich- als Privatgutachter geäußert, bevor die Hauptverhandlung überhaupt absehbar war, und sein damaliges Interview war später vom Rundfunk ohne sein Zutun zum zweitenmal gesendet worden. Daß der streitbare Professor, zwar nur als sachverständliger Zeuge, aber schließlich doch noch zu Wort kam, konnte selbst Schwalbe nicht verhindern.

Die simple Frage, warum ein sonst völlig gesunder junger Mann im Krankenhaus am Beinbruch sterben muß, fand bei den Medizinern keine einhellige Antwort. Der Frankfurter Gerichtsmediziner Professor Joachim Gerchow hielt den Tod nach der Fettembolie für unabwendbar, Hackethal für eindeutig vermeidbar. Kollege Gürtner las aus dem Krankengeschehen ein verborgenes, sturzbedingtes Mittelhirntrauma, obwohl der Sturzhelm des Verunglückten nicht den geringsten Kratzer aufwies. Naturwissenschaftlich sei, so Gürtner und Frey, nicht absolut auszuschließen, daß der Patient auch bei rechtzeitiger Beatmung gestorben wäre.

Blieb die Frage, ob sich der angeklagte Oberarzt in jener Nacht auf die Angaben des unerfahrenen Medizinalassistenten verlassen durfte oder ob er dessen Schilderung nicht hätte hinterfragen und dann sofort in die Klinik kommen müssen. Vater Isenhardt hatte schon vorausgesagt: »Die Verantwortung wird hier exakt in der Mitte jener Telephonleitung hängenbleiben.«

So war"s. Zu diesem Punkt nimmt sich Schwalbes Urteilsbegründung denn auch besonders kurvenreich aus: Es erscheint lebensfremd, wenn man davon ausginge, der Angeklagte habe nicht gewußt, daß Dr. Krause zu diesem Zeitpunkt noch Medizinalassistent war. Allerdings ist die ... weitere Tatsachenbehauptung, er, der Angeklagte, habe sich in jener Nacht über den Status des Zeugen Dr. Krause keine weiteren Gedanken gemacht, unwiderlegbar. Es erscheint nämlich nicht ausgeschlossen, daß jemand, der etwa 40 Stunden Bereitschaftsdienst geleistet hat, sich bei einem nächtlichen Anruf, der ihn im Schlaf erreicht, nicht vergegenwärtigt, welchen Rang der Anrufende hat, mag man es im übrigen Tagesablauf auch im Unterbewußtsein wissen. Urteilsfazit:

Es kann nicht festgestellt werden, welche Verhaltensweise des Angeklagten hätte anders sein müssen, um den Todeseintritt zu verhindern.

Unwiderlegt ließ das Urteil allerdings jene einschlägige Parallele, die Anwalt Hamm gezogen hatte: »Wenn ein Feuerwehrmann nachts am Telephon vom Brand in einem Dachstuhl benachrichtigt wird und bleibt im Bett, so kann er sieh doch auch nicht später vor Gericht damit entlasten, das Haus wäre vielleicht auch dann abgebrannt und seine Bewohner umgekommen, wenn er aufgestanden wäre und hätte aus allen Rohren gelöscht.«

Zur Ausgabe
Artikel 29 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren