Zur Ausgabe
Artikel 11 / 70

GIBT ES FREUNDSCHAFT NUR NOCH AUF FRANZÖSISCH?

aus DER SPIEGEL 13/1967

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, es ist Ihnen allgemein bestätigt worden, daß Sie in den ersten hundert Tagen das hatten, was man einen guten Start nennt. Aber offensichtlich haben Sie nun auch die Mühsal des Regierens jetzt schon kennengelernt und kommen derzeit außenpolitisch in ein, sagen wir, schwieriges Wasser. Da ist die Frage des Atom-Sperrvertrages. Sie haben in Bonn vor der Presse gesagt, die Kontrolle sollte nicht gerade von denen ausgeübt werden, die das atomare Monopol haben. Ist das für Sie eine Conditio sine qua non?

KIESINGER: Wir sollten verhindern, daß eine Kontrolle so gehandhabt wird. Im übrigen wissen wir aus der bisherigen Praxis der Wiener Kontrollbehörde, die ja bereits einen Teil der friedlichen Zwecken dienenden Atomenergie auch in den USA und Großbritannien kontrolliert, daß Kontrolleure, die von der Gegenseite kommen, abgelehnt werden.

SPIEGEL: Da doch über diese Kontrollparagraphen Unklarheiten aufgetreten waren, hätte es nicht nahegelegen, auch Moskau um eine Interpretation zu ersuchen, was ja unter Umständen auch ein Anknüpfungspunkt für die gewünschten besseren Beziehungen geworden wäre?

KIESINGER: Zunächst ist uns ja der Atom-Sperrvertrag von den Vereinigten Staaten nahegebracht worden, und zwar immer als amerikanischer Text, ohne daß natürlich verhehlt wurde, daß Kontakte mit Moskau stattfinden. In dieser Lage wäre es nicht zweckmäßig gewesen, wenn wir uns an Moskau gewandt hätten. Natürlich wurde über einen solchen Schritt nachgedacht, weil wir in den entscheidenden Fragen des Vertrages auch der sowjetrussischen Interpre-

* Mit SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstern und SPIEGEL-Chefredakteur Claus

Jacobi im Parkhotel Zellermayer.

tation sicher sein müssen. Aber wir haben es, wie gesagt, nicht für zweckmäßig gehalten, diesen Schritt zu tun.

SPIEGEL: Nun gibt es Kräfte, die auch Ihre Regierung mittragen, die großen Wert darauf legen, daß eine europäische Option offengehalten wird, daß also für den Fall einer näheren Vereinigung dieses Kontinents oder Westkontinents die Bundesrepublik sich an einer Atommacht doch beteiligen dürfte. Sind Sie geneigt, darauf zu bestehen, daß dieser Punkt im Vertragswerk geklärt wird, oder halten Sie für genügend, wenn der jetzige Text es nicht ausschließt?

KIESINGER: Das kommt wieder darauf an, wie die beiden großen nuklearen Mächte den Vertrag interpretieren. Von amerikanischer Seite wird gesagt, daß, wenn ein neues Völkerrechtssubjekt entsteht, dieses durch den Vertrag nicht gebunden sein würde. Aber dies ist ein wichtiger Punkt, der eindeutig geklärt werden muß, weil wir keinen Zustand eintreten lassen dürfen, bei dem Europa sich zwar politisch zusammenschließen, aber die Entscheidung darüber, wie es seine Sicherheit gestalten soll, nicht frei treffen kann.

SPIEGEL: Nun könnte man so argumentieren, daß man sagt, wenn diese begrüßenswerte und im Grunde nach heutigen Maßstäben überraschende Entwicklung wirklich bald käme, dann wäre in der Tat die Rücktrittsklausel gegeben, noch dazu, wo man dann ja den Rückhalt nicht nur in Frankreich, sondern auch in England hätte.

KIESINGER: Vielleicht muß man diese Fragen klären. Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, daß sich die Bundesrepublik selbst den Zugang zu atomaren Waffen freihalten wolle. Eine solche Sorge ist völlig unberechtigt.

SPIEGEL: Diese Sorge ist nun allerdings durch einige drastische Äußerungen in Deutschland, nicht von seiten des Regierungschefs, genährt worden. Uns fiel auf, daß Sie zwar die Ansichten, die der Herr Abgeordnete Adenauer geäußert hat, getadelt haben, nicht aber die Ansichten, die der Herr Minister Strauß geäußert hat, die nicht weniger drastisch waren -- und immerhin, er gehört Ihrer Regierung an, so daß Sie auf ihn gewissermaßen mehr Zugriffsrecht haben als auf den freieren Abgeordneten.

KIESINGER: Das war ein Zufall -- ich wurde auf die Äußerungen des Herrn Altbundeskanzlers angesprochen und gab Antwort. Aber ich habe natürlich allen Kollegen und politischen Freunden, die sich zu diesen Fragen geäußert haben, meine Meinung dazu gesagt.

SPIEGEL: Es ist trotzdem so, Herr Bundeskanzler, daß man bei einem Teil Ihrer Regierung genau weiß, wie stark die Bedenken sind, nicht nur bei Herrn Strauß. Bei der SPD, bei Herrn Wehner und Herrn Brandt spürt man eine fast sehr weitgehende Bereitschaft zu dem Atom-Sperrvertrag, und der Bundeskanzler steht da ein bißchen als Sphinx in der Mitte?

KIESINGER: Ich muß natürlich immer das wünschenswerte und auch durchsetzbare Ergebnis im Auge, haben. Ich muß die Menschen und die Meinungen zusammenführen. Das gehört zu den Aufgaben des Regierungschefs.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, Sie haben die Regierung angetreten in der erklärten Absicht, das Verhältnis zu Frankreich zu verbessern und ihm einen neuen Inhalt zu geben, und die ersten Kontakte und Besuche haben ha auch eine spürbare atmosphärische Verbesserung gebracht. Aber es bleibt natürlich die Frage, ob Frankreich nun eine Vorzugsstellung in der deutschen, in der bundesrepublikanischen Politik genießen soll und ob diese Vorzugsstellung nicht zwangsläufig dazu führen wird, daß sich die Amerikaner und die Engländer benachteiligt fühlen und sogar vielleicht benachteiligt werden.

KIESINGER: Ich sehe nicht, wie Amerika oder Großbritannien durch dieses besondere deutsch-französische Verhältnis benachteiligt werden könnten. Ich erhoffe mir eher das Gegenteil. Ich las gerade einen Artikel in der »Times« zu der Frage: Unter welcher Regierung waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Aktion der Bundesrepublik zugunsten des Eintritts Großbritanniens in den Gemeinsamen Markt günstiger? Unter der vorigen mit dem schlechteren Verhältnis zu Frankreich oder unter der neuen? Die »Times« hat klar geantwortet: unter der neuen, weil jetzt ein besseres Verhältnis zu Frankreich besteht und weil wir ja nicht durch Druck helfen, sondern nur überzeugen können.

SPIEGEL.: Das leuchtet ja auch ein. Nur, die andere Seite ist, daß die Franzosen ungern allein bleiben wollen, wenn sie diesmal England den Eintritt sperren. Sie würden also gerne von der Bundesrepublik her eine, wenn schon keine Billigung, so doch eine sehr verständnisvolle Haltung in dieser Frage sehen, und Sie sind in den Geruch geraten, wir wissen nicht, ob zu Hecht, daß Bonn diese verständnisvolle Haltung auch an den Tag legt. Da fängt es natürlich an, daß man sich fragen muß, ist es ein erstrangiges Interesse der Bundesrepublik, England in die europäischen Organisationen hineinzubekommen, und können wir in einem Interesse, das so sehr unser eigenes ist, können wir da noch verständnisvoll gegenüber Paris sein?

KIESINGER: Ich habe Präsident de Gaulle auf unsere Regierungserklärung hingewiesen und ihm erklärt, ich hätte, noch bevor ich nach Paris gereist sei, einen eindringlichen Brief der deutschen Industrie darüber erhalten, wie wichtig für uns der Efta-Raum sei. Der Präsident hat seine bekannten Bedenken geäußert, und wir haben zu diesem Problem festgestellt, daß wir uns hier nicht einig seien. Verständnis bedeutet in diesem Zusammenhang: Verständnis Frankreichs für unsere Haltung und Verständnis auf unserer Seite für die französischen Argumente und Sorgen, auch wenn wir sie nicht teilen. Eine Änderung unserer Haltung zum Nachteil Großbritanniens hat nicht stattgefunden.

SPIEGEL: Nun heißt es, Sie hätten Premierminister Wilson zwar nicht gerade aufgefordert, einen Beitrittsantrag zurückzustellen, aber ihn wissen lassen oder spüren lassen ...

KIESINGER: Ich habe Herrn Wilson reinen Wein eingeschenkt. Ich habe ihm unsere Unterstützung versprochen. Ich sagte ihm allerdings auch, daß wir keinen Druck ausüben könnten und wollten. Von einem solchen Versuch verspräche ich mir auch keinen Erfolg. SPIEGEL: Wirklich nicht?

KIESINGER: Nein, das hieße die Situation verkennen.

SPIEGEL: Aber de Gaulle argumentiert im Einklang mit seinen Wünschen.

KIESINGER: England gehört zu Europa. Und ich bin der Überzeugung, daß auch General de Gaulle das weiß. Für ihn ist Großbritanniens Beitritt vor allem eine Frage des Zeitpunktes. Immerhin scheint Herr Wilson bei seinem Pariser Besuch den Präsidenten davon überzeugt zu haben, daß England jetzt wirklich am kontinentalen Kai anlegen will.

SPIEGEL: Ist eigentlich die erklärte Absicht der Bundesregierung, mit Frankreich enger zusammenzuarbeiten als mit irgendeinem anderen Land, mit dem Stand der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten vereinbar? Ist nicht diese Zusammenarbeit in der Vergangenheit mindestens so eng gewesen, und sollte sie nicht auch künftig so eng sein wie mit Frankreich?

KIESINGER: Solange wir an der Nato festhalten, und das wollen wir, ist die Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet mit den Vereinigten Staaten natürlicherweise enger als mit Frankreich, das aus der Integration des Bündnisses ausgeschieden ist. Das Feld der Kooperation mit Frankreich ist vor allem Europa, wo wir ernsthaft gemeinsam versuchen, den europäischen Antagonismus zu überwinden. De Gaulle glaubt, daß wir zu folgsam gegenüber Amerika gewesen seien. Wir wissen natürlich auch, daß amerikanische Politik in Europa primär amerikanische Interessen verfolgt. Man muß feststellen, wie weit sich diese Interessen mit den unseren decken. Das war auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges natürlich mehr der Fall als heute. Heute gibt es gelegentlich auch widersprechende Interessen; das soll man in aller Ruhe und Nüchternheit und Freundschaft prüfen.

SPIEGEL: Das ist ein interessanter Punkt, wenn man sagt, die Amerikaner verfolgen primär amerikanische Interessen. Müßte man da nicht mit mindestens demselben Recht sagen, daß die Franzosen primär nur französische Interessen verfolgen, und kann man tatsächlich sagen, daß die französischen Interessen notwendig europäischer sein müssen als die der Amerikaner?

KIESINGER: Ich halte es für gefährlich, sich vorzustellen, daß eine Macht andere als ihre eigenen Interessen verfolgt. Aber die Interessen verschiedener Staaten können übereinstimmen oder sich zum Teil decken -- zum Beispiel bei der Verteidigung der Freiheit angesichts einer totalitären Gefahr. Natürlich verfolgt auch Frankreich französische Interessen. Aber auch hier kommt es darauf an, wie weit unsere Interessen identisch sind. Sie sind es gewiß nicht überall. In der Frage der Wiedervereinigung scheinen sie mir weitgehend übereinzustimmen. Im übrigen zeigt sich die Identität der Interessen vor allem in dem Versuch, in Europa den Status quo auf friedlichem Wege zu überwinden. Worum wir uns hier bemühen, wird vertrauenswürdiger und überzeugender, wenn wir es gemeinsam mit Frankreich tun.

SPIEGEL: Entschuldigen Sie, wenn wir ein letztes Mal insistieren. Irren wir uns, wenn wir den Eindruck haben, als wenn Sie sich nach Paris hin wärmer ausdrücken als etwa in Richtung Washington? Das Wort »Freundschaft« gibt es nur noch auf französisch.

KIESINGER: Nein! Das gibt es auch auf englisch. Im übrigen dürfte ich mich als Politiker nicht von Sympathien und Antipathien leiten lassen.

SPIEGEL: Aber wenn ein wortgewaltiger Mann wie Sie einen Satz von de Gaulle aufnimmt wie etwa »Die Sowjet-Union ist einsam«? Man hat nie von Ihnen gehört, daß Sie ein Wort von Wilson oder Johnson

KIESINGER: Vielleicht werde ich, wenn ich ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten geführt habe, auch ein Wort von ihm aufnehmen. Ich muß noch einmal sagen: Außenpolitik ist für mich die Ordnung unserer Beziehungen zu den anderen Völkern, und das ist vor allem eine Sache der gemeinsamen oder widersprechenden Interessen, wobei ich dies nicht nur materiell zu verstehen bitte. Es geht dabei auch um ideelle Werte, etwa um die Frage der Freiheit.

SPIEGEL: Man fragt sich, welche Großmacht überhaupt Interesse daran haben kann, daß Deutschland wiedervereinigt ist, und, wenn wir das richtig verstanden haben, sehen Sie ein mögliches französisches Interesse darin, daß Frankreich ein größeres Vorfeld gegenüber den ...

KIESINGER: Nicht nur ein größeres Vorfeld. Frankreich will, de Gaulle will ein enges Bündnis mit ganz Deutschland. Er weiß wie wir, daß wir in einer Welt von Riesenmächten leben und daß Frankreich allein oder die Bundesrepublik allein oder ein wiedervereintes Deutschland allein in dieser Welt zu schwach wären, um gesichert in Frieden und Freiheit leben zu können. Er hat ja auch eine genaue Vorstellung vom Wesen, vom Hang und von der Würde einer Nation, natürlich auch seiner Nation. Daher bin ich von seiner erklärten Bereitschaft, uns in der Frage der Wiedervereinigung entschieden zu unterstützen überzeugt.

SPIEGEL: Ja, aber qualitativ ist da seine Vorstellung nicht so sehr verschieden von den Vorstellungen der Angelsachsen, wohl möglicherweise in der Intensität ...

KIESINGER: Ich weiß es nicht. Das ist schwer zu beurteilen. Amerika ist viel weiter weg vom Kontinent und von uns. Sicher lagen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Dinge anders. Aber es könnte doch sein, daß Amerika heute die Prioritäten etwas anders sieht. Ich habe keinen Grund, am redlichen Willen Amerikas und Englands zu zweifeln, seine Versprechen zu halten. Aber wer in Paris sitzt, wird manche Aspekte der europäischen Politik anders sehen als jemand, der von Washington aus auf die Welt blickt.

SPIEGEL: Es ist doch komisch, daß die Beurteilungen so weit auseinandergehen können. Viele sagen, von allen Großmächten kann keine die Potenz eines wiedervereinigten Deutschland so sehr fürchten wie Frankreich.

KIESINGER: Das stimmt eben nicht mehr. Denn was sollte uns denn in dieser gewandelten Welt veranlassen können, uns gegen Frankreich zu wenden? Wo sind die möglichen Konfliktstoffe mit Frankreich? Die sind einfach nicht mehr vorhanden. Im übrigen spielt in diesem Zusammenhang unser im WEU-Vertrag ausgesprochener Verzicht auf eigene atomare Waffen eine bedeutende Rolle.

SPIEGEL: Aber nun die wichtigere Frage: De Gaulles Konzept in bezug auf die Wiedervereinigung Deutschlands scheint ziemlich geschlossen. Fragt sich nur, ob man, wenn man es in den wesentlichen Teilen nicht oder noch nicht befolgt, ob man dann Erfolg haben kann und ob Frankreich uns helfen kann, wenn wir das, was es zum gemeinsamen Besten vorschlägt, noch gar nicht tun oder tun können. Wir glauben sehr wohl, daß de Gaulle in der Oder-Neiße-Frage einen Eckstein künftiger gedeihlicher Entwicklungen sieht, wie auch in der deutschen atomaren Enthaltung. Unsere gegenwärtige Haltung zur DDR moniert er nur deswegen nicht, um uns das selbst zu überlassen. Er will in unsere inneren Dinge naturgemäß nicht zu offen hineinregieren, ist aber möglicherweise anderer Auffassung über das, was wir gegenüber der DDR tun sollten. Um es kraß zu sagen, Sie nehmen de Gaulles Hilfe für eine Politik in Anspruch, die Sie aber selber gar nicht treiben wollen. Etwas überspitzt gesagt.

KIESINGER: Sehr überspitzt! Mir ist zunächst einmal wichtig, daß unser westlicher Nachbar, der im Osten Kredit genießt, bereit ist, uns bei der friedlichen Lösung der deutschen Frage zu helfen, der klar sagt: Hier stehe ich auf der Seite der Deutschen.

SPIEGEL: Dürfen wir auf die Frage der Oder-Neiße-Linie kommen. Sie haben in der Regierungserklärung gesagt und haben es wiederholt: Beide Seiten, beide Völker müßten die Lösung, die schließlich erreicht würde, akzeptieren können. Das bedeutet natürlich für die Polen, daß sie etwas auch geben müssen, daß sie also nicht erwarten können, den jetzigen Besitzstand ungeschmälert behaupten zu können. Denn sonst hätten die Worte ja keinen Sinn. Meinen Sie nicht, daß gerade dieser Standpunkt einer gedeihlichen Entwicklung im Osten, wie Sie sie selbst anvisieren, am meisten entgegenstehen könnte, daß man den Polen und auch den Tschechen, die ja die unmittelbaren Nachbarn sind und letztlich die für uns wichtigsten der östlichen kommunistischen Staaten außerhalb der Sowjet-Union, daß man diesen die Beruhigung sicherer Grenzen nicht geben kann?

KIESINGER: Was wir zunächst geben, das ist Gewaltverzicht. Damit wollen wir ernst genommen werden. Das ist außerordentlich wichtig. Ich kann mir denken, daß man uns das nicht überall gerne glaubt, daß man sich mitunter sogar in unsere eigene Lage versetzt und sich vorstellt, wie man selber reagieren würde. Aber dieser Gewaltverzicht ist ein Eckstein unserer Politik: Ohne ihn den wir in jede rechtliche Form zu gießen bereit sind, wäre unsere Politik nicht realistisch. Ich bin im übrigen in der Regierungserklärung Polen so weit entgegengekommen, wie es heute möglich und sinnvoll ist. Es ließe sich nachweisen, wie oft der Versuch zu antizipierten Lösungen in der Geschichte fehlschlug, weil sich die vorausgeschätzte politische Situation dann nicht einstellte. Wir können jetzt nur eine Willensrichtung zeigen und unseren Verzicht auf gewaltsame Lösungen glaubhaft vertreten.

SPIEGEL: Wo rohe Gewalt im klassischen Sinne heute ja nicht mehr angewandt werden kann, relativiert sich solch ein Gewaltverzicht. Es geht wohl mehr um die »friedliche Potenz«, einen Anspruch durchzudrücken.

KIESINGER: Es geht nicht nur darum, Ansprüche durchzusetzen, sondern darum, gemeinsame Lösungen im kommenden Europa zu finden.

SPIEGEL: Sie selbst, Herr Bundeskanzler, sagen, es sei eine »romantisch-utopische Vorstellung«, daß man durch Anerkennung der Oder-Neiße-Linie vielleicht etwas Positives bewirken könnte, und Sie sagen, es könnte sehr viel schaden, wenn man sie anerkennt. Wohingegen man doch, wie de Gaulle, den Standpunkt haben kann, es schadet sehr viel, daß wir noch nicht in der Lage sind, sie anzuerkennen, und es ist eine romantisch-utopische Vorstellung, daß wir die Gebiete oder einen Teil wiederbekommen.

KIESINGER: Ich jedenfalls glaube, daß eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze der Sache der Wiedervereinigung schaden würde, weil sich der Status quo dann noch mehr verfestigen würde.

SPIEGEL: Das sind nun Glaubensfragen, die können wir nicht zu Ende diskutieren. Es fällt uns auf, daß man im Ausland so sehr wenig versteht, warum wir das Münchner Abkommen nicht für von Anfang an nichtig erklären. Sie selbst haben gesagt, Sie betrachten es für »äußerst unheilvoll«, wenn man diesen Standpunkt, es sei von Anfang an nichtig gewesen, einnähme. Könnten Sie uns das ...

KIESINGER: Es gibt so viele Verträge, die unter Drohung oder Zwang zustande gekommen sind, Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, nur, um jemand gefällig zu sein, zu sagen, aus diesem Grund sei das Münchner Abkommen von Anfang an nichtig gewesen. Die Engländer zum Beispiel tun es auch nicht. Wir sollten uns aber nicht mehr auf einen anrüchigen Tatbestand stützen -- das sage ich auch den Sudetendeutschen. Aber das Münchner Abkommen steht ja nicht isoliert in der Welt: Es gab vor und nach ihm geschichtliche Tatbestände, die man bei der künftigen Ordnung der Beziehungen -- und wir wünschen gute Beziehungen -- zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei berücksichtigen muß.

SPIEGEL: Wir verstehen nicht so ganz, warum die Leute in Prag darauf bestehen, daß es von Anfang an nichtig gewesen sein soll, aber

KIESINGER: Für uns ist die Rechtsposition der Sudetendeutschen ein wesentliches Problem. Man könnte nämlich sonst konstruieren, alles, was aufgrund des Münchner Abkommens erfolgte, sei schlechthin ohne Rechtsbasis: Daraus könnten schwere Nachteile für die Betroffenen hergeleitet werden.

SPIEGEL: Wir wollten darauf hinaus, daß, wenn die Frage wirklich nur scholastisch wäre, man immerhin prüfen sollte, ob dann nicht wir die Klügeren sein könnten, indem wir die Streitfrage begrüben.

KIESINGER: Man kann da nur eine politische Entscheidung treffen. Eine rechtliche Entscheidung, ob der Vertrag gültig war oder nicht, wäre die Aufgabe einer unabhängigen richterlichen Instanz. Das ist genauso wie die Beurteilung eines zivilrechtlichen Vertrages. Dagegen kann man einen politischen Willensakt setzen und sagen: Dieser Vertrag ist für uns nicht mehr gültig.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wenn man Ihre Ostpolitik so im Moment betrachtet, so scheint es doch, als wenn sie auf dem Wege war, gute Anfangserfolge einzuheimsen, und einen, in Rumänien, ja doch zumindest hinter sich gebracht hat. Andererseits sieht man die Gefahr, daß sie an den höheren Barrieren dann auch wieder im Sperrfeuer liegenbleiben wird. Und so stellt sich doch die Frage, ob es richtig ist, im Hinblick auf die DDR, dieses kommunistische Regime, das sich qualitativ doch nicht so sehr von den kommunistischen Regimen in Warschau, Bukarest, Budapest und so weiter unterscheidet ...

KIESINGER: Doch, doch!

SPIEGEL: In welcher Hinsicht?

KIESINGER: In keinem Land ist die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrer Regierung so gering wie in dem anderen Teil Deutschlands. Das ist die Folge der erzwungenen deutschen Teilung. Die anderen kommunistischen Staaten sind wenigstens nationale Einheiten, zu denen sich die Bevölkerung bekennt. In Deutschland dagegen ist ein Volk gegen seinen Willen geteilt, und es wird dem abgetretenen Volksteil nicht einmal die Möglichkeit gegeben, seinen Willen dazu zu äußern.

SPIEGEL: Ja, aber die übrigen kommunistischen Regime müssen natürlich schon aus eigenem Interesse die Rechtmäßigkeit des DDR-Regimes behaupten. Wieweit sie dafür auf die Barrikaden steigen müssen, das mag sehr verschieden sein, von Fall zu Fall. Da ist doch die Frage, ob, wenn wir versuchen, dieses Regime zu isolieren, ob wir uns selbst und unserer Sache und der gemeinsamen deutschen und europäischen Sache dabei ...

KIESINGER: Diese Auffassung akzeptiere ich nicht. Wir sind nicht darauf aus, jemand zu isolieren oder gar, wie es die Sowjet-Union oft behauptet, uns den anderen Teil Deutschlands »einzuverleiben«. Wir wollen unsere Beziehungen zum Ostblock verbessern und normalisieren. Was den anderen Teil Deutschlands angeht, so wollen wir, daß die Bevölkerung die Möglichkeit erhält, ihre Ansichten über die Zukunft Deutschlands frei zum Ausdruck zu bringen. Wenn sie -- ohne Zwang -- gegen uns entscheiden würde, so müßten wir das hinnehmen, denn für uns ist das Recht auf Selbstbestimmung unantastbar. Nun blicke ich nicht nur auf den einen Punkt eines feierlichen Referendums, sondern ich glaube an einen Entwicklungsprozeß. Im ganzen Osten vollzieht sich eine Evolution. Eine neue Generation wächst heran, die viel weniger ideologisch bestimmt ist als ihre Väter. Auch die jungen Menschen im Osten sind Kinder des technischen Zeitalters, erfahren darin die Welt auf ihre Weise und denken auf ihre Weise vieles neu. Das soll nicht heißen, daß sie einfach »westlich« denken werden, aber ideologisch unbefangener. Das könnte dazu führen, daß die Teilung unseres Landes und die Teilung Europas langsam überwunden wird.

SPIEGEL: Wenn wir die erste Stufe ins Auge fassen, nämlich einen Prozeß fortlaufend größerer Selbstbestimmungen -- und auch, wenn der sehr zaghaft in Gang ist, so wird er doch nicht restlos zu unterdrücken und aufzuhalten sein -, so müssen wir uns doch trotzdem fragen, ob wir diesen Prozeß nicht dadurch stärken können, daß wir das kommunistische Regime mehr als bisher zur Kenntnis nehmen, und zwar so, daß die Frage »Anerkennung oder nicht« auch nur noch einen mehr scholastischen Charakter hat.

KIESINGER: Unserem Ziel, dem Willen der Deutschen, die im anderen Teil Deutschlands leben, Bahn zu schaffen, dienen wir mit den politischen Mitteln, die wir ohne Aufgabe unserer Grundsätze anwenden können.

SPIEGEL: Das war eine Sphinx-Antwort mit vielen Möglichkeiten.

KIESINGER: Man muß sich in der Politik manche Möglichheiten offenhalten.

SPIEGEL: Wir wollen aber eines auch nicht verkennen, nämlich daß das DDR-Regime seine jetzige Politik der Verhärtung und Abschließung -- egal welche Formen sie annimmt, sie mögen aberwitzig sein wie oft bei den Ost-Berliner Leuten -- aber daß der Impuls durchaus verständlich ist, weil sie befürchten müssen ...

KIESINGER: Die negative Reaktion in Ost-Berlin auf unsere Politik ist verständlich und wurde von uns auch erwartet. Aber daraus den Schluß ziehen zu wollen, man müßte die DDR anerkennen, um sich die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu erleichtern, das wäre eine fragwürdige These. Nehmen wir einmal an, wir würden die DDR anerkennen und es wären damit keine Fortschritte in Richtung auf die Wiedervereinigung verbunden. Dann wäre die Lage doch schlechter als heute und auch die Lage der Bevölkerung drüben hätte sich nicht verbessert.

SPIEGEL: Wir haben manchmal das Gefühl, als ob die Bevölkerung drüben gar nicht so sehr den Wunsch nach Wiedervereinigung hat, sondern viel einfacher den Wunsch zu reisen, etwa nach Westen, und den Wunsch, nicht so abgeschlossen zu sein. Also den Wunsch auf Dinge, die das Regime, wenn es nicht so schwach wäre, durchaus zum Teil und sukzessive ermöglichen könnte.

KIESINGER: Ich bestreite dies entschieden. Ich weiß, daß die Bevölkerung sehr stark den Wunsch nach Wiedervereinigung hat. Sie ist jedoch nüchtern genug, um zu wissen, daß dieses Ziel zur Zeit nicht erreichbar ist. Deswegen richtet sie ihre Wünsche zunächst auf bescheidenere Ziele.

SPIEGEL: Eine offene Frage: Wenn die Abgeordneten des Bundestages im privaten Gespräch ihre Meinung sagten, ob man um die Anerkennung der DDR in irgendeiner Form herumkommen wird und ob es nicht besser wäre, jetzt die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, wir glauben, wir würden eine heimliche Mehrheit für beides finden.

KIESINGER: Das glaube ich nicht. Es gibt im Bundestag weder eine offene noch eine heimliche Mehrheit für die Anerkennung Pankows noch für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Diese neue Regierung will eine neue europäische Friedensordnung aufbauen und den europäischen Antagonismus allmählich abbauen. Das kann nicht durch abrupte Festlegungen geschehen, die nur denen helfen, die den Status quo erhalten wollen. Wir aber wollen den Status quo überwinden. Was wir dafür tun können, ist: in einer bestimmten Richtung gehen, uns friedliche Kontakte in den Osten bahnen, die auch auf unsere Landsleute zuführen. Deshalb erklären wir auch, daß unser Alleinvertretungsrecht nicht mißverstanden werden solle, es ist nicht gouvernantenhaft gemeint. Wir rufen unseren Landsleuten zu: Ihr, die ihr ein eigenes Schicksal bestanden habt, in vielem auf imponierende Weise, ihr sollt das Recht erhalten, selbst über eure Zukunft zu entscheiden. Unser Alleinvertretungsrecht gilt nur bis zu dem Augenblick, in dem das Selbstbestimmungsrecht den Menschen jenseits der Zonengrenze gewährt ist. Aus diesem Grunde bemühen wir uns, Bezeichnungen zu vermeiden, die für unsere Landsleute drüben abwertend wirken. Auch hierbei denke ich wieder an die junge Generation drüben, die ein berechtigtes Selbstbewußtsein entwickelt hat. Sie soll das Vertrauen gewinnen, daß wir nichts anderes im Sinn haben, als ihr zu helfen, über ihr eigenes Schicksal selbst entscheiden zu können.

SPIEGEL: Also daß wir die einzige parlamentarische und die einzige parlamentarisch frei gewählte Regierung sind, das ist ja nicht mal ein Anspruch, das ist ja die nackte Tatsache, die man, auch wenn man sie leugnen würde, gar nicht wegeskamotieren könnte. Nur, daß das drüben deswegen, weil sie nicht parlamentarisch und nicht frei gewählt ist, überhaupt keine Regierung ist, das ist die Hürde, über die man kaum hinwegkommt.

KIESINGER: Wenn Sie so wollen, so sagen Sie, daß man drüben eine Regierung gewaltsam ausübt. Aber diese Ausübung ist nicht durch den freien Willen des Volkes legitimiert. Und um diesen Willen, um ihn allein, geht es uns. Er muß über die Hürde kommen.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Ausgabe
Artikel 11 / 70
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten