UMWELT Gift aus dem Schlot
Das Schwermetall Thallium, das in
Kalisalzen und in Schwefelkiesen vorkommt, wird seit Jahrzehnten zur Produktion von Flintglas und, in Form chemischer Verbindungen, bei der Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmitteln verwendet -- Rattengift zum Beispiel.
Menschen reagieren auf eine Thallium-Vergiftung mit Übelkeit, Nervenschmerzen und Abmagerung; es kommt zu Lähmungen, Haarausfall und Sehstörungen. Etwa ein Gramm Thallium-Verbindungen im menschlichen Körper, innerhalb kurzer Frist aufgenommen, wirkt tödlich.
Daß schon »sehr viel Vergiftungsfälle vorgekommen« sind, »gewollte und ungewollte«, weiß der Leitende Regierungsdirektor von der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Immissionsschutz in Essen, Bernd Prinz -- aber es waren ausnahmslos Fälle von »akuter Wirkung«, die bislang Mediziner und Toxikologen beschäftigten. »Nach der ganzen Literaturübersicht muß man sagen, daß wir über die chronische Wirkung von Thallium eigentlich sehr wenig informiert sind, das war noch kein Problem, da hat sich die Wissenschaft nicht mit befaßt.«
Nun muß sie es wohl tun. Denn Thallium, daran scheint kein Zweifel möglich, hat bewirkt, daß im engeren Umkreis eines Zementwerks der Dyckerhoff AG in Lengerich nördlich von Münster das Laub vorzeitig von den Bäumen fällt, Kohl und Salat vergilbten, Tiere verendeten.
Über die Jahre hinweg taugte mal die eine, mal die andere Erklärung für den Herbst im Sommer -- Hagel, Dürre, Ungeziefer; auch auf industriell benützte Chemikalien, ganz bestimmte Säureharze fiel der Verdacht, und als diese Stoffe verboten wurden, glaubte man, auch eine Verringerung der Pflanzenschäden festzustellen.
Dann starben der Rentnerin Frieda Menke im letzten Jahr zwanzig Kaninchen weg, büschelweise waren den Nagetieren zuvor die Haare ausgefallen. Dem Nachbarn Stefan Thauer, der 300 Meter vom Zementwerk entfernt wohnt, krepierten seit Sommer 1978 sieben Schafe -- keiner wußte, warum, auch der behandelnde Tierarzt nicht.
Erst als im August dieses Jahres ein krankes Stallkaninchen und ein totes Schaf auf Betreiben der Eigentümer im Laboratorium der Landesanstalt gründlich untersucht wurden, fand sich ein Indiz: Thalliumspuren im Fell der Tiere. Der Rest war für die Immissionsschützer Routine: Die Thalliumrückstände rieselten aus den Schwaden der Zementwerk-Schornsteine zur Erde.
Bei Dyckerhoff in Lengerich wird schon seit 1975 für die Produktion bestimmter Zementsorten thalliumhaltiges Eisenoxid verwendet; es stammt aus Schwefelkies (Pyrit), den die Sachtleben Bergbau GmbH seit hundert Jahren im Sauerland fördert. Bei der Schwesterfirma Sachtleben Chemie GmbH Duisburg-Homberg wird das Oxid seit 30 Jahren auf eine Halde geschüttet, die mittlerweile aus 800 000 Tonnen Eisensand besteht. »Daß Thallium drin ist, ist doch allgemein bekannt«, sagt Sachtleben-Sprecher Graf Schaesleben, und zu »Pannen« sei es noch nie gekommen.
Tatsächlich weist, wie das Gewerbeaufsichtsamt in Duisburg mehrfach feststellte, der Abraum nur die schwache Konzentration von 0,03 Prozent Thallium auf aber bei der Weiterverarbeitung, unter großer Hitze, steigt der Thallium-Gehalt auf das Hundertfache, auf drei Prozent, und entweicht in entsprechender Konzentration aus den Schornsteinen.
Was da an Thalliumresten herausqualmte, wurde von der Essener Landesanstalt für Immissionsschutz an-
* Hinten: Zementwerk der Dyckerhoff AG in Lengerich.
hand von fast 300 Pflanzenproben, 20 Proben aus Leber-, Nieren- und Muskelfleisch von Tieren, zehn Wasserproben und drei Milchproben ermittelt: »Hohe Anreicherung des Giftes im Getreide, etwas weniger im Salat und Gemüse, relativ wenig im Obst.«
Wieviel der menschliche Körper davon verträgt, auf Dauer ohne jeden Schaden, ist den Wissenschaftlern noch nicht bekannt. Umweltschützer Prinz kann sich nur auf eine »provisorische Meßlatte« berufen. »Bedenklich« wäre danach die regelmäßige, also jahrelange Aufnahme von einem halben Millionstelgramm Thallium je Gramm Frischgemüse. Vergiftungserscheinungen würden auftreten, wenn jemand täglich ein Kilo Gemüse mit je einem halben Tausendstel Gramm Thallium darin verspeisen würde.
Genaue Giftkonsum-Berechnungen für Lengerich lagen letzte Woche noch nicht vor. Immerhin wurden, auf Veranlassung des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums, in vier Arztpraxen 45 Patienten untersucht -- Giftspuren fanden sich bei Haar- und Harnproben in sechs Fällen.
Eine Gruppe von Bürgern bekundete in einer Unterschriftenaktion prompt gesammelte »Angst, Gemüse und Obst aus eigenem Garten zu essen«, und forderte »eine kostenlose Untersuchung meines Gartenbodens und meiner Gartenfrüchte«. Und die hochschwangere Hausfrau Ute Strübbe aus Lengerich! Hohne fragte: »Was wird aus meinem Kind? Ich habe schreckliche Angst.«
Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Farthmann, der sich in einem Bierzelt der aufgebrachten Bevölkerung stellte, konnte nur wissenschaftliche Vermutungen vortragen: Genetische Schäden seien ebenso auszuschließen wie krebserzeugende Wirkung von Thallium, »nicht sicher« freilich Schädigungen der Leibesfrucht. Genaueres wußte der Minister ebensowenig wie die Experten -- »ein Fall, wie er bislang weder im Inland noch im Ausland jemals bekannt gewesen ist«, so der Farthmann-Beamte Elmar Pielow.
Inzwischen ist ein Geviert von mehreren Quadratkilometern um das Zementwerk von den Behörden zu einer Art Quarantänezone erklärt worden. Alle Schwangeren sollen sich einer Spezialuntersuchung stellen, Getreidebestände sollen nicht mehr verkauft, Futtermittel nicht verfüttert, Gemüse aus dem eigenen Garten und Eingewecktes wie Fleisch oder Obst nicht verzehrt werden. Viehschlachtungen müssen gemeldet, Tiere mit Giftspuren notgeschlachtet werden.
Nicht nur bundesweit, sondern auch im Ausland wird nach vergleichbarem Thalliumeffekt, nach alten Halden und zugekippten Baggerlöchern gefahndet, in denen Eisenoxid sein könnte. Die Sachtleben Chemie lieferte seit 1975 etwa die Hälfte ihres Eisenoxids nach Belgien, Holland, Österreich, Frankreich und in die Schweiz.
Ungewiß wie die Langzeitwirkung von Thallium sind die Rechtslage und die Regelung eventueller Entschädigungsansprüche. Nach einer 1977, nach dem italienischen Seveso-Skandal, erlassenen Bundesverordnung zum Immissionsschutzgesetz müssen die Unternehmen der Gewerbeaufsicht auch Nebenstoffe und Nebenreaktionen ihrer Produktionen anzeigen.
Das ist für die Thallium-Verwendung nicht geschehen -- obwohl Dyckerhoff-Werksdirektor Werner Hinz nach eigenem Bekunden schon seit September 1978 »fieberhaft« nach der Schadens- und Todesursache forschen ließ, weil man, immerhin, »sehr früh« gewußt habe, daß der Schadstoff wohl aus den Schloten stammen müsse.
So war es denn auch. Letzte Woche förderten Untersuchungen der Gewerbeaufsicht zutage, warum Thallium in besonders hoher Konzentration durch den Schornstein ging: Die Filteranlagen des Zementwerks konnten das Thallium, anders als sonstige Gifte, nur zu etwa 50 Prozent zurückhalten -- ob Dauerpanne oder Konstruktionsfehler, muß noch geklärt werden.
Auf die rechtlichen Konsequenzen wies NRW-Minister Farthmann hin: »Der, der den Schaden angerichtet hat, der muß dafür aufkommen -- das Unternehmen.«