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Giftausstoß durchs Werkstor

Beim Chemie-Unfall der Hoechst AG entging die Bevölkerung nur knapp einer Katastrophe - Anlaß für Umweltschützer und Chemiker, erneut die Abkehr von der modernen Chlorchemie zu fordern, deren hochexplosive Herstellungszentren in dichtbevölkerten Gebieten stehen und deren gifthaltige Endprodukte allgegenwärtig sind.
aus DER SPIEGEL 10/1993

Gott schuf 91 Elemente, der Mensch mehr als ein Dutzend und der Teufel eines: das Chlor.

Ein Kuppelbau aus extrastarkem Stahl schirmt die Fabrikationsanlage von der Außenwelt ab. Alle Ein- und Ausgänge sind wie bei einem Atomkraftwerk mit schweren hydraulischen Schleusen gesichert.

In dem Labyrinth aus Rohrleitungen und Reaktionstanks, das sich dahinter verbirgt, ist keine Menschenseele zu sehen: Die chemischen Prozesse werden aus sicherer Entfernung von einer elektronischen Steuerungswarte geregelt.

Dann und wann macht sich ein Arbeiter auf Kontrollgang durch das von dem Chemiekonzern Dow bei der niedersächsischen Kleinstadt Stade betriebene Werk - er stapft nicht ohne Rüstzeug los. Helm und Spezialbrille, Sprechfunkgerät und Atemmaske gehören dazu; und schließlich das unscheinbarste, aber womöglich wichtigste Utensil: ein kleines Pappschild, das an den Arbeitsanzug zu heften ist.

Die Pappe ist mit einer Chemikalie präpariert, die sich rot verfärbt, sobald auch nur ein Tröpfchen des Stoffes aufsteigt, der in den blanken Metallrohren zirkuliert. Wenn das Zeug erst »von der Nase wahrgenommen wird«, sagt Dow-Manager Bernhard Brümmer, kann es »schon zu spät sein«.

Denn in dem Werk wird das Supergift Phosgen produziert. Fünf millionstel Teilchen von diesem Stoff in einem Kubikmeter Luft wirken auf Menschen schon binnen zehn Minuten tödlich; wer ihn inhaliert, bekommt Atemnot, die Lunge bläht sich auf, es kommt zum Herzstillstand.

Würden sämtliche zehn Tonnen Phosgen, die ständig durch das Leitungsnetz der Dow-Anlage in Stade pulsieren, auf einmal in die Umgebung ausströmen, wäre in einem Radius von zwei bis drei Kilometern vermutlich alles Leben ausgelöscht - Tschernobyl an der Elbe.

Leckdicht ins Rohrsystem eingeschlossen, dient das Teufelszeug den Chemikern als vielseitiges Vorprodukt für Massenware: Mit der Substanz werden Legosteine gefertigt, Babyflaschen und Motorradhelme gegossen, Polstersessel und Matratzen aufgeschäumt oder Medikamente zusammengemixt - Allerweltsartikel, die in jedem Haushalt landen, in jedem Auto, jedem Büro.

Wie das Beil beim Holzspalten, so wird das reaktionsfreudige Phosgen (chemische Formel: COCl2) bei einer Vielzahl von chemischen Prozessen gleichsam als Werkzeug benutzt. Für die Schärfe der Klinge, die Substanzen spaltet und für neue Synthesen vorbereitet, sorgt vor allem ein Element, das neben Sauerstoff und Kohlenstoff im Phosgen gebunden ist: Chlor.

Chlor riecht stechend und ist von gelblich-grüner Farbe, viele Bürger kennen das sehr giftige Gas nur als Desinfektionsmittel aus dem öffentlichen Schwimmbad. Doch in der Chemieindustrie dient Chlor als Schlüsselsubstanz für eine schier unendliche Zahl von Reaktionen - der Stoff ist für Chemiker, was für Maurer der Mörtel ist.

60 Prozent aller Chemieprodukte enthalten Chloranteile oder werden unter Mithilfe des gelben Gases hergestellt: Kreditkarten oder Keuchhustenmittel, Tapetenkleister oder Teflonpfannen, Rattengift oder Raketenpropeller - insgesamt sind es mehr als 11 000 verschiedene Produkte, bei deren Fertigung Chlor eine Rolle spielt (siehe Grafik Seite 55).

Seit 1950 hat sich die Chlorproduktion weltweit verzehnfacht, auf jährlich etwa 40 Millionen Tonnen. Chlor, einst todbringender Kampfstoff im Ersten Weltkrieg ("Senfgas«, »Grünkreuz"), ist heute ein kaum mehr wegzudenkendes Massenproduktionsmittel. Die Karriere des Giftgases und seiner Verbindungen ist, wie Dow-Manager Brümmer formuliert, »die Technologie-Erfolgsstory des 20. Jahrhunderts«.

Nylonstrümpfe und Dampfradio, künstliches Penicillin und Malariamittel, Solarzellen und Computerchips - keine andere Chemikalie hat während der letzten sechs Jahrzehnte so viele technische Neuerungen befördert. Chlor war ein Schlüssel für den Fortschritt in der Nachkriegszeit, eine Art Zauberstab des Wirtschaftswunders.

Kein anderer Stoff aber hat auch so gründlich zur wachsenden Zerstörung _(* Abtragen vergifteter Erde im ) _(angrenzenden Wohngebiet am Montag ) _(vergangener Woche. ) der Umwelt beigetragen. Allenthalben werden Schäden offenbar, die so gravierend sind, daß sich mittlerweile nicht mehr nur Kritiker fragen, was bei der Chlorchemie wohl stärker wiegt, ihr Fluch oder ihr Segen.

Die Frage stellte sich wieder, als Ende letzten Monats in der Umgebung der Frankfurter Hoechst AG ein gelber Giftregen auf Straßen, Spielplätzen und Schrebergärten niederging. Noch in der vergangenen Woche mühten sich Einsatztrupps des Chemiekonzerns, mittels Spezialmaschinen die Straßenbeläge abzuschleifen, verseuchtes Erdreich abzutragen sowie Dächer, Regenrinnen und Haustürklinken abzuwaschen.

Gereizt beobachteten Anwohner die Reinigungsarbeiten - dabei hatten sie noch Glück im Unglück gehabt. In einem älteren Reaktionskessel des Hoechst-Werkes Griesheim, in dem mit Hilfe von Chlornitrobenzol und anderen Beigaben eine Farbkomponente (Handelsname: ortho-Nitroanisol) für die Fertigung von Autolacken, Plastikteilen und Kleiderstoffen angerührt wurde, war infolge eines Bedienungsfehlers die Lösung übergekocht.

Durch ein Überdruckventil wurden zehn Tonnen des Gemischs mit Spuren der gefährlichen Dioxine und etwa einem Dutzend zumeist chlorhaltiger Substanzen, von denen einige in ihrer Wirkung bis heute unerforscht sind, in die Umgebung geblasen. Eine Runde von zehn Toxikologen, aus dem ganzen Bundesgebiet ins hessische Umweltministerium gerufen, stellte in der vergangenen Woche als »vorläufige Bewertung« fest, durch die gelbe Giftwolke seien die Anwohner »keinem erkennbar höheren Krebsrisiko ausgesetzt«.

Doch der chemische GAU war näher, als die Experten glauben machen wollten: In dem Kessel brodelten bei etwa 170 Grad noch rund 15 Tonnen des Reaktionsgemisches. Hätte sich diese Brühe nur noch wenig weiter erhitzt (auf 200 Grad), wären die Bedingungen »ideal gewesen«, meint der Greenpeace-Chemiker Manfred Krautter, um immens große Mengen des Ultragiftes Dioxin zu erzeugen. Schlimmste Verseuchungen in der Umgebung wären die kaum abwendbare Folge gewesen.

Krautters Fazit: Der Hoechst-Betrieb, mitten in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete Deutschlands, sei »nur knapp an einer Seveso-Katastrophe vorbeigeschrammt«.

Der Störfall im Hoechst-Werk trifft die Chemiebosse an einem empfindlichen Punkt. Führt er doch wieder vor, wie schwierig es vor allem in älteren Produktionsanlagen ist, die Risiken beim Umgang mit Chlorchemikalien zu beherrschen. Dabei steht die Branche bereits durch ihre umstrittenen Chlorprodukte genug unter Druck. Umweltverbände fordern immer lauter das Verbot des Problemkunststoffs PVC (Polyvinylchlorid). Etwa 80 Stadtverwaltungen, von Bielefeld bis Berlin, verzichten mittlerweile bei Bauaufträgen und Büroeinkäufen auf Abwasserrohre, Fensterrahmen oder gar Klarsichthüllen aus PVC. Papierhersteller, die ihren Zellstoffsud bislang stets durch ein Chlorbad zogen, steigen mehr und mehr auf sanftere Bleichmittel um.

Hessens Umweltminister Joschka Fischer läßt jetzt in einer breit angelegten Untersuchung feststellen, in welchen Bereichen Chlor am schnellsten ersetzbar wäre. Kenner wie der Buchautor Karl Otto Henseling, einst Mitarbeiter des Umweltbundesamtes, prophezeien: »Nicht das Wachstum der Chlorproduktion wird in Zukunft ein Maß für die Fortschrittlichkeit eines Landes sein, sondern deren Rückgang*.«

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet von einem Störfall in dem heutigen Hoechst-Werk Griesheim, wo vor etwas über 100 Jahren (in der damals selbständigen _(* Karl Otto Henseling: »Ein Planet wird ) _(vergiftet«. Rowohlt-Taschenbuchverlag, ) _(Reinbek; 312 Seiten; 14,80 Mark. ) Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron) der Welt erste Anlage zur Chlorproduktion errichtet wurde, könnte nun der entscheidende Anstoß zum Umdenken ausgehen.

Die Wende tut not: Vom ewigen Eis in der Arktis bis zum Sand der Sahara, vom Bodenschlick der Meere bis zur dünnen Luft der Atmosphäre - Chlorverbindungen finden sich heute praktisch überall in der Welt.

Über die Nahrungskette wandern sie ins Fleisch von Fischen und Weidetieren und damit auch auf den Speisezettel der Menschen. Chlorzusätze in der Kleidung lösen Hautleiden aus (SPIEGEL 15/1992); Beimengungen in Holzschutzmitteln, die bis vor einigen Jahren erlaubt waren, haben womöglich Tausende von Familien krank gemacht.

Vielerorts ist die Muttermilch so stark mit dem Chlorverwandten Dioxin verseucht, daß sie nach den Vorschriften zur Reinheit von Lebensmitteln nicht in den Handel dürfte. Babys haben den Weichmacher PCB (Polychlorierte Biphenyle) im Speck, erwachsene Männer Hexachlornaphthalin im Sperma. Bei gründlichen Check-ups fanden US-Forscher 177 verschiedene Chlorverbindungen im menschlichen Gewebe, allein 43 davon im männlichen Samen.

Einige der überaus aggressiven Chlorabkömmlinge können Stahlpfeiler zerfressen und, so das Pflanzengift »Agent Orange« im Vietnamkrieg, ganze Landschaften entlauben. Andere, wie das in chemischen Reinigungen gebräuchliche Perchlorethylen, stehen im Verdacht, beim Menschen Krebs zu verursachen und die Erbinformation zu verändern.

Leukämien oder Lernstörungen bei Kindern, Immunschwächen oder unfreiwillige Kinderlosigkeit - einige Forscher glauben, auch solche Leiden seien mitunter auf die Einwirkung von Chlorverbindungen zurückzuführen. Beweise allerdings lassen sich wegen der vielen anderen Einflußfaktoren bei solchen Krankheiten nur schwer beibringen.

Sicher ist, fast alle großen Umweltprobleme, mit denen sich Politiker und Wissenschaftler in aller Welt herumschlagen, haben direkt oder indirekt mit der weitverzweigten Chlorsippe zu tun: *___Chlormoleküle, die aus Spraydosen, Kühlschränken und ____Klimaanlagen stammen, die so genannten ____Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), knacken die den ____Erdball schützende Ozonschicht auf. *___Chlorverbindungen aus Lösemitteln, wie sie in Lacken ____oder Fettlösemitteln stecken, sind neben Kohleschloten ____und Autoabgasen entscheidend am Treibhauseffekt ____beteiligt, der fortschreitenden Aufheizung der ____Erdatmosphäre. *___Chlorhaltige Pflanzenschutzmittel und Insektizide wie ____DDT, Toxaphen oder PCP (Pentachlorphenol), die in ____Deutschland zwar verboten sind, weltweit jedoch noch ____immer massenhaft eingesetzt werden, beeinträchtigen die ____Fortpflanzungsfähigkeit vieler Tiere und treiben so das ____Artensterben weiter voran. *___Chlordurchsetzte Hausabfälle wie Joghurtbecher, ____Pralinenschachteln und abgewetzte Schuhsohlen aus dem ____Massenkunststoff PVC bilden eine Gefahr für das ____Grundwasser unter den Mülldeponien und machen aus ____Hausmüllverbrennungsanlagen gefährliche Giftschleudern, ____die Dioxine und Furane in die Umgebung blasen.

Wann immer sich schwere Unfälle in der Chemieindustrie ereignen, der Störfall in Frankfurt führte es gerade wieder vor Augen, stets hängen sie mit der risikobeladenen Chlortechnologie zusammen.

Schreckensbilder gingen um die Welt, als sich nach einem Brand im Pestizidlager der Chemiefirma Sandoz in Basel 1986 der Rhein rot färbte und zigtausend tote Aale, Äschen und Barsche flußabwärts trieben. Zwei Jahre zuvor waren im indischen Bhopal nach einer Explosion in einem Chemiewerk des US-Konzerns Union Carbide 4000 Menschen in einer giftigen Wolke erstickt, die Dämpfe des Phosgen-Folgeprodukts Methylisocyanat enthielt.

Viel früher noch, im Jahre 1976, hatten die Bilder aus Seveso - von Chlorakne entstellte Kindergesichter - erste kritische Diskussionen um die Chlorchemie entfacht. Seither schon fordern Öko-Verbände wie der Bund für Umwelt und Naturschutz den Verzicht auf diese »nicht verantwortbare Risikotechnologie«.

Den Kritikern haben sich neuerdings machtvolle Verbündete hinzugesellt. So wagte sich der Sachverständigenrat für Umweltfragen, ein von Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) eingesetztes, eher schwerfälliges Gremium, mit der Erklärung vor, bezüglich der Chlorchemie sei es notwendig, »grundsätzlich umzudenken« und »die Basistechnologie selbst in Zweifel zu ziehen«. Im Bonner Bundestag lassen die Mitglieder der Enquetekommission zum »Schutz des Menschen und der Umwelt« nun erstmals gründlich Nutzen und Schaden der Chemie mit Chlor untersuchen.

Selbst in Industriekreisen werden kritische Stimmen laut. So bekannte etwa der ehemalige Vorständler der Bayer AG, Chemieprofessor Eberhard Weise, in kleinem Kreis: »Eigentlich ist es eines Chemikers unwürdig, daß wir immer noch auf Chlor bauen.«

Wer mit Chlor hantiert, muß es erst mal herstellen: In der Natur ist das Gas nicht vorgesehen. Zwar kommt das im Periodischen System als Halogen (Salzbildner) unter der Nummer 17 eingeordnete Element, als Salz in Form von Chlorid gebunden, in schier unerschöpflichen Mengen auf der Erde vor. Es umspült, im Meersalz, die Kontinente und lagert in unterirdischen Salzkavernen. Auch im menschlichen Organismus finden sich Chloride, vor allem im Blut, im Schweiß und in den Tränen.

Doch in dieser Form ist das Chlor gezähmt, die Bindung im Salzkristall ist so stabil, daß es sich unter natürlichen Bedingungen nicht selbständig machen kann. Erst mit beträchtlichem Energieaufwand, gleichsam in einer chemischen Sprengaktion, wird es möglich, die Chloratome aus dem Salz herauszutrennen. Dabei hat sich die Substanz so mit Energie vollgepumpt, daß die Chlormoleküle wie Luftballons zum Platzen gespannt sind - was sie äußerst gefährlich werden läßt.

Genau das aber macht sie für die chemische Industrie so interessant: Die Chloratome drängen mit all ihrer gespeicherten Energie danach, ihren Urzustand wiederzuerlangen, die entspannte Ruhe im Salzkristall. Deshalb haben die Chemiker nun leichtes Spiel mit dem Chlor: Bieten sie ihm einen Molekülpartner an, bei dem es einen Teil seiner überschüssigen Kräfte loswerden kann, klammert es sich sofort daran fest.

So reagiert sich das Chlor je nach dem Angebot der Chemiker auf ein immer niedrigeres Energieniveau herunter. Wie ein Gummiball, der eine Treppe herunterhüpft, entwickelt es dabei immer neue Reaktionskräfte.

Diese für die industrielle Verwertung hochwillkommene Eigenschaft erkannten die Wissenschaftler erst lange Zeit nach der Entdeckung des Chlorgases. 1774 hatte der Chemiker Carl Wilhelm Scheele den Stoff bei einem Laborversuch zum erstenmal extrahiert. In der Gluthitze der Sodafabriken bildeten sich Ende des 18. Jahrhunderts dann erstmals nennenswerte Mengen von Salzsäuregas (Chlorwasserstoff) - ein unerwünschtes Nebenprodukt.

Viele Jahre später, 1890, wurde im heutigen Frankfurter Stadtteil Griesheim, ebendort, wo nun das Kesselventil hochging, die weltweit erste Chlor-Alkali-Elektrolyse konstruiert. Auch damals interessierten sich die Chemiker weniger für das Chlor, sie brauchten vor allem Natronlauge, um die boomende Textilindustrie mit Reinigungsstoffen und die Glasbläsereien und Seifenhersteller mit Grundstoffen zu beliefern.

Das Prinzip der Chlor-Alkali-Elektrolyse ist bis heute unverändert. In Wasser gelöstes Steinsalz (Natriumchlorid) wird durch einen Behälter geleitet, in dem je zwei Elektroden stecken.

Angetrieben durch die Kraft von bis zu 450 000 Ampere Stromstärke, lösen sich die Chlorbestandteile und wandern zum Pluspol, derweil sammelt sich Wasserstoff am Minuspol. Zurück bleibt eine Lösung aus Natrium und Wasserstoffoxid, die Natronlauge. Damit die Stoffe sich nicht wieder miteinander verbinden können, wird entweder eine poröse Trennwand eingesetzt (Diaphragma-Verfahren), oder es werden Kathoden aus Quecksilber verwendet, das sich mit dem Natrium verbindet (Amalgam-Verfahren).

Die ersten Chlor-Alkali-Betriebe siedelten in Regionen, wo einschlägige Bodenschätze vorrätig waren: Sie brauchten Salz und Wasser, dazu Kohle als Energiespender. Heute hat die Atomkraft die Rolle der Kohle übernommen. Das Dow-Werk in Stade beispielsweise steht in Blicknähe zu einem Kernkraftwerk. Der Energieverbrauch der Chemiefabrik, zum Teil freilich durch eigene Anlagen befriedigt, verschlingt mehr als die Hälfte der Stader Reaktorleistung, 340 Megawatt im Jahr.

Chlorbetriebe sind Stromfresser: Nur 20 dieser Anlagen verbrauchen heute soviel Elektrizität wie 42 Städte von mittlerer Größe (je 100 000 Einwohner), fast drei Prozent der westdeutschen Energieerzeugung. Der Strom fließt zum Superspar-Tarif, für läppische fünf Pfennig pro Kilowattstunde.

Schon mit den Sodafabriken hatte vor 200 Jahren die erste Welle der Umweltzerstörung eingesetzt. Das in den großen kohlebeheizten Öfen entstandene Salzsäuregas wurde über den Schornstein ins Freie geblasen. Es zerfraß alles Eisenzeug in der Nähe, Schleusen und Brückenpfeiler in den Flüssen, Werkzeug und Armaturen in den Fabriken. So hoch die Schlote auch gezogen wurden, in der Umgebung dieser Betriebe starben weiträumig die Bäume, ganze Landschaften wurden verwüstet.

Probleme gab es auch bei den Chlor-Alkali-Elektrolysen. Arbeiter, die sich länger in der drückenden Hitze der düsteren Zellensäle aufhielten, in denen wie in einer Sargfabrik Reihe an Reihe die Elektrolyse-Wannen installiert waren, zeigten merkwürdige Krankheitssymptome. Nach zeitgenössischen Berichten klagten sie über »Husten, Auswurf, Schlaf- und Appetitlosigkeit und Schwindelanfälle«. Ärzte stellten »das Auftreten zahlloser Knoten auf dem ganzen Körper fest«.

Die seltsame Krankheit ist heute unter dem Begriff Chlorakne bekannt: Schon die Arbeiter der ersten Elektrolysefabriken waren offenbar »einer Dioxinvergiftung zum Opfer gefallen«, wie Henseling spekuliert. Seine Erklärung: Die Elektroden seien aus einem Koks/ Teer-Gemisch gefertigt gewesen, das mit dem Chlor reagiert haben könnte.

Während die Medizin ihre Forschungen vorantrieb, hatten die Chemiebosse zunächst Probleme, Absatzmärkte für den Ätzstoff zu finden, der, gleichsam als ungeliebter Zwillingsbruder, in immer größeren Mengen mit der Natronlauge produziert wurde. Anfangs war das Material einfach mit Kalk versetzt und zum Bleichen von Baumwolle und Papier verwandt worden. _(* Bei den Bayer-Werken in Leverkusen. )

Bald zeigte auch die Farbenindustrie Interesse, die damals ihre Vorprodukte noch aus Teer gewann. Mit Hilfe von Chlor gelang die künstliche Synthese des Indigo-Blau. Durch die Reaktionen mit dem (kohlenstoffhaltigen) Teer entstanden in der Farbherstellung die ersten Chlor-Kohlenstoffverbindungen, eine neue Dimension der Möglichkeiten war eröffnet - aber auch ein neuer Risikohorizont.

In rascher Folge wurden allerlei Lösemittel, Farbstoffe und Narkotika entwickelt und schließlich, 1935, der Kunststoff PVC. Um Öko-Gefahren kümmerte sich niemand. Dabei wurden, wie man heute weiß, mit den Chlor-Kohlenstoffverbindungen besonders gefährliche Stoffe in die Umwelt entlassen.

In der Natur bauen sie sich kaum ab, sie reichern sich statt dessen in der Nahrungskette an. Zudem können aus diesen Verbindungen unter bestimmten Bedingungen die berüchtigten Dioxine entstehen. Bodenproben aus dem Sediment der Saginaw-Bay im US-Bundesstaat Michigan, einem traditionellen Chemiezentrum, förderten eine verblüffende Erkenntnis zutage: Parallel mit der Entwicklung der Chlorchemie stieg auch die Dioxinbelastung der Umgebung (siehe Grafik Seite 62).

Derzeit werden allein in der Bundesrepublik rund drei Millionen Tonnen Chlor produziert. Aus der ursprünglich recht überschaubaren Produktpalette hat sich ein weitverzweigtes Netz von Anwendungen entwickelt, das nicht einmal die Experten der Industrie bis in die letzten Verästelungen kennen. Werner Frey von der Münchner Wacker-Chemie: »Wir wissen nicht immer, wo unsere Produkte landen.«

Wenn freilich, wie kürzlich im rumänischen Hermannstadt, hochgiftige Chlorchemikalien aus deutscher Produktion auf wilden Müllkippen in Osteuropa auftauchen, stellen sich die Industriebosse dumm. Als vor vier Jahren im Auftrag des Umweltbundesamtes Rainer Nolte und Reinhard Joas von der Münchner Beratungsfirma Ecotec zu erkunden suchten, wofür die immensen Chlormengen in der Bundesrepublik eigentlich im einzelnen verwandt werden, hüllten sich die Manager zunächst in Schweigen.

Aus Wettbewerbsgründen, behaupteten sie, könnten keinerlei Informationen preisgegeben werden, weder über Produktions- noch über Abfallmengen. Kaum zu glauben, aber wahr: In einem Land, in dem die Post mittels Peilmeßgerät die TV-Apparate von jedem Bewohner zählen kann, durfte sich die Chemische Industrie mit ihrer Vielzahl von umweltrelevanten Produkten bislang unbehelligt als Black-box darstellen.

Nach mehrjährigen Einzelrecherchen stellten die Ecotec-Ingenieure 1992 das 460 Seiten starke »Handbuch Chlorchemie« zusammen; es geriet in Fachkreisen sofort zum Bestseller*. Erstmals wird daraus erkennbar, wie eng in diesem Chemiebereich die einzelnen Betriebszweige über sogenannte Kuppelprodukte miteinander verzahnt sind.

So ist die Herstellung von Sofas, Matratzen oder Autositzen direkt mit der Produktion des Ozonkillers FCKW verknüpft; am selben Strang hängen Lösemittel für chemische Reinigungen, Kosmetika und Konservendosenbeschichtungen sowie Spezialharzlacke, etwa für den Segelbootebau. Sogar Teflonpfannen und Zahnpasta werden aus verwandten Stoffen hergestellt, ebenso Gore-Tex-Jacken und Tapetenkleister.

Allerdings ist das Chlor keineswegs immer notwendig. Oft wurde der Stoff nur in den Herstellungsprozeß hereingeschleust, um die bei diesem Öko-Schädiger immer schon relativ hohen Abfallbeseitigungskosten zu vermeiden. Wie in den Sodafabriken von anno dazumal, so entstehen auch heute bei den chemischen Stoffabspaltungen und Synthesen ständig Nebenprodukte, die gar nicht erwünscht sind - was liegt näher, als sie ebenfalls zu vermarkten?

»Die Grenzziehung zwischen Produkt und Entsorgung«, sagt der Ecotec-Rechercheur Nolte vorsichtig, sei in der Chlorchemie »nicht immer erkennbar«. Der ehemalige Bayer-Vorständler Weise formuliert es frecher: »Die Emissionen der chemischen Industrie« würden heutzutage »zum Werkstor herausgefahren - als Produkte«.

Tatsächlich ließen sich die Füllstoffe in der Zahnpasta, im Tapetenkleister oder im Frühstücksjoghurt auch ohne den Problemstoff herstellen, wenn sie denn überhaupt produziert werden müssen. Und Toilettensteine oder auch Leichendeodorants aus dem Stoff mit dem Zungenbrechernamen para-Dichlorbenzol, einem Abfallstoff aus der Farbstoffproduktion, sind völlig unnütz und obendrein schädlich.

Auf »gut ein Drittel der Chlorchemikalien«, schätzt Thomas Darimont, Chemieexperte im hessischen Umweltministerium, der zur Zeit an einem Konversionsprogramm für die umstrittene Universalchemikalie arbeitet, könne innerhalb kurzer Fristen verzichtet werden. Darimont: »Das geht ohne große ökonomische Einbußen, aber mit hohem ökologischen Effekt.«

Beim PVC könnte der Schnitt noch viel drastischer ausfallen. Da ist selbst _(* »Handbuch Chlorchemie I, ) _(Gesamtstoffluß und Bilanz«. ) _(Umweltbundesamt, Berlin, 1992. ) dem Chemie-Mann Frey, bei Wacker in München Abteilungsleiter für die PVC-Produktion, »kein nennenswerter Anwendungsbereich bekannt, in dem PVC nicht ersetzbar wäre«.

Solchen Erkenntnissen zum Trotz wird die Chemieindustrie freiwillig keinen Zentimeter von der Chlorroute abrücken. Als etwa der Ozonkiller FCKW mehr und mehr in Verruf geriet, ließ die Hoechst AG als größter deutscher Hersteller (Handelsname »Frigen") schnell ihre am Werkstor postierten Lagertanks überpinseln - produziert wurde weiter.

Immerhin sind bereits, bei den FCKW wie bei den Lösemitteln Per, Tri- oder Dichlormethan, einschneidende Veränderungen im Gang. Seit 1986 ist der Verbrauch dieser hochgefährlichen Stoffe, die in die Atmosphäre entweichen und teilweise als nervenschädigend und krebserregend gelten, um weit mehr als ein Drittel gesunken. Die FCKW-Produktion soll zum Jahresende 1994 ganz auslaufen.

Bis hin zu den chemischen Reinigungen spricht sich mittlerweile herum, daß beispielsweise das problematische Per bei vielen Waschvorgängen ganz einfach ersetzbar ist: durch Wasser und Seife.

Ähnliche Entwicklungen deuten sich beim PVC an, das in Fußböden, Fensterrahmen oder Elektrokabeln enthalten ist und deshalb schon bei Zimmerbränden die gefährlichen Dioxine freisetzen kann. Der Stoff gilt Experten wie dem Düsseldorfer Umwelt-Beigeordneten Henning Friege als »nicht mehr akzeptables Risiko«. Monatelang konnte etwa ein Düsseldorfer U-Bahn-Schacht nicht angesteuert werden, weil die Bahnsteige nach einem Kabelbrand hochgradig mit Dioxin verseucht waren.

Im westfälischen Lengerich, wo im vergangenen Herbst das Lager einer Recyclingfirma niederbrannte, hatten die Anwohner genausoviel Grund zur Sorge wie jetzt die Nachbarn des Griesheimer Hoechst-Werkes: Über Nacht waren in Lengerich Blumen verwelkt, Bäume entlaubt und Dachrinnen angefressen.

Für PVC werden allein ein Drittel aller produzierten Chlormengen verbraucht. Zudem ist der Stoff ein prima Abfallbeseitiger für die bei anderen Prozessen unerwünscht anfallende Salzsäure. »Wenn der PVC-Balken aus dem Chlorgebälk herausgezogen wird«, sagt Ecotec-Mitarbeiter Nolte, »wackelt das ganze Haus.«

Daran wird jedoch emsig gearbeitet. Städtische Dezernenten wie der Düsseldorfer Friege haben den Kunststoff längst auf dem Index stehen. Ob für Schulen, Schwimmbäder oder Behördenhäuser - in allen Bauausschreibungen wird der Verzicht auf PVC-haltige Einbauten etwa in Dachrinnen, Fußböden und Abwasserrohren verlangt.

Schon haben auch einige Autohersteller begonnen, den Giftstoff aus ihren Karossen zu verbannen. Opel beispielsweise _(* Aufräumungsarbeiten nach dem Brand bei ) _(Sandoz. ) hat seinen Verbrauch an PVC, ob im Armaturenbrett, an der Türverkleidung oder im Unterbodenschutz, schon um die Hälfte reduziert.

Auch die Lebensmittel-Kette »Spar« forstet ihr Sortiment nach PVC-Teilen durch, der Schreibwarenhersteller Herlitz hat den Stoff bereits aus 90 Prozent seines Warenangebots reduziert. Ob bei Schnellheftern oder Klarsichthüllen, Joghurtbechern oder Pralinenschachteln. Der Aufdruck: »PVC-frei« hat sich zum Werberenner entwickelt.

Aufmerksam verfolgen die Chemiebosse diese Entwicklung. »Jeder in den Häusern«, verrät Wacker-Manager Frey, habe »schon mal nachgerechnet, was wäre, wenn«. Frey: »Wenn die Leute das nicht mehr haben wollen, dann ist so ein Werkstoff weg.«

Im Frankfurter Hoechst-Werk soll noch im März eine der beiden Chlor-Alkali-Elektrolysen stillgelegt werden. Zur Zeit mögen die Hoechster im Bereich Chlor nicht investieren: Das könne, meint Produktionsleiter Josef Ertl, »für einen Kaufmann nicht sinnvoll sein«.

Auch in Stade, wo der Dow-Konzern erst im vergangenen November das nagelneue Phosgen-Werk mit dem Stahlcontainment in Betrieb nahm, ist die Baulust jäh geschwunden. Nicht weit von der blanken Kuppel der Phosgen-Anlage ragen ein paar Zementpfeiler in den Himmel. Dort sollte, erläutert Dow-Manager Brümmer, »eine Membran-Anlage entstehen«, die derzeit modernste Technologie zur Chlorherstellung.

Traurig betrachtet der Chemie-Mann das Betongerüst - es wird wohl eine Bauruine bleiben.

[Grafiktext]

__55_ Chlor: Ein Element - tausend Produkte

__62_ Produktion von Chlorverbindungen: Anstieg v. Dioxinablagerungen

[GrafiktextEnde]

* Abtragen vergifteter Erde im angrenzenden Wohngebiet am Montagvergangener Woche.* Karl Otto Henseling: »Ein Planet wird vergiftet«.Rowohlt-Taschenbuchverlag, Reinbek; 312 Seiten; 14,80 Mark.* Bei den Bayer-Werken in Leverkusen.* »Handbuch Chlorchemie I, Gesamtstoffluß und Bilanz«.Umweltbundesamt, Berlin, 1992.* Aufräumungsarbeiten nach dem Brand bei Sandoz.

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