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FRANKREICH Giftiger Balsam

28 Kinder starben -- nach einem Produktionsfehler in einer französischen Kosmetikfirma. Ein Kinderpuder enthielt in tödlicher Menge den Wirkstoff Hexachlorophen.
aus DER SPIEGEL 37/1972

Fröhlich bunt wirkte die Aufmachung der Streudose: ein paar hellrote und türkisblaue Tupfer und die Aufschrift »talc« und »bébé« (Baby). 20 000 solcher Dosen holten französische Mütter jeden Monat aus den Re. galen in Supermärkten und Kaufhäusern. Unbeanstandet war der Puder, hergestellt von der Pariser Kosmetikfirma Morhange, seit Jahren im Handel, Balsam für die wundgelegene Haut von Kleinkindern.

Doch am vorletzten Wochenende schreckten Rundfunk und Fernsehen, die französischen Mütter mit einer alarmierenden Durchsage: Während der letzten vier Monate hatten die buntbedruckten »bébé«-Dosen mitunter nicht den harmlosen Puder enthalten, sondern eine tödliche Mixtur.

Letzte Woche beschäftigte der Kosmetik-Skandal das französische Kabinett. Mindestens 26 Kinder, so bestätigte am Mittwoch Gesundheitsminister Jean Foyer, seien mutmaßlich an den Folgen der giftigen Beimengung gestorben, eine noch unabsehbare Zahl von Kindern werde vielleicht lebenslang gelähmt bleiben. Ursache: Eine Charge des Puders, insgesamt 600 Kilogramm, war durch ein Versehen bei der Herstellung zu sechs Prozent mit sogenanntem Hexachlorophen versetzt worden.

»Ich bin entsetzt«, äußerte Morhange-Direktor Paul Berty, als sich Anfang letzter Woche die Katastrophe abzeichnete, »doch moralisch kann ich mich nicht verantwortlich fühlen.«

Die erste Alarmmeldung war freilich schon im April dieses Jahres in der Pariser Kosmetikfirma eingegangen. Dr. Jean-Francois Elchardus, Chefarzt der Kinderklinik »Manchester« in Charleville, hatte damals den Verdacht geäußert, der »bébé«-Puder enthalte ein Kontaktgift, das eine Reihe rätsel-

* Claude Floch, Vater der sieben Monate alten Muguette, die an den Folgen des giftigen Puders starb.

hafter Krankheits- und Todesfälle ausgelöst habe. Die meist mit schweren Hautentzündungen eingelieferten Kleinkinder waren zuvor alle mit »bébé« gepudert worden.

Als die französischen Mediziner Proben des verdächtigten Puders analysierten, fanden sie darin keine giftigen Schadstoffe -- sie hatten Muster untersucht, die nicht aus der vergifteten Charge stammten. Auch eine Anfrage beim Hersteller über die Zusammensetzung des Puders ergab nichts Verdächtiges. Elchardus: »Nichts erschien unnormal oder gefährlich.« Erst Anfang August, nachdem sich die zunächst unerklärlichen Unglücksfälle gehäuft hatten, kam das Zentrum für Toxikologie in Paris dem giftigen Hexachlorophen auf die Spur.

Die Chemikalie war vor 30 Jahren als bakterientötender Wirkstoff entdeckt und anfangs vor allem in der chirurgischen Praxis verwandt worden. Und als Ende der 50er Jahre der Boom der Deodorantien, Badezusätze und später auch Intimsprays einsetzte, wurde Hexachlorophen vielen dieser Kosmetika beigemengt -- allerdings meist nur in Konzentrationen von weniger als einem Prozent.

Dennoch war die Chemikalie schon mehrmals Gegenstand besorgter Wissenschaftler-Diskussionen. Bei hoher Konzentration des Wirkstoffs kann es zu Hautreizungen kommen. Insbesondere aber zeigten schon Ende der 60er Jahre Tierversuche, daß Hexachlorophen, wenn es in die Blutbahn gelangt. Gehirnschäden und schwere Lähmungen verursachen kann.

Diese Gefahr besteht nicht, wenn die Konzentrationen so niedrig sind wie üblicherweise bei den gängigen Kosmetika -- und wenn der Spray oder Puder auf intakte Haut gebracht wird. Einerhöhtes Risiko aber, so entdeckten US-Mediziner schon 1968, stellte sich ein, wenn der Wirkstoff auf offene Wunden gerät und unmittelbar in die Blutbahn gelangt.

Als amerikanische Wissenschaftler Ende letzten Jahres bei Mensch und Tier nachwiesen, daß der Wirkstoff auch durch die Haut aufgenommen wird, entschloß sich die US-Arzneimittelbehörde FDA zu einer warnenden Empfehlung: Amerikanische Kinderkliniken sollten für Baby-Vollbäder keine hexachlorophenhaltigen Badezusätze mehr verwenden.

Doch die FDA-Entscheidung war womöglich voreilig. Anfang letzten Monats veröffentlichte die US-Zentrale für ansteckende Krankheiten in Atlanta (US-Staat Georgia) eine ernüchternde Statistik. In den Krankenhäusern, die auf hexachlorophenhaltige Badezusätze verzichtet hatten, waren sechsmal so viele Kinder an Furunkeln und ähnlichen Hautinfektionen erkrankt als an den Kliniken, die der FDA-Empfehlung nicht gefolgt waren.

Schuld daran, daß nun französische Kinder durch den Wirkstoff zu Tode oder zu Schaden kamen, ist jedoch nicht etwa Ungewißheit über die Höhe der zumutbaren Dosis: Nach Angaben der Hersteller sollte der »bébé«-Puder (wie auch alle auf dem westdeutschen Markt erhältlichen Kinderpflegemittel) überhaupt kein Hexochlorophen enthalten. Die tödliche Mischung kam zustande, nachdem die Puder-Herstellung an eine Zulieferfirma ausgelagert worden war; dort kam es zu dem folgenschweren Fehler im Produktionsverfahren.

Da mittlerweile erwiesen scheint, daß Hexachlorophen-Zusätze in Deodorantien und Intimsprays wenig oder gar keine Wirkung zeigen, haben sich auch manche westdeutsche Hersteller entschlossen, den umstrittenen Wirkstoff wegzulassen.

Doch in welchen Kosmetika er noch oder nicht mehr enthalten ist, können westdeutsche Konsumenten allenfalls nach dem Hörensagen beurteilen. Während sich die französische Regierung nunmehr zu strengen Zulassungsbestimmungen entschloß und beispielsweise in Dänemark der Gehalt an Hexachlorophen auf der Packung vermerkt wird, fehlt in der Bundesrepublik die eine wie die andere Vorschrift.

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