BUND DEUTSCHER OFFIZIERE Gitlär kaputt
Im »Objekt 15 W«, dem Kriegsgefangenen-»Haus Lunjowo« bei Moskau, wurde Sonderverpflegung aufgetischt: vier Scheiben Hartwurst, eine Scheibe Corned beef, zwei Stück Käse, 100 Gramm Wodka pro Mann.
In dem schwarz-weiß-rot drapierten Raum lockerte sich die Stimmung. Die Herren in Feldbluse, mit vorschriftsmäßigen Schulterstücken, das Ritterkreuz am Hals, prosteten den zivilen Gästen zu. »Das hätte ich mir nie träumen lassen«, rief Altkommunist Erich Weinert beseligt, »daß ich jemals einem deutschen General die Hand drücken würdet!«
Es war der 11. September 1943: Acht Monate nach dem. Untergang ihrer Stalingrad-Armee formierten sich an die hundert kriegsgefangene Offiziere zum »Bund Deutscher Offiziere« und forderten - »nur von dem unerschütterlichen Willen durchdrungen, unserem Volk und unserer Heimat zu helfen« (so Mitbegründer Oberstleutnant Alfred Bredt, Nachschubführer des XI. Korps in Stalingrad) - »den Sturz der Hitlerregierung und die sofortige Beendigung des Krieges«. So meldeten es »Prawda« und »Iswestija« in Moskau.
Der Offiziersbund-Präsident - General der Artillerie Walther von Seydlitz -Kurzbach. Kommandierender General des LI. Armeekorps - hielt sich »wie niemand sonst« zur Rettung des Vaterlands berufen: »Wir ... sprechen nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen ... aller Opfer von Stalingrad. Das ist unser Recht und unsere Pflicht.«
Und ein Oberleutnant Heinrich Gerlach, zuletzt I c im Stabe der 14. Panzerdivision, notierte: »Die von Hitler verratene und totgesagte 6. Armee ... begann ihren Marsch zur Rettung der Heimat, für ein freies Deutschland.«
Die Stationen dieses Marsches, »von denen man in Deutschland kaum etwas weiß«, hat Gerlach, heute Studienrat in Brake an der Unterweser, in dem »Bericht einer Irrfahrt« geschildert, der kürzlich auf dem Buchmarkt erschien**.
Es ist Gerlachs zweites Rußland -Memorial. 1957 hatte er den Stalingrad -Roman »Die verratene Armee« veröffentlicht, der seither in 550 000 Exemplaren verkauft wurde. Gerlach hatte wesentliche Teile des Manuskripts in sowjetischer Kriegsgefangenschaft geschrieben. Die Sowjets beschlagnahmten es vor seiner Entlassung; der Autor rekonstruierte es später unter Hypnose (SPIEGEL 5/1958).
Wie Gerlach den Untergang der 6. Armee vor Stalingrad nach eigenen Erlebnissen schilderte - er stand bis zur Gefangennahme im Januar 1943 an der
Wolgafront -, so beschrieb er jetzt als Augenzeuge das Drama hinter russischem Stacheldraht. Der Philologe beließ es dabei nicht bei einer nüchternen Aufzählung historischer Fakten, sondern konzipierte seinen Dokumentar-Bericht als romanhaftes Epos. Aber: Zitate, Reden, Aufrufe und Zeitungsartikel sind exakt belegt, die Rolle der Hauptfiguren im »Bund Deutscher Offiziere« wurde authentisch nachgezeichnet.
Gerlachs »Odyssee in Rot« knüpft dort an, wo die »Verratene Armee« des Generalfeldmarschalls Paulus in Blut und Tod endet: »Keine Kampftätigkeit mehr fiber Stalingrad Nebel und roter Dunst«, funkte die Besatzung einer Ju 88 und drehte zum Rückflug ein.
Die Reste der 6. Armee erlebten derweil ihre ersten »Begegnungen mit der Sphinx«, gehorchten dem heiseren »Urr, Urr!« beutemachender Russen und ließen sich von ausgelassenen Sowjet-Soldaten in die Ohren schreien: » Gitlär kaputt, wojna kaputt, wir alle Kamrad!«
Die Einsicht, daß Hitler tatsächlich kaputt, der großdeutsche Krieg verloren und »wir alle Kamrad« seien, wurde den überlebenden Offizieren der Paulus-Armee - unter ihnen Gerlach - von den roten Siegern dann auch wirklich eingetrichtert.
Die geistige Wandlung der Offiziere von Hitler-Getreuen zu Hitler-Feinden erläutert Autor Gerlach mit der psychologischen Ausnahmesituation, in der sich die Überlebenden von Stalingrad plötzlich befanden: »Die Welt, aus der sie kamen, ist in nebelhafte unerreichbare Fernen versunken. So mag ein Toter zurückschauen auf sein früheres Erdendasein.«
Rundherum, so erinnert sich Gerlach, war »nun diese andere Welt«, in der alles Politische zunächst fremd und überflüssig erschien: die Wandzeitung eines »Antifaschistischen Aktivs« und »Das Freie Wort«, die »Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen«, die niemand las, denn »das andere war dringlicher«
- es fehlte an Papier für das Notwendigste.
Bis im Offizierslager Susdal eines Tages Zivilisten erschienen, die Deutsch sprachen ("Haben Sie irgendwelche Wünsche? Beschwerden?") und tatsächlich auch Deutsche waren, »die hier in Freiheit lebten«, darunter der Dichter Johannes R. Becher, späterer DDR-Poet, der damals »wie ein Postinspektor aussah«.
Auf einem »Meeting«, das die kommunistischen Emigranten im Lager veranstalteten, regte Becher an, alle antifaschistischen Kräfte »gegen den Verderber unseres Vol-es« zusammenzuschließen. Aber die Offiziere gähnten, »polkten mit dem Fingernagel in den Zähnen« oder saßen »mit ausdruckslosen Gesichtern da«.
Lediglich ein - wie Gerlach beschreibt - gemütlicher Herr mit Erdbeernase erhob sich und schüttelte dem Dichter überschwenglich die Hände: Wilhelm Pieck. »Ja Himmel«, erinnerten sich ein paar Zuhörer, »das ist ja allererste Garnitur! Mit dem müßte man sich wirklich mal unterhalten.«
Nicht Becher und Pieck aber hatten Erfolg im Lager Susdal, sondern ein Hauptmann Dr. Ernst Hadermann, der als Alt-Gefangener zusammen mit den emigrierten Kommunisten Ulbricht, Bredel und Weinert schon am Stalingrader Kessel propagandistisch tätig gewesen war.
Hadermann, einst Studienrat in Kassel:« Wir Kriegsgefangenen sind politisch freier als unser armes, versklavtes und immer noch verblendetes Volk. Das verpflichtet uns, zu reden und zu handeln.« Und: »Sie, die Überlebenden von Stalingrad, sind eine Macht. Ihre Stimme wird man hören.« Die Überlebenden waren konsterniert: »Was sollte das geben? Eine deutsche Freiheitsbewegung etwa, hier in der Gefangenschaft?«
Die Frage wurde am 20. Juli 1943 beantwortet: Die Zeitung »Neues Deutschland«, schwarz-weiß-rot umrandet, meldete den Susdal-Offizieren die Bildung des »Nationalkomitees Freies Deutschland« und veröffentlichte dessen Manifest an Wehrmacht und Volk: »Deutsche Soldaten und Offiziere an allen Fronten! ... Bahnt Euch mutig unter verantwortungsbewußten Führern, die eins sind mit Euch im Kampf gegen Hitler, den Weg zur Heimat, zum Frieden.«
Gerlach: »Wellen der Empörung schlugen hoch. Fäuste sausten auf Tischplatten herab, zitternde Hände zerfetzten und zerknüllten das Blatt, Füße trampelten darauf herum.« Nur wenige fanden: »Nein, das war keine Feindpropaganda, kein billiger Trick ... Hier sprachen die Toten von Stalingrad.«
Wenige Tage später transportierten die Russen Trupps von Offizieren, die ihnen verläßlich erschienen, aus Susdal und anderen Lagern, nach Lunjowo bei Moskau, wo eine »Initiativgruppe« schon
darangegangen war, einen Bund deutscher Offiziere zu gründen - anders als das Nationalkomitee, das von Russen und deutschen Kommunisten gesteuert wurde, mit einer »eigenen Idee«, mit eigener politischer Initiative: »Wir können doch der kämpfenden Front nicht in den Rücken fallen ... Wir müssen erst einmal die Generale gewinnen ... Ein Aufstand von der Spitze her.«
»Einen Sinn«, so sagt bei Gerlach ein Offizier, »muß das Ganze ja haben. Bloß um hier Kohlsuppe zu fressen und die Daumen zu drehen, sind wir nicht übriggeblieben.« So traten die Leutnants, Hauptleute und Obristen in Lunjowo der Initiativgruppe bei.
Dann kamen auch die Generale. Sie wurden aus dem Lager 45 In Wojkowa herangeschafft, wo sie die Zeit mit Schach, Domino, Doppelkopf, Spaziergängen, Volleyball, Kniebeugen, Armkreisen sowie kalten Waschungen verbracht und das »Freie Deutschland« auf der Toilette gelesen hatten. In ihrem »Dornröschenschloß« (Gerlach) erhielten
Marschbefehl nach Lunjowo: General von Seydlitz, der Kommandierende des LI. Korps in Stalingrad, Generalmajor Martin Lattmann, Kommandeur der 14. Panzerdivision, und Generalmajor Dr. Otto Korfes, Kommandeur der 295. Infanterie-Division.
Doch beim ersten Zusammentreffen mit den neuen Lagerkameraden, vormittags um zehn Uhr auf dem Sportplatz, zeigten die Generale, daß sie offenbar noch die alten waren: »Ich glaube«, stellte Seydlitz klar, »daß Sie nicht mit uns rechnen können.«
Die Generale blieben auch ungerührt, als Oberst Steidle, einst Kommandeur des Grenadierregiments 767, die Erinnerung daran beschwor, daß Preußen und Russen in den Freiheitskriegen schon einmal Schulter an Schulter gekämpft hatten. Die Konvention von Tauroggen, der dieser Bund entsprang, war das Werk eines Mannes gewesen, der gleichfalls Seydlitz hieß.
»Und wieder«, so rief Steidle theatralisch, »wird ein Seydlitz über das Schlachtfeld reiten ... Herr General! ... Erkennen Sie die Größe des Augenblicks. Sagen Sie ja!«
Aber Seydljtz entfaltete einen Zettel und verlas, was die drei Generale am Abend vorher beschlossen hatten: »Jede politische *Betätigung hinter Stacheldraht nützt direkt oder indirekt dem Feind und wird dadurch zum Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Front.« Schweigend löste sich die Versammlung auf. Die Generale verlangten den Rücktransport in ihr Freizeitlager.
Die Wende kam am Abend, eingeleitet durch den Sowjet-General Melnikow, der aus Moskau herbeigeeilt war. Hinter den abgedunkelten Fenstern der Lagerverwaltung eröffnete der Sowjetmensch den drei Generalen, er habe im Namen seiner Regierung zu er klären:
- Wenn es deutschen antifaschistischen Kräften gelingt, Hitler zu stürzen und den Krieg zu beenden, bevor die deutschen Armeen über die sowjetischen Grenzen zurückgeworfen sind,
- dann wird die sowjetische Regierung »mit allen ihren Mitteln« dafür eintreten, daß Deutschland als freies-Land in den Grenzen von 1937 erhalten bleibt.
Melnikow versprach »im allerhöchsten Auftrag« noch mehr: eine demokratische, aber keineswegs kommunistische Regierung in Deutschland, Fortbestand der Wehrmacht, keine Abtrennung Österreichs. »Überlegen Sie diese Sache, meine Herren! Es ist eine sehr ernste Sache.«
Am nächsten Morgen sahen sich die drei Generale, wie Gerlach berichtet, »zu ihrer Überraschung einig in dem Entschluß, an der Gründung des Bundes Deutscher Offiziere mitzuwirken«.
Wenige Wochen später wurde die Gründung des Offiziersbundes und seine Fusion mit dein Nationalkomitee vollzogen. Auf einer gemeinsamen Sitzung wurden die Forderungen der Generale gebilligt:
- Keine Zersetzungspropaganda mehr,
- kein Aufruf zum Überlaufen,
- geordnete Rückführung des Ostheeres an die Reichsgrenzen,
- Unterrichtung der kämpfenden
-Truppe durch Zeitung, Rundfunk,
Flugblätter und persönliche Briefe.
Zusammen mit Kommunisten wie Anton Ackermann (später Politbüro -Kandidat der SED), Alfred Kurella (später Politbüro-Kandidat der SED), Karl Maron (später DDR-Innenminister) und Rudolf Herrnstadt (später Chefredakteur des SED-Blatts »Neues Deutschland") entwarfen die abermals zur Rettung des Vaterlands angetretenen Offiziere Briefe an die Führer der kämpfenden Verbände des Ostheeres, schrieben Aufrufe für den Sender »Freies Deutschland« (Pausenzeichen: »Der. Gott, der Eisen wachsen ließ") und redigierten Flugblätter und Zeitungsartikel. Thomas Mann und Hubertus Prinz zu Löwenstein gratulierten. Aber die deutsche Ostfront gab keine Antwort. Nichts von allem, was der Bund erhofft hatte, geschah.
Das Nationalkomitee, dem sich der Offiziersbund voreilig unterworfen hatte, befahl Kursänderung. Statt geordneter Rückführung des Ostheeres hieß die Parole nun: Desertion an der Front. Revolution in der Heimat.
Es war ein Zivilist »mit einem seltsam unfertigen Gesicht«, der den Offizieren dieses kalte Kalkül aufmachte: Walter Ulbricht. »Die Generale, bitteschön, haben nichts getan, ja? Sie können, bitteschön, zur Lösung der Krise beitragen, wenn sie die Durchführung der Hitlerbefehle verweigern, die Waffen niederlegen und sich mit ihren Soldaten dem Nationalkomitee unterstellen, bitteschön!«
Noch sah der Bund eine letzte Chance, als im Januar 1944 die vordringende Rote Armee zwei deutsche Korps mit zehn Divisionen im Kessel von Korsun
einschloß. Wenn es gelang, so überlegten die Seydlitz-Leute, die eingekesselten Truppen zum geschlossenen Übertritt zu bewegen, »dann war der große Einbruch geglückt«.
Am 8. Februar reiste eine Delegation des Offiziersbundes mit Seydlitz an der Spitze an die Kesselfront, verfaßte Aufrufe, besprach Schallplatten und schrieb Briefe an die Generale im Kessel (Seydlitz: »Ich beschwöre Sie inständigst ..."). Aber die Adressaten waren bereits ausgeflogen oder gefallen. Immerhin: Ein paar tausend Landser hatten die Seydlitz-Flugblätter als Passierscheine benutzt und waren übergelaufen.
Dennoch erlosch das Interesse der Russen: Ihr Propaganda-Instrument zur Zersetzung der Wehrmacht hatte sich als kaum brauchbar erwiesen. Hitler-Deutschland, so erkannten sie, brach auch ohne Mithilfe der Seydlitz-Offiziere zusammen. Und so befand Walter Ulbricht: »Die Frage ist eine solche, daß einige Kameraden noch keine richtigen Antifaschisten sind, ja? Diese Kameraden, bitteschön, werden in den Lagern Gelegenheit erhalten, solche richtigen Antifaschisten zu werden!«
Acht Monate nach seiner Gründung war der Bund Deutscher Offiziere gescheitert. Das Schicksal, das die Männer in Stalingrad getroffen hatte, traf nun ganz Deutschland.
** Heinrich Gerlach: »Odyssee in Rot«. Nymphenhurger Verlagshandlung, München; 653 Seiten; 24 Mark.
»Nationalkomitee Freies Deutschland« (1943)*: »Die Generale, bitteschön ...
Autor Gerlach
... haben nichts getan, ja«
Komitee-Mitglieder Pieck, Paulus
Doppelkopf im Dornröschenschloß
Komitee-Organ »Freies Deutschland": »Aufstand von der Spitze her«
* 1. Oberst van Hooven, 2. Hauptmann Hadermann, 3. Major Netz (Vizepräsident des Komitees), 4. Unteroffizier Klement, 5. Erich Weinert (Präsident des Komitees), 5. General von Seydlitz, 7. Oberleutnant Reyher, 8. Rudolf Herrnstadt, 9. Oberleutnant Rucker, 10. Generalmajor Korfes, 11. Ulbricht, 12. Generalmajor Lattmann, 13. Wehrmachtspfarrer Kayser, 14. Soldat Emendörfer, 15. Graf von Einsiedel.