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»Glasnost kann man nicht in den Tee tun«

Michail Gorbatschow, seit elf Tagen neuer Staatspräsident der Sowjet-Union mit unerhörter Macht, sucht Wirtschaftshilfe bei den Deutschen. Denn so gewaltig seine Reform ist, die Sowjetbürger leben heute schlechter als vorher. Doch die zur Sanierung nötigen Milliarden kann dem Bonn-Besucher auch die Bundesrepublik nicht geben.
aus DER SPIEGEL 23/1989

Dieser Mann hat eine Vision«, so empfahl einer seiner engsten Berater den Chef von Partei, Staat und Parlament der UdSSR. Diese Vision lautet: »Das nächste Jahrhundert wird ein sowjetisches Jahrhundert sein mit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Sowjet-Union, in der und vor der niemand Angst haben wird.«

Solche Zukunftsvorstellung verheißt ernstlich hoffen, nach 70 Jahren Diktatur über Sowjetrußland.

Der Gorbatschow-Vertraute fügte hinzu: »Michail Sergejewitsch verfügt auch über eine harte Hand und genügend Machtinstinkt, um den Zeitplan seiner Perestroika gegen alle Panikmacher von hinten oder von vorn zu verteidigen.«

Dabei verfolge er eine »zentristische Linie« - gegen die unbelehrbaren Gralshüter der maroden Einparteien-Herrschaft wie gegen die realitätsfernen Paladine einer zu hastigen Umwandlung der UdSSR in ein rechtsstaatlich-demokratisch-marktwirtschaftliches System vom West-Typ.

Seinen sicheren Instinkt für die Macht wie für das Machbare bewies der Visionär Ende Mai, als er mit der ihm eigenen Dynamik die höchsten Führungsposten der Sowjet-Union in seiner Hand vereinigte. Der Generalsekretär der KPdSU ließ sich vom Kongreß der Volksdeputierten zum Präsidenten der UdSSR wählen, mit 95 Prozent der Stimmen der zu zwei Dritteln fast frei gewählten Delegierten.

Nun, als erster von einem Parlament gewählter Präsident der Sowjetgeschichte, kann er nach eigenem Geschmack seinen Vize und den Premier bestimmen, lenkt er die Außenpolitik und führt den Oberbefehl über die Streitkräfte. Vorbei die »kollektive Führung« des Politbüros - Gorbatschow selbst vergleicht seine neuen Befugnisse mit denen des Präsidenten der USA.

Derart gestärkt, so sein Zeitplan, wird Gorbatschow vom 12. bis 15. Juni endlich zu jenem Volk reisen, das sein außenpolitischer Berater Walentin Falin das »Schicksalsvolk« der Russen nennt: zu den Deutschen (West).

97 Prozent der Westdeutschen billigen die Politik des Sowjetmenschen Gorbatschow, an seinen Erfolg glauben mehr als von den eigenen Landsleuten, und sie schätzen den Erben Stalins höher als den Enkel Adenauers, den eigenen Kanzler Kohl.

Einen psychologisch derart günstigen Zeitpunkt gab es in der von Krieg und Krisen schwer belasteten deutsch-sowjetischen Geschichte noch nie. Dabei hat der Staatsgast zu den Deutschen nicht mal jenes Sonderverhältnis, das die »Germanisten« unter seinen Beratern wie Falin von anderen Experten unterscheidet, die nur die Weltmacht USA als einen angemessenen Partner der Weltmacht Sowjet-Union ansehen.

Gorbatschow, von seinem jetzigen Gastgeber Kohl noch 1986 als Goebbels-Propagandist diffamiert, hat lange bezweifelt, daß es ausgerechnet die Deutschen sein könnten, die Rußland zu geben vermöchten, was es jetzt existenznotwendig braucht: Sicherheit vor militärischer Bedrohung aus dem Westen und den Unwägbarkeiten im osteuropäischen Glacis, vor allem aber Wirtschaftshilfe und technischen Rat, womöglich gar ein Muster, wie sich der absolute Staat in eine Demokratie verwandeln lassen könnte.

Gerade eben schilderte eine »Iswestija«-Serie den »Sozialen Markt BRD«, die Reformen des Professors Ludwig Erhard und ihre Langzeit-Wirkungen - vor allem die Stabilität des Geldes -, eine Offenbarung für ihre Leser, denen nach Fleisch und Butter in Moskau der Zucker rationiert wurde, denen es inzwischen auch an Seife und gelegentlich an Salz mangelt.

Trotz der russischen Bauernregel, daß den Tod bringt, was für die Deutschen bekömmlich ist, orientieren sich verwegene Wirtschaftsexperten der UdSSR schon an Bonns sozialer Marktwirtschaft.

Freie Entscheidung der Unternehmen, Gewerbefreiheit, Aufhebung aller Preiskontrollen und Planbefehle sowie Konvertierbarkeit des Rubels sollen den Sowjetbürgern einen ungeahnten Lebensstandard bescheren. Doch der Weg dahin ist weit. Der Markt als einzige wirtschaftliche Meßlatte, das - sagt Gorbatschow - »würde das Land zerreißen«.

Hoffnungsfrohe Kellner in Moskauer Hotels erwarten schon baldigen Import bundesdeutscher Kaffeemaschinen, Osthändler interessieren sich für Investitionen noch ohne jede Gewinnaussicht, Hunderte Sowjetfachleute reisen durch Westdeutschland, um das Erfolgsgeheimnis zu ergründen, wie aus den Ruinen von 1945 der Welt größte Exportnation wachsen konnte.

Für die Bundesrepublik gab es erstmals seit fünf Jahren wieder eine Wende im Handel mit der UdSSR, der zuvor drastisch zurückgegangen war: Die Sowjetimporte stiegen 1988 real um 15 Prozent - vor allem Maschinen, Elektrotechnik und Chemieprodukte.

Mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten, einst als »Sozialfaschisten« verteufelt, möchten Sowjetfunktionäre am liebsten eine Einheitsfront bilden. Sowjetdiplomaten loben, Revanchismus ade, die kluge, auf weitere Abrüstung drängende Politik der Bonner Koalition in der Nato.

Paris und London hat Gorbatschow längst absolviert. »Spät kommt er, doch er kommt, und auch zu Späth«, kalauerte einer seiner Berater. Die langfristige Planung hatte vor allem Schönwettermachen bei den deutschen Konzernen vorgesehen. Ernsthafte Baupläne für das Mittelstück des versprochenen Mehrfamilienhauses Europa waren noch nicht entworfen, allenfalls dachte Gorbatschow daran, ein wenig so zu tun, als ob er die sogenannte deutsche Karte anspiele, um die USA unter Entspannungsdruck zu setzen.

Das jedenfalls argwöhnten die Amerikaner. Deren hypersensible Top-Journalisten hatten schon vor einer russisch-deutschen Allianz zur Beherrschung der Welt gewarnt, einem Genscher-Schewardnadse-Pakt.

Vorige Woche gab dann US-Präsident George Bush plötzlich die auch für Amerikaner beklemmend zögerliche Ostpolitik seiner ersten fünf Monate auf und brachte den sowjetischen Bonn-Reisenden mit der jähen Wendung in Zugzwang. Der Amerikaner hörte nicht auf die Kolumnisten, sondern auf seine Sachkenner, die empfohlen hatten, russische Freundlichkeit gegenüber den Deutschen mit amerikanischer Umarmung zu konterkarieren.

Zu Besuch in dem »wunderbaren Land« - gemeint war die Bundesrepublik -, empfahl Bush, den sowjetischen Zeitrahmen von fünf bis sechs Jahren für ein Abkommen zur konventionellen Abrüstung in Europa auf sechs bis zwölf Monate zu verkürzen: Der europäische Status quo in der Rüstung, der früher den Russen, zuletzt vor allem den Amerikanern so genehm war, ist - erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs - in Bewegung geraten.

Bush gelobte auch, nicht zu ruhen im Streben nach »Selbstbestimmung für ganz Deutschland und für alle Länder Osteuropas«. »New York Times«-Kommentator William Safire hatte schon das Schreckgespenst einer D-Mark-Zone von Reykjavik bis Murmansk vor Augen, mit drohender Wiedervereinigung Deutschlands - Bush sagte der »Washington Times": »Wenn man die Wiedervereinigung bekommen kann, auf einer geeigneten Basis, sollte jeder sagen: Prima. Ich meine nicht, daß das sofort geht, weil Ostdeutschland hinter Gorbatschows Elan herhinkt, nicht zu reden von Bonns Elan.«

Beide Weltmächte, aberwitzig genug, bemühen sich in dieser Phase ihrer Europapolitik vor allem um deutsche Gunst, Gorbatschow kann sich bei seinem Deutschland-Besuch kaum mehr mit protokollarischer Reverenz begnügen: Seine Reise zu diesem Zeitpunkt hat auf einmal einen Stellenwert von historischem Rang gewonnen. Es bietet sich an, daß er in Bonn eine erste Antwort auf Amerikas Initiative gibt.

Seine neue politische Stärke hat ihm aber gleichzeitig die Verantwortung, das Leben seiner 287 Millionen Bürger schnell und grundlegend zu bessern, derart sichtbar aufgebürdet, daß er schleunigst massive Unterstützung braucht. Ohne Hilfe von außen scheint seinen Kritikern ein Scheitern des gesamten Reformwerks so gut wie vorherbestimmt. Der starke Mann sucht Hilfe.

Schon warf sein Gegenspieler, der populistische Boris Jelzin, ihm vor, die bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren gegebenen Versprechen nicht gehalten zu haben: »Die Menschen leben schlechter.« Der Deputierte Jurij Wlassow forderte den Rücktritt der Regierung, die »das reichste Land der Welt« auf Lebensmittelkarten gesetzt habe.

Physiker Andrej Sacharow, erster Diskussionsredner auf dem Volkskongreß, sieht eine »wirtschaftliche Katastrophe« voraus, Schriftsteller Iwan Wassiljew schrieb in einem Massenblatt von der »Illusion der Perestroika«. Und der Journalist Georgij Afanasjew befand: »Glasnost kann man nicht in den Tee tun, statt Zucker.«

Im turkmenischen Aschchabad plünderten am Maifeiertag 200 Jugendliche Läden und Restaurants: ein böses Signal. Eine Millionen-Demonstration, wie Gorbatschow sie in Peking sah, würde in der UdSSR anders verlaufen, ahnte da der Schriftsteller Walentin Rasputin - »nicht so friedfertig«.

Oder aber, so kündigte der Deputierte Wladimir Jaworiwski aus Kiew an: Ohne Wandel würde sich »das Volk von uns abwenden. Sie ziehen sich zurück ins Schweigen, zum Wodka und zu ihren Gerüchten«.

Gorbatschow, der bislang nur die Breschnew-Zeit als »Vor-Krisenzustand« eingestuft hatte, bestätigte den Volksdeputierten eine »ernste Krise auf allen Gebieten des Lebens«.

So tief die politische Reform das alte System verändert hat, die Wirtschaftsreform hat sich bisher als nicht durchführbar erwiesen. Die verkündete Übergabe der unproduktiven Kolchosen an Bauern ließ sich noch nicht realisieren. Soeben meldete sich der konservative Senior Andrej Gromyko erstmals zu einem innenpolitischen Thema. Er verlangte, »jeden Versuch, Kolchosen und Sowchosen zu zerstören oder zu schwächen, entschlossen zurückzuweisen«.

Die Preisreform wurde vertagt, die gesetzlich verordnete Selbständigkeit der Staatsbetriebe steht nur auf dem Papier, die Planbehörden nennen ihre Weisungen jetzt nur »Staatsaufträge«, die erfüllt werden müssen. Private Genossenschaften ("Kooperativen") stehen unter dem Druck örtlicher Behörden und der Mißgunst der Käufer, wegen hoher Preise. Aber auch die staatlichen Preise steigen, der Fiskus füllt eine gigantische Deckungslücke von über 300 Milliarden Mark mit der Notenpresse.

Der Moskauer Ökonomie-Professor Pawel Bunitsch schärfte seinem Generalsekretär kurz vor dessen Bonn-Reise noch einmal die verheerende Bilanz von Jahrzehnten der total unökonomischen zentralen Planung ein: »Wir belegen viele erste Plätze in der internationalen Statistik - bei der Anzahl der Verordnungen, bei der Länge der Käuferschlangen, bei der Anzahl der Menschen, die auf der Suche nach irgend etwas Kaufbarem mit großen Taschen herumlaufen, vor allem beim Gesamtvolumen der Luft, die in diesen Taschen vorhanden ist.«

Für die nötige Soforthilfe durch das Ausland fehlen die Devisen, und den immer noch munteren Anhängern einer Sowjet-Autarkie ist jede größere Auslandsverschuldung à la Polen ein Greuel. In den letzten beiden Jahren ging denn auch der Import von Konsumgütern kräftig zurück, um 24 Milliarden Mark; 62 Millionen Meter Stoff, 14 Millionen Paar Schuhe, eine Million Mäntel und sechs Millionen Jacken weniger wurden angeschafft.

Gorbatschows Wirtschaftsberater Abel Aganbegjan empfiehlt deshalb Verdoppelung der Importe für den Massenbedarf, und zwar auf Kosten der Einfuhren von Stahl und Getreide. Tatsächlich sollen jetzt 15 Millionen Paar Schuhe (eins für jeden 19. Sowjetbürger, der landeseigenes Schuhwerk verweigert), 180 000 Tonnen Seifenartikel, 10 000 Tonnen Zahnpasta und 300 Millionen Rasierklingen (drei für jeden erwachsenen Sowjetmann) vom Ausland bezogen werden, insgesamt für 15 Milliarden Mark - zu wenig. Doch von dem voriges Jahr gewährten Drei-Milliarden-Kredit deutscher Banken ist bis jetzt kaum etwas abgerufen; erst für ein Drittel der Summe gibt es Verträge.

Die Exporte der UdSSR in die Bundesrepublik, vor allem Erdöl und Gas, sanken 1988 nochmals um fünf Prozent. Verglichen mit 1985 erzielten die Sowjets voriges Jahr nur ein Drittel ihres Exporterlöses: 4,2 Milliarden Mark. »Damit hat die jüngste Handelsentwicklung«, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, »erneut die Achillesferse des deutsch-sowjetischen Handels sichtbar gemacht, nämlich die unzureichende Konkurrenzfähigkeit von sowjetischen Halb- und Fertigwaren.«

Dennoch verbreiten beide Seiten angestrengt Optimismus. Iwan Silajew, Vizepremier und Chef des Moskauer Regierungsbüros für Maschinenbau, versprach die Beseitigung sämtlicher »Barrieren, die einen intensiven Wirtschaftsaustausch einst gebremst haben«. Bonns Wirtschaftsminister Helmut Haussmann konstatierte artig, »das Potential für einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen« sei »vielversprechend«.

Einiges tut sich schon: VW soll sich am Bau eines sowjetischen Kleinwagens beteiligen, Daimler-Benz an Mittelklasse-Wagen und Bussen. Die Stuttgarter Firma Werner & Pfleiderer liefert für 290 Millionen Mark 17 Keksfabriken, die Sowjetbürger sollen nach dem Wunsch ihrer Regierung zehnmal mehr Cracker essen als bisher, das sind 40 Gramm jährlich pro Kopf (Bundesrepublik: acht Kilo). Die Berlin-Consult erhielt den Auftrag für eine Wurstfabrik (75 Millionen Mark), die von 1992 an in Moskau 50 Tonnen je Schicht erzeugt, und eine Produktionsanlage für täglich 400 000 Fertiggerichte (52 Millionen Mark).

Ytong baut in Kuibyschew zum Preis von rund 25 Millionen Mark einen Betrieb für jährlich 170 000 Kubikmeter Porenbeton. Siemens und KWU rüsten sowjetische Atomkraftwerke nach und wollen einen Hochtemperatur-Reaktor errichten. Ein westdeutscher Astronaut soll 1991 in einer sowjetischen Raumstation kreisen, das bringt 30 Millionen Mark aus der Bundeskasse.

50 Joint-ventures mit deutschen Firmen gibt es bisher, sie befinden sich meist noch in der Planungsphase; über rund 50 weitere wird verhandelt. An einem höchst umstrittenen Mammut-Projekt zum Aufbau einer Chemie-Industrie in Westsibirien sollen sich die Deutschen beteiligen, auf der Kola-Halbinsel sollen sie nach Erzen schürfen.

Die Milliarden für den Kauf westlicher Konsum- und Investitionsgüter kosten Devisen. Daheim will Gorbatschow bei der Rüstung einsparen - endlich hat eine Spitzenmannschaft im Kreml begriffen, daß Flugzeugträger, Raketen und Panzerarmeen, die bislang geheiligten Insignien einer in Wahrheit gestrigen Ansicht von Weltgeltung, unproduktiv sind und die Ressourcen des Landes auszehren, aber die Lebensumstände nicht eines Bürgers bessern.

Gorbatschow hat untersuchen lassen, wie sich die weltweiten militärischen Aktionen von Ungarn und Prag bis Vietnam und Afghanistan, auch Angola und Äthiopien, ausgezahlt haben für die sowjetischen Staatsinteressen. Resultat: Insgesamt, auf lange Sicht, hat sich der Aufwand nicht gelohnt.

Nicht anders lautet die Bilanz der wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen, die Moskau seit 1945 Staaten jenseits der Sowjetgrenzen angedeihen ließ - Hunderte von Milliarden Rubel.

Diese Rechnung erklärt die fundamentale Wende in der sowjetischen Außenpolitik: den Rückzug der Sowjettruppen aus Afghanistan, die Bereitschaft zur Abrüstung, die Freigabe eines Weges der eigenen Wahl für die Bruderstaaten. Die Sicht der internationalen Beziehungen wurde ebenso radikal entideologisiert wie die von Gesellschaft und Ökonomie: Nicht der Klassenkampf gilt mehr als Leitlinie, sondern das »Allgemein-Menschliche«, das die Sowjetbürger mit der Außenwelt verbindet.

Der Gast Gorbatschow stößt in Westdeutschland auf erwartungsvolle Zuhörer. Die Furcht vor dem Osten, Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik, ist dahin, das Modell des Westens als überlegen selbst von den Führern des Ostens anerkannt.

Dabei hatte auch das idealisierte Vorbild mit dem Dreitakt Währungsreform/Marshallplan/Marktwirtschaft in Westdeutschland seinerzeit kein schieres Wunder bewirkt. Jahrzehntelange harte Arbeit war nötig gewesen. Fünf Monate nach dem Währungsschnitt vom Juni 1948 riefen die westdeutschen Gewerkschaften einen Generalstreik gegen die steigenden Preise aus. Jahre dauerte es, bis der Kapitalmarkt funktionierte. In wichtige Branchen wie Agrar-, Energie-, Wohnungs- und Arbeitsmarkt greift der Staat ein, Gesundheits- und Bildungswesen sind weithin dem Markt entzogen.

Das alles mag lehrreich für die Sowjetreformer sein, sofern sie sich einen nüchternen Blick bewahren: Die Perestroika braucht Fleiß, Zeit und Geld. Doch wie immer soll alles ganz schnell gehen, wo doch - wenn überhaupt - alles ganz langsam geht im russischen Reich. Gorbatschow muß vor allem die nächsten ein, zwei Jahre durchstehen.

Als Soforthilfe benötigt Rußland die Überschüsse der EG und - als Initialzündung, womit China reüssierte - massenhaft Konsumgüter auf Kredit. Lothar Späth über Gorbatschow: »Management und Technologie sind seine größten Probleme, vor allem die Organisation der Konsumgüterproduktion. Die Russen müssen etwas auf dem Tisch und im Kühlschrank haben - und einen Tisch und einen Kühlschrank in der Stube.«

Ein Viertel von Stoltenbergs Steuersenkungen wäre, so ein Moskauer Beobachter, wohl nötig: zehn Milliarden Mark im Jahr. Mögen auch die Westdeutschen für Auslandskredite die beste Adresse sein, solche Summen zu bekommen besteht nicht die geringste Chance. Und ehe Industrie-Investitionen den russischen Markt versorgen, vergehen Jahre.

Ein »Haus der deutschen Wirtschaft« in Moskau, finanziert von der Deutschen Bank, läßt noch auf sich warten, selbst wenn die Hürden beim Feilschen um ein Grundstück am Belorussischen Bahnhof überwunden werden können. Um das Pendant der Sowjets in der Bundesrepublik steht es noch schlechter: Die Russen wollten partout nach Baden-Württemberg, wegen der dortigen Konzentration führender Hochtechnologie-Betriebe. Nach dem Besuch einer Sondierungskommission unter dem Silajew-Stellvertreter Alexander Kamenew begnügte sich Landeschef Späth mit einem sowjetischen Kulturzentrum.

Widerstände, wie stark auch immer, vermögen einen Visionär wie Gorbatschow gewiß nur wenig zu irritieren, der daheim à la Michael dem Drachentöter ein Ungetüm zu bändigen sucht: die stärkste, reaktionärste und indolenteste Bürokratie der europäischen Geschichte. Er setzt auf den ganz großen Wurf.

Schon Iwan Possoschkow, Zeitgenosse und ökonomischer Berater Peters des Großen, schrieb über seinen Zaren, der vor knapp 300 Jahren als erster Türen nach Westen aufstieß und bevorzugt Deutsche hereinbat: »Er hat wenig Gehilfen, mit zehn Mann zieht er die Last bergauf, aber Millionen ziehen hinab; wie könnte da sein Werk gedeihen.«

Gorbatschow, das zeigt die Geschichte seiner erst vierjährigen Herrschaft, gibt nicht so schnell auf. Er verfügt über unerhörtes Geschick, sich als Einzelkämpfer gegen alle etablierten Gewalten durchzusetzen, mit der Hilfe weniger Meinungsmedien der zerbröckelnden Sowjet-Gesellschaft die Unabdingbarkeit der Perestroika einzuhämmern, selbst einen Oppositionellen wie den Volksfreund Jelzin in sein taktisches Spiel als bösen Buben einzubauen. Der löst beim Establishment jene Furcht aus, welche den Zentristen Gorbatschow als das kleinere, hinnehmbare Übel erscheinen läßt.

Gorbatschow hat Rußland und damit Europa bereits grundlegend verändert: Es gibt ein Parlament in Moskau, vor kurzem noch als unwandelbar angesehene Tabus sind Stück um Stück zerschlagen, die nichtrussischen Nationalitäten gewinnen ihr Selbstbewußtsein zurück, die kommunistische Gefahr, die eine Generation lang den Kontinent teilte, wird - jedenfalls bei den unmittelbar Betroffenen - als Schimäre empfunden.

Radikalreformer Boris Jelzin warnte schon vor dem Volkskongreß, Gorbatschow könne angesichts des Ernstes der Lage in der UdSSR versucht sein, seine »außerordentlichen Machtbefugnisse« zu mißbrauchen oder die schier erdrückenden Probleme des Landes »mit Gewalt zu lösen": »Wir könnten uns wieder einmal unter einem totalitären Regime, unter einer Diktatur wiederfinden.«

Ein Abgeordneter aus Charkow erinnerte Gorbatschow vor dem Volkskongreß an das Schicksal »des großen Napoleon, der ohne Furcht vor Kugeln oder Tod sein Volk zum Sieg führte, aber dank der Schmeichler und dank seiner Frau bei einem Kaiserreich endete und nicht bei der Republik, mit der er begonnen hatte«.

Dieser Gorbatschow macht fast alles allein, wenn auch mit einer für Diktatoren unüblichen Intelligenz und Heiterkeit. Als es im Volkskongreß zu Protesten kam, weil er - wie es die Verfassung vorsieht - seinen Vizepräsidenten (nach US-Muster) selbst vorschlug, beschied er die Opponenten: »Ich muß Sie enttäuschen, aber das ist mein Recht.«

Unbefangen - sogar vor Fernsehkameras - kämmt er sich die Haare hinter den Schläfen, spricht er von sich auch mal in der dritten Person, immerhin nicht im Pluralis majestatis wie ein Zar. Er lobt die Diskussionsbeiträge der Volksdeputierten als Verbesserungsvorschläge und fügt dann hinzu: »Aber das bedeutet nicht, daß Gorbatschow es nicht sieht. Ich sehe alles.« Und lacht dabei.

Doch auf wen kann sich der große Reformer stützen, um die UdSSR in einen wohlsituierten Rechtsstaat zu verwandeln? Den in die Defensive gedrängten, aber immer noch mächtigen Parteiapparat hat er als Präsident mit weltweitem Ansehen hinter sich, doch sein Programm stürzt die Apparatschiks in Existenzangst.

Denn er mutet ihnen zu, sich künftig wählen zu lassen - von jenem Volk, in dessen Wohl sie ständig zu handeln vorgaben, aber niemals handelten. Diese neue Klasse ist durch Gorbatschow unvermittelt uralt geworden, aber sie strampelt noch.

Auch nach dem Hinauswurf von 74 widerstrebenden Altgenossen aus dem 300köpfigen ZK - nicht einmal Stalin schaffte das auf einen Streich - fielen die verbliebenen ZK-Mitglieder wütend über die Prinzipien Medien-Glasnost und Postenbesetzung durch Wahlen her.

Gorbatschows Konzession: Die im Herbst fälligen Kommunalwahlen werden verschoben, da unter den gegenwärtigen Umständen, so ZK-Mitglied Wladimir Melnikow, kein Apparatschik eine Wahlchance hätte.

Gorbatschow will die politische Macht, bislang von verschworenen Seilschaften in Hinterzimmern ausgeübt, von der Partei aufs Parlament verlagern. Mit der lückenlosen Fernsehübertragung der Sitzungen des Volksdeputiertenkongresses führte er seinem Volk bis ins letzte Dorf nun etwas noch nie Gesehenes vor: eine Einübung in den Parlamentarismus.

Die Sowjetbürger genossen die aufbrechende Dialektik zwischen rechts und links, oben und unten, Konservativen und Radikalreformern, russischen Nationalisten und Westlern. Die Debatten knüpften häufig dort an, wo dieselben Widersprüche mit der Oktoberrevolution 1917 und dann vom heranwalzenden Stalinismus eingeebnet worden waren.

Jedoch: In dem von den Volksdeputierten gewählten neuen Obersten Sowjet sitzt eine erdrückende Mehrheit professioneller Funktionäre - wie in der Vergangenheit.

Der durchgefallene Reformer Gawriil Popow, ein Nationalökonom, nannte die Volksdeputierten eine »Abstimmungsmaschine«, und: »Kein Zweifel, der Apparat hat gesiegt.« Ein Deputierter, Fabrikdirektor, höhnte unter tobendem Applaus: »Ich lade Popow zu mir in die Fabrik ein und gebe ihm dort Arbeit. Möge er dort alles verbessern und realisieren, was er hier jetzt predigt.«

Auch unter den Repräsentanten der bewaffneten Gewalt machte sich Gorbatschow, des »Bonapartismus« verdächtigt, keine Freunde. Im April hatte er dem ZK überraschend mitgeteilt, die Rüstungsausgaben seien weiterhin gestiegen.

Dem Volkskongreß eröffnete er, für Sowjet-Verhältnisse schon fast exhibitionistisch, daß alle bisherigen Angaben über den Wehretat gelogen waren: Er sei viermal so hoch. Mit 77,3 Milliarden Rubel im Jahr beträgt er je Kopf der Bevölkerung so viel, wie ein Werktätiger in gut vier Wochen verdient (Bundeswehretat: je Einwohner gut ein Wochenlohn).

Gorbatschow vermied andererseits aber auch eine Kritik an der Truppe wegen des Einsatzes von Giftgas in Tiflis (4200 Verwundete). Georgiens Ex-Parteichef Patiaschwili benannte als Schuldigen den Verteidigungsminister Jasow. Generaloberst Rodionow, der Einsatzleiter, fand die Verfolgung der Militärs durch öffentliche Kritik »schlimmer« als unter Stalin 1937 - er selbst war damals noch ein Kind.

Was Vertreter dieses Geistes über den neuen Kurs denken, wenn Außenminister Eduard Schewardnadse die EG zum möglichen Muster eines europäischen Hauses erklärt, wie vor Gorbatschows Aufbruch nach Bonn geschehen, läßt sich nur ahnen.

Mutmaßlich möchten sie ihre Kriegsbeute, die DDR, nie mehr preisgeben. Zugleich gefällt auch ihnen gewiß die Kooperation mit jener Bundesrepublik, die sich »Deutschland« nennt - die russisch-deutsche Allianz war allemal in der Geschichte eine Herzenssache speziell der Konservativen hier wie da.

Der kurzfristige Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz fand nirgendwo soviel Respekt wie bei seinem sowjetischen Kollegen, für den Bundeswehr-Inspekteur, Admiral Dieter Wellershoff, trat in Moskau eine Ehrenkompanie ins Gewehr. Derzeit reist eine Besuchergruppe von Sowjetarmisten durch das rehabilitierte Revanchisten-Land am Rhein - Argumente für den germanophoben William Safire.

Da macht neugierig, wie der unbefangene Realist Gorbatschow die unrealistischen Begehren seiner Konservativen und die unerfüllbaren Wirtschaftswünsche seiner Liberalen in sein Westdeutschland-Programm integriert.

Die deutsche Frage, die schemenhaft wieder auftauchte, hat er der »Geschichte« überwiesen, den nächsten 100 Jahren - womit er sie zugleich für offen erklärte und weit wegschob.

Die »Geschichte« bemühte auch sein Generalstabschef Michail Moissejew gegenüber dem Bundesadmiral Wellershoff: »Die Geschichte hat Deutschland geteilt, aber die Geschichte muß korrigierbar sein. Und die Geschichte wird von uns gemacht.«

Ja, ja, die Geschichte.

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