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COMPUTER Globale Pinnwand

Aktivisten aus der amerikanischen und britischen Friedensbewegung bauen ein weltweites Computer-Netzwerk auf.
aus DER SPIEGEL 20/1989

Der Apparat war gut gerüstet. Als sich Banker und Finanzfürsten im vergangenen September im Berliner Congress Centrum zur Jahrestagung von Weltbank und Währungsfonds versammelten, schien der zugehörige Medienzauber perfekt organisiert.

Gut abgeschirmt saß das internationale Pressecorps in einem eigens eingerichteten Medienzentrum. Modernste Kommunikationstechnologie stand großzügig bereit, um die Ansichten der Herren des Geldes schnell und weltweit zu verbreiten. Kritischen Stimmen, die den Bankern unsoziales Schuldenmanagement oder die Förderung umweltzerstörender Mammutprojekte in der Dritten Welt vorwarfen, sollte möglichst wenig Raum bleiben.

Das Konzept ging nicht auf. Überraschend erhielten Fachjournalisten und Redaktionen in zahlreichen Ländern zu allen angesprochenen Themen präzise Fakten und Stellungnahmen, die am Weltbank-Regime kein gutes Haar ließen.

Die Quelle der subversiven Informationspolitik lag im Berliner Stadtteil Schöneberg. Dort, fünf Kilometer entfernt vom Beton-Labyrinth des Congress Centrums, hatte in einer Fabriketage im dritten Stock eines alten Gewerbehofes eine bunte Truppe von Umwelt- und Dritte-Welt-Aktivisten aus 35 Nationen Quartier bezogen. Wie ihre Gegenspieler nutzte auch sie konsequent die verschiedenen Möglichkeiten der modernen Datenfernübertragung.

Ausgerüstet mit fünf transportablen Personalcomputern (PC), Laser-Druckern und drei Telephonleitungen, versandten und empfingen die Weltbank-Kritiker »online« per Telephon schnell und billig rund um die Uhr Texte beliebiger Länge, die mit Hilfe von Hochgeschwindigkeits-Modems in Form von Millionen elektrischer Impulse auf die Reise geschickt wurden.

Unablässig verarbeiteten so Vertreter von Gruppen wie »Rainforest Action Network« oder »Friends of the Earth« (FoE) die neuesten Nachrichten über die verschiedenen Gegenveranstaltungen in Berlin, Washington oder London.

Täglich setzten sie Dutzende von Presseerklärungen ab, die innerhalb einer Stunde als Telex oder Telefax auf den Schreibtischen der zuständigen Redakteure von über 20 großen Presseagenturen und Zeitungsredaktionen landeten. Zugleich empfingen sie von Helfern aus den Heimatländern neue Artikel für die täglich erscheinende Kongreß-Zeitung oder qualifizierte Stellungnahmen zu einzelnen Sachfragen.

»Wir haben die Pressestrategie der Weltbank einfach unterlaufen«, freute sich FoE-Koordinator Koy Thomson. »Was die internationale Gegenlobby hier vorgeführt hat«, kommentierte einer der wenigen deutschen Teilnehmer der konzertierten Gegen-Aufklärung, »ist ein Quantensprung für die politische Basisarbeit.«

Solche Kampfkraft im elektronischen Powerplay um die Gunst der öffentlichen Meinung verdankte die in Berlin zusammengekommene Umwelt- und Menschenrechtsinternationale vor allem dem englischen Computer-Enthusiasten »Mitra« - einem Mann, der seinen Taufnamen schon seit Jahren kurzerhand durch sein Computer-Kürzel ersetzt hat.

Mitra, 29, ist Vordenker und Initiator des europäischen Zweigs in einem ständig wachsenden internationalen Computer-Netzwerk, das seit zwei Jahren die »ungeheuren Vorteile« (Mitra) der elektronischen Kommunikation auch für Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen nutzbar macht.

Als Medium für den schnellen Austausch von Informationen, für die Suche nach neuen Bündnispartnern und für die internationale Koordination von Aktionen über alle Grenzen und Zeitzonen hinweg ist das alternative Daten-Netzwerk für zahlreiche Organisationen schon heute unverzichtbar - so auch während der Weltbank-Tagung. Ein gemeinschaftlich genutzter Zentralrechner in London, der europäische Knotenpunkt des Netzes, empfing die vielfältige elektronische Post (e-mail) und sandte sie automatisch nach abrufbaren Programmen zu anderen Rechnern oder als Telex und Telefax weiter.

»Es begann damit«, so Mitra, »daß ich mich in meiner Friedensinitiative immer über den zeit- und kostenaufwendigen Postversand von Aufrufen, Rundbriefen und ähnlichem geärgert habe.« Nach Abschluß seines Informatik-Studiums vor vier Jahren machte er sich deshalb in mühevoller Heimarbeit an die Entwicklung eines Computer-Konzepts, das solche und andere Arbeiten künftig rationeller, zuverlässiger und vor allem billiger gestalten sollte.

Der Durchbruch gelang im Herbst 1987. Eine befreundete Firma stellte einen alten Minicomputer vom Typ »Plexus« zur Verfügung, den Mitra mit seinem Mitstreiter Jeremy Mortimer von einem auf vier Megabyte, entsprechend etwa der achtfachen Speicherkapazität eines normalen PC, aufrüstete. Er wurde zwei Monate später zum technischen Herzstück von »GreenNet«, dem ersten Computer-Service-Unternehmen auf »Nonprofit«-Basis in Europa.

Von einer engen Büroetage im Londoner East End aus versucht eine Drei-Personen-Crew seitdem das Versprechen der Gründungserklärung einzulösen, »der Friedens- und Umweltbewegung die gleichen Kommunikationsmöglichkeiten zu geben, wie sie auch den Regierungen, dem Militär und den Multis zur Verfügung stehen« - mit erstaunlichem Erfolg.

Schon über 600 Nutzergruppen und Einzelpersonen setzen derzeit ihre Nachrichten, Rundbriefe und Diskussionspapiere in den Datenspeicher des GreenNet-Knotens ab, jeden Monat kommen knapp 100 dazu. Das Spektrum der elektronisch diskutierten Themen reicht von den neuesten Ergebnissen der Aids-Forschung über Initiativen gegen die geplante Einführung der Lebensmittel-Bestrahlung bis zu den Investitionsplänen europäischer Unternehmen in Südafrika. Längst zählen Organisationen wie Amnesty International, Friends of the Earth International, Greenpeace und beinahe alle britischen Friedensinitiativen zu den Stammkunden des Wachstumsunternehmens.

Die Software des Systems ist im Prinzip nach dem schon weithin üblichen Schema der »Electronic mailboxes« aufgebaut. Jeder Nutzer hat über ein persönliches Passwort Zugang. An ihn adressierte Briefe werden in seinem elektronischen Postfach gespeichert und sind nur von ihm abrufbar. »So ist man überall erreichbar«, schwärmt Mitra, »wenn nur ein PC und ein Telephon da sind.«

An Adressaten außerhalb des Green-Net-Netzes können Briefe oder Presseerklärungen auch direkt in das internationale Telex-Netz der Post oder in Telefax-Geräte gesandt werden. Ein eigenes Sendegerät wird nicht gebraucht, der PC genügt.

Daneben sind im GreenNet-Rechner sogenannte Public conferences für jeden Nutzer zugänglich. Dort finden die Anrufer alle Arten von Nachrichten, Anfragen, Hilferufen wie auf einem öffentlichen Pinnbrett, das nach Hunderten von Themen untergliedert ist. Ergänzungen oder Antworten können sofort hinzugefügt, die jeweils interessanten Themen können individuell zusammengestellt und automatisch abgefragt werden. Zudem haben alle Gruppen die Möglichkeit, auch private Konferenzen zu schalten, um etwa Diskussionspapiere oder Aktionsvorschläge ihren meist weitverstreuten Mitgliedern bekannt zu machen.

»Meine Arbeit«, versichert etwa Koy Thomson, Leiter der FoE-Kampagne gegen die Zerstörung der Tropenwälder, »ist ohne diese Hilfsmittel nicht denkbar.« Wer gleichzeitig viel reisen und koordinieren müsse, »hat damit einen transportablen Arbeitsplatz. Die Aktenordner können zu Hause bleiben«. Thomson: »Wenn es schnell gehen muß, kann das den Unterschied zwischen Erfolg und Mißerfolg ausmachen.«

Neben den technischen Möglichkeiten bietet die GreenNet-Crew zudem einen Service, der sie von kommerziellen Mailbox-Betreibern unterscheidet: Sie denkt mit. Strikt achten die Mitarbeiter darauf, daß die Handhabung auch für Computer-Laien übersichtlich bleibt. Täglich sichten sie möglichst viele der eingegangenen öffentlichen Anfragen und Nachrichten, schalten sie, falls notwendig, auch über verschiedene »Conferences«, richten neue Themengebiete ein und vermitteln gezielt Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen.

Weitgehende Möglichkeiten bekommt die Online-Subversion im Londoner East End vor allem durch ihre Verbindung zu verwandten Netzen in Übersee (siehe Graphik Seite 98). So sind via GreenNet auch die über 3000 Mitgliedsgruppen der parallel entstandenen amerikanischen PeaceNet und EcoNet erreichbar. Den zugehörigen Rechner betreibt mit einem identischen Programm das »Institute for Global Communications« (IGC) in Palo Alto bei San Francisco. Mindestens einmal pro Stunde, zumeist aber im Fünf-Minuten-Takt tauschen die beiden Computer-Zentralen automatisch alle überregional wichtigen Nachrichten und Briefe aus.

Gemeinsam versuchen die E-mail-Strategen der jüngst gegründeten »Association for Progressive Communications«, die Kosten für ihre Kunden so niedrig wie möglich zu halten. Pro Verbindungsminute berechnet etwa Green-Net seinen Mitgliedern lediglich 27 Pfennig, der monatliche Umsatz erreicht knapp 20 000 Mark. Die Verbindungszeit auf der teuren Fernleitung über den Atlantik drücken sie mit Hilfe von »High-speed-modems« und »Daten-Kompression« auf ein Minimum.

Verbilligt wird die Bildschirm-Kommunikation zudem durch die nationalen Daten-Paket-Netze wie das bundesdeutsche Datex-P, die in allen Industrie-und einigen Entwicklungsländern zur Verfügung stehen. Sie können in der Regel zum Ortstarif angewählt werden, die dann geschalteten Verbindungen ins Ausland sind erheblich billiger als normale Telephongespräche. Die Übermittlung eines zweiseitigen Textes aus der Bundesrepublik nach London kostet damit gerade mal dreißig Pfennig.

Die Größe des mit so geringen Mitteln geschaffenen Kommunikationspools scheint dagegen unbegrenzt. Fast 500 der elektronischen Pinnbretter sind auf den Speicherplatten nur des Green-Net-Rechners schon entstanden. Da speist etwa Greenpeace wichtige Pressemeldungen aus dem Umwelt-Bereich unter »gp.press« ein, Amnesty International alarmiert seine Mitgliedsgruppen über besonders dringende Hilferufe von politischen Gefangenen, oder Regenwald-Schützer koordinieren Aktionen gegen den japanischen Mitsubishi-Konzern in Düsseldorf, Tokio, Stockholm und Sydney.

Dann wieder alarmiert das »North Atlantic Network« unter »nan.ships« seine Mitglieder in verschiedenen Nato-Staaten über den voraussichtlich nächsten Anlaufhafen von Kriegsschiffen mit allen zugehörigen Daten über Bewaffnung, Alter und Umfang der Besatzung, oder unter »basic.nato« erfahren die Anrufer, »was Sie schon immer über die Nato wissen wollten, aber sich nie zu fragen trauten«. Sogar die Mitarbeiter der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti eröffneten im vergangenen Jahr bei GreenNet eine eigene »Conference«, um sich mit westlichen Friedensbewegten über Abrüstungsfragen auszutauschen.

Eine Ost-West-Verbindung besonderer Art beherbergt auch der IGC-Rechner in Palo Alto, den »San Francisco/ Moscow Teleport«. Er schafft über eine eigens eingerichtete Satelliten-Verbindung Kontakt zu inzwischen schon mehreren Dutzend sowjetischen Forschungseinrichtungen und verschiedenen halboffiziellen Institutionen.

Zwar ist der »Teleport« in erster Linie für kommerzielle Zwecke gedacht, und der Informationsaustausch beschränkt sich auf jene privilegierten Sowjetbürger, die über einen Computer verfügen und Zugang zum sowjetischen Datenübertragungsnetz haben.

Doch ein »Gateway«, ein Übergang, zu PeaceNet ermöglicht etwa den Mitarbeitern von Nobelpreisträger Andrej Sacharow die Mitarbeit bei der »International Foundation for the Survival of Humanity«, einem weltweiten Zusammenschluß engagierter Wissenschaftler gegen Rüstung und Umweltzerstörung, dem auch der Münchner Physiker Hans-Peter Dürr und das von ihm ins Leben gerufene »Global Challenges Network« (GCN) angehören. »Ohne die Computer-Verbindung«, so ein GCN-Mitarbeiter, »wäre die Arbeit der Stiftung gar nicht möglich, die Reisekosten wären unbezahlbar.«

Die GCN-Gruppe und ein Dutzend weiterer international engagierter Verbände und Stiftungen sind jedoch eher die Ausnahme in der bundesdeutschen Umwelt- und Friedensszene, auf der Landkarte des alternativen Computer-Netzwerks zählt die Bundesrepublik zur Provinz. »Viele Initiativen«, klagt der Hannoveraner Informatiker Udo Schacht, »begreifen erst ganz langsam, wie sinnvoll so eine globale Pinnwand im Computer ist.« Schacht, selbst Betreiber einer kleinen Mailbox für Umweltnachrichten, versucht deshalb gemeinsam mit anderen Computer-Aktivisten ein deutsches Parallel-Netz zu GreenNet aufzubauen, um es dann in den weltweiten Verbund »einzuklinken«.

Noch weitergehende Pläne hat Helmut Röscheisen, Geschäftsführer des Deutschen Naturschutzrings. Er will GreenNet oder etwas Vergleichbares zu »einem weltweiten Frühwarnsystem« für umweltzerstörende Projekte in der Dritten Welt entwickeln, um »gegen die Umweltschweinereien« in den armen Ländern »schon in der Frühphase« vorzugehen. »Ohne schnelle Hilfe«, so Röscheisen, »haben die Menschen da doch kaum Chancen, sich zu wehren.« Mit dem Versand von Fragebögen an 1200 Basisorganisationen in der Dritten Welt hat der Aufbau des globalen Umweltalarms schon begonnen.

Bei den bestehenden Verbindungen wollen es die Computer-Netzwerker ohnehin nicht belassen. Ende des Monats werden weitere Rechner-Knoten in Toronto, Stockholm, Managua und Rio de Janeiro ans Netz geschaltet. Ein weiteres System ist auch im australischen Sydney im Aufbau.

Für den Start in Nicaragua und Brasilien stellte die Uno-Entwicklungsorganisation UNDP bereits erhebliche Mittel zur Verfügung. Für Länder ohne zuverlässige öffentliche Telephon- oder Datennetze experimentierte der kleine IGC-Stab gar schon mit billigen Funkverbindungen, die über Distanzen von bis zu 1000 Kilometern den Kontakt zu neuen Knotenpunkten herstellen könnten. »Wenn wir es mit all den Millionen-Dollar-Publicity-Maschinen aufnehmen wollen, dann müssen wir unser Netz so groß wie möglich machen«, rechtfertigt Mitra das kühne Expansionsprogramm.

Daß der Aufwand und die Informationsmenge dereinst vielleicht zu groß werden könnten, hält IGC-Direktor Geoff Sears für »unwahrscheinlich«. Mit »guten Computern und Programmen«, so Sears, »kriegen wir das in den Griff«. Größere Angst haben die Friedenskämpfer am Bildschirm dagegen vor den Begehrlichkeiten staatlicher Polizeibehörden und Geheimdienste. Daß der Datenfluß gelegentlich mitgeschnitten wird, steht nach Meinung der Netzwerker ohnehin außer Zweifel. Bei den Verbindungen nach Moskau etwa, meint Sears, »hört natürlich hier die NSA und drüben das KGB mit«.

Weil alle Informationen in den Festplatten der Rechner zentralisiert gespeichert sind, hätten die Behörden aber im Bedarfsfall leichten Zugriff auch auf alte Datenbestände und die Namen aller Nutzer. Die Organisation von gewaltfreien Aktionen per Computer, befürchtet deshalb GreenNet-Mitarbeiterin Vivian Kendon, könnte böswillig als »konspirative Verabredung von Straftaten ausgelegt werden«. Der Beweis wäre dann leicht zu führen. Wenn die Behörden das wollten, so Kendon, könnte »unser Unternehmen zum internationalen Testfall« werden.

Von verschlüsselter Datenspeicherung wollen die Chip-Strategen jedoch vorläufig nichts wissen. »In Wahrheit haben wir ja nichts geheimzuhalten«, versichert Kendon. Das könne sich nur ändern, wenn es wirklich ernst werde. Kendon: »Technisch wäre es kein Problem, die Software haben wir.«

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