THEATER / BRECHT Glotzt nicht so romantisch
(s. Titel)
»Er wirkt, wenn man ihn so sieht, unscheinbar wie ein Arbeiter, ein Metallarbeiter, doch für einen Arbeiter zu unkräftig, zu grazil, zu wach für einen Bauern, überhaupt zu beweglich für einen Einheimischen, verkrochen und aufmerksam, ein Flüchtling, der schon zahllose Bahnhöfe verlassen hat, zu schüchtern für einen Weltmann, zu erfahren für einen Gelehrten, zu wissend, um nicht ängstlich zu sein, ein Staatenloser, ein Mann mit befristeten Aufenthalten, ein Passant unserer Zeit, ein Mann namens Brecht ...«
So zeichnet - in einem eben bei Suhrkamp erscheinenden Tagebuch*) - der Schweizer Architekt und Schriftsteller Max Frisch das äußere Bild des denkenden, rechnenden Dichters Bert Brecht.
Die rund zwölf Seiten, auf denen Frisch seinen Umgang mit Brecht beschreibt, haben seltenen, dokumentarischen Wert. Ueber die Person Bert Brechts ist kaum etwas veröffentlicht worden. Brecht redet auch im privaten Kreis meistens zur Sache, mit Journalisten redet er möglichst gar nicht.
Max Frisch hat Bert Brecht im Dachgeschoß eines Schweizer Gärtnerhauses besucht, in einem der vielen, vorläufigen Quartiere des Emigranten. Solche Zimmer, die aussahen, als könnten sie binnen weniger Stunden verlassen werden und nichts bliebe zurück, hat der Passant Brecht seit dem Reichstagsbrand 1933 mit seiner Frau Helene Weigel und den beiden Kindern viele belegt:
Nacheinander in Prag, in Wien und in Svendborg (wo ihnen die romanschreibende Frauenverteidigerin Karin Michaelis ein strohgedecktes Häuschen einräumte), in Frankreich, Schweden und Finnland, in Moskau und im kalifornischen Santa Monica.
Brecht, der von den Kapitalsozialisten geächtete Marxist, fühlte sich nicht als Auswanderer, sondern als Verbannter. Er wollte kein Exil zur »neuen Heimat« verklären:
»Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl!
Warum für vier Tage vorsorgen?
Du kehrst morgen zurück!
..........
Ziehe die Mütze ins Gesicht, wenn die Leute vorbeikommen!
Wozu in einer fremden Grammatik blättern?
Die Nachricht, die dich heimruft
Ist in bekannter Sprache geschrieben.«
Die Nachricht kam; etwa zehn Jahre, nachdem das Gedicht sie erwartet hatte. Und erst dreieinhalb Jahre nach der Kapitulation, im Spätherbst 1948, ging Brecht zum ersten Male durch Berliner Ruinen.
Amerikanische Behörden hatten ihm zunächst die Ausreise erschwert. Dann, als Brecht schon in der Schweiz wartete, versperrte eine andere amerikanische Stelle die Einreise nach West-Deutschland. Freund Egon Erwin Kisch, der vom »rasenden Reporter« zum Bürgermeister von Prag avanciert war, schickte einen tschechischen Paß. Die Russen öffneten und ebneten den Weg nach Ost-Berlin.
Es störte sie nicht, daß Brecht, Ende 1947 wegen unamerikanischen Verhaltens angeklagt, geleugnet hatte, Kommunist zu sein. Brechts vorsichtige und sanfte Antworten überzeugten den amerikanischen Ausschuß davon, daß der Dichter, der wirklich nie Mitglied der KPD war, die deutschen Arbeiter gegen den Faschismus und nicht die Arbeiter der Welt gegen den Kapitalismus aufgerufen habe.
(1934 schrieb Brecht und 1949 druckte es Suhrkamp wieder: »Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden.")
»Sie haben sich sehr gut aus der Affäre gezogen, viel besser als die anderen. Die sollten sich an ihnen ein Beispiel nehmen«, klopfte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum Schluß Brecht gleichsam auf die Schulter. Die Sitzung wurde auf eine Wachsplatte aufgenommen. Brecht spielt sie sich noch manchmal vor.
Sie gehört zu den wenigen Gegenständen, die Brecht bis nach Berlin gebracht hat. Eine kleine Schachtel mit Mikrophotos von einigen seiner Arbeiten und ein Schmalfilm von der Aufführung des Gewissensdramas »Galileo Galilei« mit Charles Laughton auf einer Hollywood-Bühne waren auch im Gepäck.
Brecht steht im neuen Berliner Telefonbuch, ohne Berufsangabe und mit falsch geschriebenem Vornamen, Berthold statt Bertold. Sein Haus in Weißensee ist mit wenigen und hübschen Biedermeiermöbeln eingerichtet und - nicht billig - gemietet. Brechts Auto, ein Steyer-Zweisitzer, wie er ihn schon in den zwanziger Jahren fuhr, ist gekauft.
Die Sowjets wollten Brecht eine beschlagnahmte Villa und einen Prunkwagen stellen. Er bezahlte lieber.
Er verdient auch gern. Der gebräuchliche Vorwurf, er verrate mit der merkantilen Praxis die marxistische Theorie, trifft nicht. Der Marxismus verbietet, Kapital aus der Arbeit anderer zu ziehen. Ein Künstler, der nur seine Produkte vertreibt, darf nach Kräften reich werden.
Vor einiger Zeit prozessierten die Verlage Desch und Kiepenheuer wegen der Rechte am »Dreigroschenroman«. Sie grenzten zum Schluß ihre Verbreitungsgebiete ab und einigten sich darauf, daß besser beide gegen Brecht vorgegangen wären.
Der hatte zweimal verkauft, einmal 1934 an Allert de Lange, Amsterdam, den Kiepenheuer für Deutschland vertritt, und 1948 an Kurt Desch. Die Ostzone beliefert der Aufbau-Verlag mit dem Dreigroschenroman.
»Wenn es um Geld geht, ist der Brecht nicht schüchtern«, sagt sein Schulfreund, der Arzt Dr. Müllereisert. »Er hat den gesunden Erwerbssinn der Schwarzwälder Bauern.«
Aus dem Schwarzwald stammte die Mutter Brechts. »Vom armen B. B.« handelt das letzte Gedicht in Brechts so weltlicher und ungemütlicher »Hauspostille":
»Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein,
Als ich in ihrem Leib lag ...«
Das geschah 1898, Brechts Vater war in Augsburg Direktor einer Papierfabrik:
»Ich bin aufgewachsen als Sohn
Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir
Einen Kragen umgebunden und mich erzogen
In den Gewohnheiten des Bedientwerdens
Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens.
Aber
Als ich erwachsen war und um mich sah,
Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht,
Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden.
Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich
Zu den geringen Leuten.«
Brecht, Student der Medizin, kam bis zum Physikum. Als Sanitätssoldat des ersten Weltkrieges schrieb er, kaum zwanzigjährig, die »Legende vom toten Soldaten«, die Ballade vom k. v. geschriebenen, begrabenen, wieder ausgegrabenen und marschierenden Krieger. Das wenig wehrfreudige Gedicht trug 1933 zur Ausbürgerung seines Verfassers bei.
Als der Schulfreund Müllereisert sich im Freikorps Epp den Krieg verlängerte, schrieb ihm Brecht: er werde im Falle des Heldentodes nicht am Begräbnis teilnehmen. Nach einer Woche korrigierte er sich: Dummheit sei kein Scheidungsgrund.
Er sehe dem Heldentod seines Freundes nunmehr fassungslos entgegen und werde zum Begräbnis kommen. »Da bin ich ausgetreten aus dem Freikorps«, sagt Müllereisert, der heute nahe dem Kurfürstendamm praktiziert.
In einem Münchener Lokal sang Brecht mit seiner dünnen, hellen Stimme die Legende vom toten Soldaten. Lebende ehemalige Soldaten warfen ihm dafür Biergläser zu.
Manchmal hatte das Lautenspiel angenehmere Folgen. Müllereisert: »90 % seiner Frauen hat er so bekommen.«
Die erste Sammlung von Brecht-Gedichten erschien 1925, ironisch »Hauspostille« genannt. Sie war kein Handbuch für fromme Philister »zur Seite des wärmenden Ofens«. Diese Balladen von Seeräubern und Abenteurern, vom unschuldigen Elternmörder Jakob Apfelböck und von der rachitischen Kindsmörderin Marie Farrar, von grünem Schnaps und grünen Wasserleichen, klangen trunken und höhnisch zugleich, bitter und gütig. Brecht berichtete von Katastrophen oder sehr traurigen Zuständen und nahm dabei - noch ohne politisches Programm, aber mit lyrischer Gewalt - die Partei der »Mörder, denen viel Leids geschah«, der Armen, der Recht- und Glanzlosen.
Auch Brechts frühe Dramen waren melodischer Bürgerschreck. »Baal«, Dichter, Karussellbesitzer und Holzfäller, wütete in Gesängen, Getränken und Frauen. »Trommeln in der Nacht« ist sein 1922 mit dem Kleistpreis ausgezeichnetes Stück vom ausgedörrten Heimkehrer Andreas Kragler, dessen Braut einem Geschäftsmann verkuppelt wurde. Die Dialoge sind kühn und ungebärdig, assoziativ verschnörkelt, die Stimmung pessimistisch.
Bei der Premiere in den alten Münchener Kammerspielen Otto Falckenbergs, einem bescheidenen Bumslokal in der Augustenstraße, befahlen Spruchbänder: »Glotzt nicht so romantisch!« Das war Brechts erster Angriff auf die Verzückung des Publikums, der Kern der später ausgeführten und umstrittenen Theorie vom Illusionen-feindlichen »epischen Theater«.
Brecht sparte nie mit Anweisungen zur Aufnahme seiner Stücke. »Im Dickicht der Städte«, eine Folge mörderischer Geschäfte im Dschungel Chicagos, begleitete er mit dem sportlichen Rat: »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive des Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen. Beurteilen Sie unparteiisch die Kampfchancen der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish«.
Bei der Münchener Premiere, 1922, - Otto Wernicke kämpfte als malaiischer Holzhändler - wurde die Bühne des Rokokosaales mit Tränengas bombardiert. Der Aufmarsch der Heilsarmee hatte Pietätvolle verwundet.
Dafür fand Brecht bei dieser Inszenierung den kühlen und genauen Regisseur, den er brauchte: Erich Engel, den Gefährten in vielen Theaterschlachten bis heute. Der erste Brecht-Verteidiger und -Erläuterer hatte schon die »Trommeln in der Nacht« vernommen: Herbert Ihering.
1922, als Ihering den Kleist-Preis zu vergeben hatte, gab er ihn dem jungen Brecht. Später befehdeten Ihering und Alfred Kerr einander ausdauernd in ihren Zeitungen, Ihering für Brecht und Kerr für Hauptmann.
Felix Holländer, lange Chefdramaturg Max Reinhardts, danach Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, bat nach der Lektüre von zwei Brechtdramen Ihering, ihn mit dem Autor zusammenzubringen: »Es sind die einzigen Werke, wo man etwas vom Genie merkt.«
Als Brecht das Direktionszimmer betrat, schoß Holländer los: »Herr Brecht, von nun an wird im Deutschen Theater jedes Jahr die Brecht-Uraufführung sein, was früher die Hauptmann-Uraufführungen waren.« Später verzankte man sich, denn Holländer wollte Brechts Stücke im Reinhardt-Stil ausmalen, als farbigen Zauber.
Holländer verließ die Direktion, wurde Theater-Kritiker am Acht-Uhr-Abendblatt und verriß alle Brecht-Premieren »Aber Herr Holländer, wer hat denn diese Werke angenommen?« fragte in der Pause der verbindliche Literarhistoriker Paul Wiegler. »Ich, aber das tut ja nichts zur Sache«, sagte der Rezensent.
Brechts eigener Aufführungsstil wurde zum erstenmal radikal an sein Lustspiel »Mann ist Mann« gewandt (mit Peter Lorre und unter Brechts Regie). Der Stil der »Verfremdung«, der Distanz der Schauspieler zu ihren Rollen, soll den Zuschauer nicht entrücken, sondern zum Urteilen zwingen.
Brecht inszenierte »Mann ist Mann«, die Geschichte des irischen Packers Galy Gay, als strenges Maskentheater. Keine Mimik sollte vom Vorgang ablenken oder ihn dem Publikum so nahe bringen, daß es miterlebte statt zu werten.
Galy Gay geht in Indien auf den Markt, um einen kleinen Fisch zu kaufen. Er kommt nicht mehr nach Hause, sondern ersetzt der englischen Armee einen unterwegs verlorenen Soldaten. Gay erhält eine Uniform und verliert seinen Namen: Menschenmaterial ist austauschbar.
Wieder kommentierte sich der Autor in eingestreuten Songs und in Zeitungsaufsätzen. Nicht aus Eitelkeit - Brecht ist abenteuerlich uneitel - sondern der Forschung, seiner Soziologie zuliebe. Man möge in Gay »keinen alten Bekannten« sehen, sondern »eine neue Art von Typ«, bat Brecht. Gay ist der Massenmensch, der, ohne Schaden zu nehmen, ummontiert wird wie ein Auto. Der Packer, der nicht nein sagen konnte, erstarkt in der Masse.
So zäh Brecht seit mehr als 20 Jahren dem Publikum und den Schauspielern seine Methoden und Ziele erläutert, er kann nicht hindern, daß er von wenigen verstanden wird und von vielen mißverstanden. Dabei ist seine Sprache, seit sie expressionistisch ausgestürmt hat, einfach, volkstümlich, fibelhaft, manchmal fast biblisch. Aber Brecht läßt die Ironie höchstens in einigen Novellen und Gedichten aus der Hand, Ironie erreicht die Massen nicht.
Die »Dreigroschenoper«, Spätsommer 1928 im Schiffbauerdamm-Theater, war der Publikumserfolg. Diese Parodie der historischen »Bettleroper« von John Gay, die ihrerseits wieder die Händel-Oper des 18. Jahrhunderts parodiert, war vorher von vielen Bühnen abgelehnt worden. Noch am Abend der Generalprobe sollten die später so berühmten Songs gestrichen werden. Den Erfolg, erzählt Frau Brecht-Weigel, habe man erst vier Tage nach der Premiere bemerkt. Als die Hotel-Portiers anriefen, für ihre Gäste aus der Provinz.
In dem bürgerlichen Räuber Mackie Messer wollte Brecht den räuberischen Bürger treffen, jeden Bürger. Aber die Kapitalisten im Parkett freuten sich an den geschmeidigen Gangstern und witzigen Huren auf der Bühne und stimmten, der Heuchelei müde, zu, sangen mit:
»Erst kommt das Fressen,
Dann kommt die Moral.«
Die Einwender verstanden Brecht so wenig wie die meisten der Applaudierenden, 1928 und 1945. Als die »Dreigroschenoper« nach Kriegsende wieder in den Spielplänen auftauchte, protestierten katholische Jugendverbände gegen »die Verherrlichung des Bandenunwesens.«
Aber die soziologischen Inhalte hatten spürbar gelitten. Nicht darum, weil, wie die »Sächsische Zeitung« schrieb, »Erst kommt das Fressen ...« sich dem neuen Arbeitsethos nicht einfüge. Aber die Berliner Presse fand: »Die Bekenntnisse zu Brechts moralischen Thesen klingen wie leere Posaunenstöße.«
Der Film nach der Dreigroschenoper wurde 1947 in der Ostzone neu aufgeführt und wieder aus dem Verkehr gezogen.
»Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht
Und mach dann noch nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.«
Das Lied des Bettlerkönigs Peachum erntete zu herzliches Gelächter bei den Zwei- und Fünfjahresplanaktivisten.
Brecht haßte seinen Film ohnehin. Die Firma hatte aus Geschäfts- und Zensurrücksichten die Tendenz aufgeweicht. Brecht verlor gegen sie den »Dreigroschenprozeß«.
Weil er Geld brauchte, schrieb er später in Hollywood wieder für den Film, für Fritz Lang z. B., der ihn geholt hatte.
»Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen
Gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.«
Aber er hatte wenig Erfolg mit seinen Drehbüchern, für die er pünktlich seine Rente bekam. Nur ein Film wurde gedreht: »Hangmen also die«.
Jetzt hat er einen Drehbuchvertrag mit der ostzonalen DEFA. Aber ob der geplante Farbfilm zustande kommen wird, fragt sich. Alle vier Wochen trifft Brecht junge DEFA-Autoren. »Man weiß nie, ob er es ernst meint«, klagen einige.
Die jungen Leute, die Brecht im »Berliner Ensemble« erzieht, verstehen seine Ironie schon besser, sie sind ausgesucht. SED-Parteibuch und hübsche Nasen galten dabei nichts. (Brecht selbst ist nicht in der SED).
Barbara, Brechts niedliche 16jährige Tochter, gehört auch zum Ensemble. Sie durfte in der »Hofmeister«-Bearbeitung ihres Vaters einen Backfischsatz sprechen. Brechts 24jähriger Sohn studiert Naturwissenschaften.
Brechts Frau Helene Weigel, 50, schlank und sehnig, oft in handgewebtem Leinen, leitet die Truppe. Ihre Tagesbefehle kleben im Haus des Ostberliner Künstlerlokals »Möwe« am schwarzen Brett. Brecht ist offiziell nur »künstlerischer Mitarbeiter«.
Die Frau Weigel lieben, vergleichen sie mit der Neuberin. Das tun viele, denn sie besorgt ihren Schauspielern und deren Familien alles, Möbel und Sanatoriumsplätze. Angelika Hurwicz, als dumme Tochter der »Mutter Courage« bekannt geworden, rühmt ihre Prinzipalin: »Sie ist fürwahr ein Wunder menschlichen Funktionierens.« Und: »Man getraut sich in ihrer Gegenwart zu sein, wie man ist.«
»Es liegt in der Art, wie Helene Weigel das direktorale Zepter schwingt, eine unverkennbar mütterliche Note. Man wird vergewaltigt, zum Arzt zu gehen oder wollene Halstücher zu tragen«, freut sich Angelika Hurwicz.
Die Schauspielerin Weigel ist hart und sprachlich klar. Sie ist auch genau. Für die Rolle der Spanierin »Frau Carrar« lernte Frau Weigel bei dänischen Fischern Netze flicken. Sie ist heute auch eine geübte Pfeifenraucherin, denn »Mutter Courage« raucht Pfeife.
1921 holte Jeßner Helene Weigel gemeinsam mit Heinrich George, Gerda Müller und Robert Taube nach Berlin. »Sie hat nie eine populäre Rolle gespielt, sondern sich immer exponiert«, sagt Herbert Ihering von ihr.
Sie exponiert sich vor allem in Brecht-Rollen. Die »Mutter«, von Brecht nach Gorki, war ihr größter Erfolg. Die meisten Schauspielerinnen gaben von dieser Rolle nur die Mutter. Ihering: »Helene Weigel glaubte man die Arbeiterin und die Mutter, die Proletarierin und die Wirtschafterin im Haushalt.«
1948, als Helene Weigel zum zweiten Male nach Berlin kam, dankte ihr Wolfgang Langhoff für die vielen Pakete, die sie aus Amerika an deutsche Schauspieler geschickt hatte. Von sich selbst spricht sie nicht gern. »Wir wollen arbeiten und nicht reden.«
Beides läßt sich für die überzeugte Kommunistin oft vereinigen. Frau Weigel ist lebhafter als ihr Mann dabei, dem Marxismus gesprächsweise Seelen zu gewinnen.
»Vom Brecht hören sie kein politisches Wort«, versichert Freund Müllereisert: »Ich sag' nix«, kündigt Brecht vor Diskussionen mit gewissen Kulturfunktionären an.
Aber er sagt immer wieder was. »Das Publikum muß mit dem Künstler mitkommen«, verlangte ein östlicher Kulturpapst. Brecht: »Dann setzt man das Publikum eben in Autobusse und schickt es hinter dem Künstler her.«
Brechts leicht vorgebeugte Gestalt im unwattierten, hochgeschlossenen Anzug, sein halb geschorener, immer etwas schräg gehaltener Kopf mit der großen Hornbrille, tauchen selten bei Premieren und Feiern auf. Als ihm im »Haus der Sowjetkultur« ein Empfang gegeben wurde, man ihn aber an der Tür versehentlich nicht einließ, kehrte er sehr glücklich und sehr eilig um.
Brecht sähe aus wie ein neurotischer Dorfschullehrer, finden manche Verehrer enttäuscht. Früher trug er Jackett, Krawatte und Schiebermütze aus Leder. Heute ist das meiste aus dünnem Stoff. Aber er wollte nie auffallen, er wollte sich nur bequemer anziehen.
»Seine Proben haben nie die Luft eines Boudoirs, sondern einer Werkstatt«, schrieb Frisch in der Schweiz. In Berlin bildet der Werkmeister Brecht Regie-Gesellen und dramatische Lehrlinge aus. Er läßt sie »Modelle« (Inszenierungspläne) entwerfen und Klassiker bearbeiten. Sie dürfen mitreden, eingreifen, wenn er Regie führt.
Brecht bleibt auch auf den Proben höflich. Wenn der Aerger groß ist und ein Problem schwierig, wird das Bild des chinesischen Weisen in Brechts kargem Arbeitszimmer entrollt. Hat sich die Sache geklärt, rollt Brecht die Malerei wieder auf.
Brecht liest viel chinesische Philosophie, übersetzt chinesische Lyrik. Das symbolreiche chinesische Theater ist eine Quelle der Brechtschen Bühnentheorie.
Die Idee vom »Epischen Theater« dient Brecht zur Illustration der Klassendisharmonien. Die Einteilung ist leicht: es gibt »Obere« und »Untere«. Die Oberen: Besitzer, Generale, Böse - die Unteren: Bedrückte, Arme, Gute, das Volk. Daran läßt sich nicht rütteln.
Den epischen, d. h. erzählenden Stil propagiert Brecht seit zwei Jahrzehnten. Nicht immer erfolgreich, die Urteile schwanken zwischen langweilig und genial.
Sein Denken und sein Schreiben haben dasselbe Ziel: Unabhängigkeit. Die Freiheit, die er inhaltlich für die entrechtete Klasse fordert, ist dieselbe, die er formal für das Publikum erstrebt Freiheit vom magischen Bann der Bühne.
Ein Publikum, das sich »hinreißen« läßt, kommt ihm so unwürdig vor wie ein ausgebeuteter Knecht. Der dramatische Ablauf, der die Zuschauer zur Einfühlung in die Empfindungen des Helden und zur Aufgabe des immer wachen Urteils verführt, ist für ihn untragbar. Distanz zwischen Schauspieler und Betrachter, dauernde Unterbrechung des Banns durch Titelprojektion und Chansons, das gehört zu Brechts »modernem Theater«.
Es wird erreicht durch den Verfremdungseffekt, laut dem »Kleinen Organon für das Theater«, dem Katechismus Brechts. Darin ist seine Lehre zusammengefaßt. Es hatten sich zu viele »mißverständliche Vulgarisierungen« ergeben.
Mit dem V-Effekt werden bekannte Dinge so verfremdet, daß sie zwar erkennbar bleiben, in ungewohnten Zusammenhängen und Verkleidungen jedoch das Erstaunen des Beschauers erregen.
Junge Schauspieler und Regisseure, die bei Brecht episches Theater erlernen, erzählen auf den Proben in der dritten Person, was sie später darstellen werden. Damit sie nicht in Versuchung kommen, sich mit ihren Rollen zu identifizieren.
Die Serienproduktion von Inszenierungen ist Brecht nicht unheimlich. Er hat seine Antigone-Bearbeitung mit vielen Photos von der Schweizer Uraufführung herausgegeben, als ein ausführliches Muster. Manchmal fährt ein Regieassistent mit einigen der Schauspieler in die Zone und überträgt das Berliner Modell auf eine Provinzbühne.
Der Sinn geht vor. Um Tonnuancen kümmert sich Brecht weniger. Aber er sucht dem ernsten Sinn durch Spaß zu dienen, Brechts Darsteller sind fast alle auch Komiker, seine neuen Stücke Lust- und Trauerspiele zugleich.
Brecht hat hier eine Kehrtwendung gemacht und bekannt. Im »Kleinen Organon für das Theater« widerruft er die »Absicht, aus dem Reich des Vergnügens zu emigrieren.« Er hält es jetzt für nötig, auf der Bühne die Moral sinnlich angenehm zu machen und durch die Lösung der Probleme zu unterhalten.
Sein Ekel gegen die Unterhaltungsindustrie, gegen die billigen Räusche der Massenvergnügen ließ ihn in den zwanziger Jahren das asketische Theater predigen. Seine - von Kiepenheuer in Grau gehefteten - Lehrstücke wie »Die Maßnahme«, »Der Jasager«, »Der Neinsager« und »Die Ausnahme und die Regel« waren schmucklose Modelle der Verhältnisse und des Verhaltens.
Brecht nannte und nennt seine Werke »Versuche«. Der bisher letzte Versuch, bei Suhrkamp erschienen, ist Nr. 20/21: Mutter Courage und ein 1934 verfaßter Essay über »5 Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«. Die Wahrheit braucht 1. Mut, 2. Klugheit, sie zu erkennen, 3. Handhabung als Waffe, 4. richtige Empfänger, 5. List, zur weiten Verbreitung.
1945 ging in New York die Szenenfolge aus der Nazizeit, »Privatleben der Herrenrasse«, über die Bühne. Auch Ernst Bassermann hielt das Fiasko nicht auf. In Berlin wurden die sieben Einakter 1948 unter dem Titel »Furcht und Elend des dritten Reiches« mit offenen Armen empfangen.
Die »Tägliche Rundschau« donnerte: »Peitschenhiebe, die dem in Trägheit vernarbten Gewissen blutige Striemen schlagen.« US-Neue Zeitung: » - siebenmal ein kleines, keuchendes Drama«. Die westliche Presse winkte ab: Zu spät.
Brechts meistgespieltes Stück der letzten Jahre wurde »Mutter Courage und ihre Kinder«. Der Chronikenstil der chansongespickten Szenen nach Grimmelshausen »Simplizissimus« läßt sich besonders gut lehrhaft-episch darstellen.
Die resolute Courage zieht mit ihrem Planwagen als Marketenderin durch den 30jährigen Krieg. Sie betrachtet den Krieg bis zuletzt als gutes Geschäft. Doch ihre Kinder gehen eins nach dem anderen drauf.
Brecht: »Dem Stückeschreiber obliegt es nicht, die Courage am Ende sehend zu machen - ihm kommt es darauf an, daß der Zuschauer sieht...« Nämlich Krieg, Zeit und Gesellschaft. Das Ganze zur hölzernen Musik von Paul Dessau, mit dem Brecht auch ein »Aufbaulied« für die FDJ geschrieben hat.
»Der Hofmeister«, Brechts bisher letzte Berliner Premiere, »Herr Puntila«, »Mutter Courage« zielen über das Gelächter auf das zu Verändernde hin: auf den Kapitalismus, der Menschlichkeit nur im Suff gestattet (Puntila), auf die gekrümmte traurige Gestalt des deutschen Schulmeisters ("Hofmeister") und auf den Krieg, der die kleinen Leute ausraubt, auch wenn sie an ihm zu verdienen hoffen (Mutter Courage).
Brechts Bibliographie ist jetzt, mit Uebersetzungen, dreieinhalb Buchseiten lang. Neben den »Versuchen"**), Novellen, Songs, Essays, als letztes »Kalender:geschichten« im Weiß-Verlag Berlin. Dort kommen auch »Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar« heraus. Das Tagebuch eines Kammersklaven mit Wallstreet-Terminologie macht deutlich, wie Julius sich dem Kapitalismus der römischen City verkaufte.
Der Cäsar- und der Dreigroschen-Roman sind nicht leicht zu begreifen. Wegen der verwickelten Börsenmanöver, der Transaktionen, Täuschungen und Erpressungen, die Brecht fast liebevoll vorführt. Er versteht etwas von Geschäften.
Naturschilderungen fehlen, sie kommen in seinem ganzen Werk nicht vor. Die Natur ist nicht zu verändern, und verändern will Brecht. Verändern mit jedem Satz, den er schreibt.
*) Max Frisch: »Tagebuch«, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main; 164 Seiten, Ganzleinen 12.50 DM. **) Dazu gehören die Bühmenstücke »Der gute Mensch von Sezuan«, dessen Jammern die harmoniesüchtigen Götter überhören, der »Kaukasische Kreidekreis«, »Galileo Galilei« ("Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, wie wir selbst setzen") und »Der neue Schweyk": Brecht versetzt die tschechische Nationalfigur in das Prag Hitlers, Schweyks freundliche Tücken bringen nun die SS zum Rasen. Im Schnee, auf dem Weg nach Stalingrad, verschwindet er.