Zur Ausgabe
Artikel 1 / 147

Glücklicher zu zweit

Der flotte Single, viele Jahre fast eine Kultfigur der Gesellschaft, ist plötzlich out, ebenso der lässige Seitensprung. Eine neue Sehnsucht nach Bindung, nach stabiler Zweisamkeit bewegt vor allem die Jüngeren. Eine Reaktion auf Tempo und Kälte der globalisierten Ökonomie?
aus DER SPIEGEL 43/2000

Er könnte der Held einer Seifenoper sein: Für Chris, 28, spielt Geld keine Rolle, denn seine Eltern besitzen in Stuttgart vier Werbeagenturen und ein großes Fotostudio. Er gehört der ersten globalen Generation an - nicht nur, weil er selbstverständlich einen Internet-Anschluss hat und zwei Handys, sondern auch, weil er »in der ganzen Welt zu Hause ist«, wie er sagt.

Chris ist in Oxford zur Schule gegangen, hat das Cambridge-Sprachexamen gemacht und bei DaimlerChrysler gearbeitet. Außerdem verfügt er über die begehrte Green Card, eine Arbeitsgenehmigung für die Vereinigten Staaten.

Noch knapp zwei Monate, dann wird er in Stuttgart sein Studium der Betriebswirtschaft abschließen. Schon jetzt steht fest, dass er nach Harvard gehen wird, um zu promovieren. Später kann Chris die Firma seiner Eltern übernehmen. Oder er fängt in den USA bei DaimlerChrysler an.

Ein Traumstart ins Berufsleben. Auch sonst scheint es dem jungen Mann zu ergehen wie dem Helden einer Fernseh-Soap. Wenn er, da war er Anfang 20, mit seinem Mercedes-Geländewagen oder dem Coupé vor den Clubs parkte, wenn er Champagner ausgab, strahlten jede Menge Mädels vor Begeisterung. Chris gibt zu: »Ich war begehrt, und ich habe nichts anbrennen lassen.« Falls er mit einer Frau doch mal länger zusammenblieb, bedrängten ihn seine Freunde: »Chris, es ist Zeit für einen Wechsel.« Das war dann das Ende der Affäre.

Aber das schnelle Leben erfüllte ihn nicht. »Ich brauche Nähe und Zärtlichkeit«, sagt Chris, »das kann man in einer Affäre nicht bekommen.« Sein Lebensentwurf stand fest: Er wollte das große Glück zu zweit, das Liebe und Wärme spendet bis ans Lebensende. Er musste nur noch die richtige Frau dafür finden. Mit 25 Jahren verlobte er sich mit einer Amerikanerin, »die ich wirklich liebte«, endlich. Doch die Beziehung zerbrach kurz vor der Hochzeit. Chris war todunglücklich, denn alles, was er sich ersehnt hatte, war zerstört. Dass er daran auch noch schuld war, hat Chris sich nie verziehen.

Die Single-Zeit danach ertrug er nur mühsam. Billig und schal kam ihm der Triumph des Eroberers vor, der sich bei jedem Geschäftstermin mit einer anderen Schönen schmückt. Umso schärfer spürte Chris das Defizit in seinem Leben: »Mir fehlte die große Liebe.« Gezielt machte er sich diesmal auf die Suche nach ihr und bewarb sich bei der »100 Singles zum Verlieben«-Aktion der Frauenzeitschrift »Amica«.

Daniela, 24, schrieb ihm. Sie war die Erste, die er anrief, und sie telefonierten auf Anhieb mehr als acht Stunden am Stück. »Ich habe gleich gespürt, dass sie es ist.« Vertrauen, Nähe, Geborgenheit, alles, was er vermisst hatte, war plötzlich da. Daniela flog von Münster nach München, und die beiden trafen sich am 29. September 1999 im Ferienhaus seiner Familie am Tegernsee. Im Oktober beschlossen sie zu heiraten. Weil die Gäste aus fünf Kontinenten anreisen mussten und dies eine gewisse Organisation voraussetzt, fand die Hochzeit erst am 23. Juni 2000 statt.

Ehe und Familie sind nun für Chris der »Hort der Geborgenheit«. Das Berufsleben will er in das Familienleben integrieren, nicht umgekehrt, wie seine Eltern es noch gemacht haben. Perfekt ist ein Tag, den er mit seiner Frau verbringt: »Gemütlich zusammen aufstehen, ausgiebig brunchen, gemeinsam Golf spielen, tauchen oder reiten, abends Essen gehen und den Tag ruhig ausklingen lassen.«

In den ideologisch aufgeheizten siebziger Jahren wäre einer wie Chris der unaufgeklärte Klassenfeind gewesen, in den karrierekühlen Achtzigern ein Trottel und in den spaßverliebten Neunzigern ein konservativer Spießer - im Jahr 2000 aber ist Chris prototypisch für einen Wertewandel in der Gesellschaft: Im ewigen Widerstreit zwischen Freiheit und Bindung setzt sich nach drei Jahrzehnten, die im Zeichen von Selbstverwirklichung und Egoismus standen, eine neue Sehnsucht nach Bindung durch.

Sogar die naturgemäß flatterhaften Ikonen der Medienwelt leben diesen Wertewandel öffentlich vor: Die britischen Spice Girls Mel B und Victoria haben sich nach wilden Girlie-Jahren in die brave Mutter- und Ehefrauenrolle zurückgezogen. Brad Pitt, lange der begehrteste Junggeselle Hollywoods, und die TV-Heldin Jennifer Aniston ("Friends") ließen ein vorab gestelltes Hochzeitsfoto veröffentlichen, das einen intimen Blick auf ein symbiotisch verbundenes Paar erlaubt.

Sogar das Biest Sharon Stone ist gezähmt: Die bisexuelle, hochexplosive Sexgöttin aus dem Film »Basic Instinct« geriert sich brav-bürgerlich und ist seit zweieinhalb Jahren mit einem kalifornischen Journalisten verheiratet. Um das Luder-Image loszuwerden, ließ sie sich mit Baby an der Brust fotografieren - obwohl das Kind adoptiert ist.

Auch der notorisch rastlose Frauenheld Michael Douglas und seine neue Schöne Catherine Zeta-Jones inszenierten sich als befriedete Hausgemeinschaft für die Weltöffentlichkeit - nackt, verliebt schmusend, den zwei Wochen alten Sohn Dylan im Arm. »Michael ist so gut mit Dylan«, schwärmt Zeta-Jones in der »Bunten«, »ich füttere ihn, er sorgt fürs Bäuerchen.« Knuffiges Dreierknäuel im Familiennest: »Wir sind beide gern zu Hause und in vieler Hinsicht wie Einsiedler«, bekennt Douglas, »das kommt daher, dass wir glücklich und zufrieden sind.«

Niemand repräsentiert den jüngsten Wertewandel so drastisch wie die Popsängerin Madonna. Sie begann ihre Karriere in den achtziger Jahren als »Material Girl«, als eine Art menschliche Aktie. In den Neunzigern stilisierte sie sich zum Symbol der selbstbestimmten Frau, die ihre erotischen Bedürfnisse frei und freizügig auslebt - mit ihren CDs »Erotica« und »Bedtime Stories« oder einem Schwarzweißvideo, in dem sie halbnackt unterm Pelzmantel ein Sex-Rendezvous verlässt.

Im Jahr 2000 feiert die einst so provozierende Sängerin vor aller Welt ihr neues Familien- und Liebesglück: Tochter Lourdes, Sohn Rocco und dessen Vater Guy Ritchie. »Ich habe nur 40 Jahre gebraucht«, sagt Madonna ironisch, »um es richtig hinzukriegen.« Dem US-Fernsehmann Larry King erzählte sie, sie bekenne sich zum bürgerlichen Ideal von Ehe und Familie.

Eine erstaunliche Entwicklung, für die es auch im Alltag weniger bekannter Zeitgenossen viele Beispiele gibt. Was früher einmal für die Versorgung von Frau und Kind notwendig, dann durch den modernen Wohlfahrtsstaat, die zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen und die Selbstbestimmung in Fortpflanzungsfragen scheinbar überflüssig geworden war, wird neuerdings als emotionales Luxusgut begehrt: die dauerhafte Zweisamkeit. Wie ist das zu erklären?

Zunächst einmal so: In der durch Medien und Ökonomie mehr und mehr globalisierten Welt ist der alte, gefühlsschwere Begriff Heimat so virtuell geworden wie das Internet; auch die Kirche hat ihre bergende Bindungskraft weitgehend verloren; und eine Ideologie, die inneren Halt und stabile Gemeinschaft verheißt, gibt es allenfalls für Sektierer und Unbelehrbare aller Couleur. Da bietet sich einzig noch das Zuhause als Glück verheißender Zufluchtsort an, so illusionär dies auch sein mag.

Die Familie mit Kindern, die unerschütterliche Zweierbeziehung mit Hund und Kanarienvogel - sie ist nicht mehr das kleinbürgerliche, fortschrittsfeindliche, lustferne Gefängnis, als das die Wohngemeinschafts-Sozialisten von 1968 sie verdammten. Sie erscheint vielmehr als selige Insel im feindlichen Meer. Das Langzeitpaar Boris und Barbara Becker - seit sieben Jahren verheiratet, zwei Söhne - lebt das Familien-Ideal mit strahlendem Lächeln vor.

Die uralte Institution der Schicksals- und Lebensgemeinschaft ist im neuen Millennium wieder zeitgemäß. Angesichts einer eiskalt gewordenen, auf Geld und Karriere fixierten Gesellschaft, die ihre Individuen mit komplizierter Kommunikations- und Gentechnik, mit dem Zwang zu schier grenzenloser Flexibilität und Lernbereitschaft, dazu mit global erlebten Krisen aller Art mehr und mehr überfordert, lockt das familiäre Duo, Trio oder Quartett - die Großfamilie gibt es fast nur noch in der Dritten Welt - wie eine rettende Höhle. Diese verspricht Schutz, Nähe, Vertrautheit, Sicherheit - lauter Komponenten einer Liebe, die mehr ist als eine romantische Aufwallung der Gefühle.

Eine »neue Wertschätzung von Familie als emotionale Heimat« prognostiziert denn auch die Heidelberger Gesellschaft für Innovative Marktforschung in ihrer Delphi-Studie zu Wertorientierungen. Die Dauerhaftigkeit einer Partnerschaft gewinne »in einer Welt, in der alles in Wandel und Auflösung begriffen ist«, sagt der Zürcher Paartherapeut Jürg Willi, »an Wert zurück« (siehe auch Interview Seite 302). Firmen wie die Allianz nutzen diese neue Innigkeit, um Versicherungen zu verkaufen.

So gaben kürzlich bei einer Umfrage für die Zeitschrift »Die Woche« 72 Prozent der Teilnehmer an, sie hofften, irgendwann den Mann oder die Frau fürs Leben zu finden. In der Skala der Bedeutsamkeit von Lebenswerten stand mit 33 Prozent der Partner an der Spitze, gefolgt von den Kindern (29 Prozent). Die Arbeit dagegen ist nur für 7 Prozent der befragten Deutschen am wichtigsten. Auch in verschiedenen internationalen Studien geben zwischen 80 und über 90 Prozent an, die Familie sei für sie zentraler als Beruf und Freizeit.

Bei jungen Leuten ist der Trend noch stärker, die feste Bindung wird zugleich romantisch überhöht: In einer Umfrage unter deutschen Jugendlichen erklärten 94 Prozent, sie glaubten an die große Liebe, 70 Prozent wünschten sich sogar eine einzige Beziehung für den Rest des Lebens. Gerade mal 4 Prozent zeigten sich nicht an einer Bindung interessiert. Die Sehnsucht nach der schicksalhaften Himmelsmacht erfüllt auf der Leinwand derzeit der deutsche Film »Der Krieger und die Kaiserin«, der mit dem Spruch »Irgendwo da draußen wartet die Liebe« wirbt und in seiner ersten Woche schon mehr als 110 000 Zuschauer anlockte: Ein schüchternes Mädchen namens Sissi stiefelt so lange stur dem Mann hinterher, für den es sich bestimmt fühlt, bis der Stiesel endlich einsieht, dass gegen das Schicksal nichts zu machen ist.

So entschlossen wie Sissi sind die meisten jungen Leute zwar nicht, doch die Shell-Jugendstudie, im Frühjahr dieses Jahres veröffentlicht, ergab, dass 73 Prozent gern mit einem Partner zusammenwohnen möchten und die Ehe anstreben. Die Jugendlichen lehnten reinen Individualismus und ein bloß selbstbezogenes Leben ab und befürworteten, so das Fazit der Wissenschaftler, traditionelle Lebensformen. Selbst Homosexuelle, lange Zeit scheinbar emanzipierte, ichstolze Feinde aller Bürgerlichkeit, fordern heute die rituelle und gesetzliche Legitimation der gleichgeschlechtlichen Ehe.

In einer Umfrage der Frauenzeitschrift »Brigitte« unter jungen Paaren bezeichneten sich 49 Prozent als »glücklich« in ihrer Partnerschaft. Dort fühlten sie sich »aufgehoben und geborgen«, und das »Wir« zähle genauso viel wie das »Ich«.

Dass Glück in der Liebe sogar gesund sei, versucht der amerikanische Herzspezialist Dean Ornish in seinem Buch »Die revolutionäre Therapie: Heilen mit Liebe« zu beweisen: Zum Beispiel habe eine Langzeitstudie an Italo-Amerikanern in Pennsylvania ergeben, dass parallel zum Zerfall der Familien die Sterblichkeitsrate ansteige. »In den fünfziger Jahren entdeckten wir falsche Ernährung als Risikofaktor, in den Sechzigern das Rauchen, in den Siebzigern mangelnde Bewegung, in den Achtzigern die Gene«, sagt Or-

nish. Mangelnde Liebe aber sei der Risikofaktor der neunziger Jahre - und das gelte auch im neuen Jahrhundert.

»Ich hatte lange Zeit so vor mich hin gelebt«, erzählt der Opernsänger Wolfgang Schöne. Irgendwann sei der kritische Punkt gekommen, an dem er sich fragte, warum und vor allem für wen er schwerste Partien lerne, auf die Bühne gehe und sich ungeheurem Stress aussetze. Für seine Tochter? Für sich selbst?

Die Frage blieb unbeantwortet, bis er eine junge Geigerin kennen lernte. Sie heirateten, obwohl Schöne nach der Scheidung von seiner ersten Frau allen Freunden geschworen hatte, das sei seine letzte Ehe gewesen. Er gestand sich schließlich ein, dass er Geborgenheit suchte und natürlich körperliche Wärme und Nähe. Die Ziel- und Identitätskrise habe er überwunden »durch mein verändertes Leben mit meiner Frau. Ich habe zu meiner positiven Grundhaltung zurückgefunden«.

Das neue Gegenüber hat es also gerichtet. Was hier als Praxis wiederkehrt, folgt einer alten Theorie. Schon der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) sah in der Beziehung des Selbst zu einem anderen Menschen die einzige Möglichkeit, sich zu erkennen, was er in den Begriff der »Anerkennung« fasste. Das Selbst bleibt leer ohne die Anerkennung des Anderen und durch den Anderen. Partnerschaft begründet demnach gerade auch die Selbstwerdung des Individuums. Sie ist die Quelle einer tiefen, vor allem auch emotionalen gegenseitigen Bestätigung - einer Bestätigung, die der Einzelne durch berufliche Beförderung oder Gehaltserhöhung nur kurzfristig und oberflächlich erreicht.

Gerade die Anerkennung ist in der narzisstischen Gesellschaft von heute das am meisten nachgefragte Gut: Das ebenso große wie verletzliche Ich des postmodernen Yuppies hat einen unstillbaren Hunger auf die Bestätigung der eigenen Wichtigkeit. Doch wachsende Konkurrenz, Aufsplitterung des beruflichen Erfolgs auf ein Team und schwere Messbarkeit der Leistung sorgen dafür, dass der Einzelne sich im Wirtschaftsleben immer seltener einigermaßen verlässlich des eigenen Werts vergewissern kann. Zwei narzisstische Lebensgefährten dagegen tun nichts lieber, als sich unentwegt gegenseitig zu idealisieren und aufzuwerten - allein schon, um sich selbst über den anderen zu bestätigen. Das heißt: Die neue Konjunktur der Zweisamkeit hat nicht in jedem Fall mit Altruismus und Abkehr vom Egoismus zu tun.

»Erfolg im Job macht Spaß«, sagt die Rosbacherin Antje, 29, »aber Geborgenheit kann er mir nicht bieten.« Deshalb gab sie nach zwei Jahren turbulenten Single-Lebens ihren geliebten Job im Marketing beim Deutschen Sportfernsehen auf, um zu heiraten und aus München zu ihrem Mann Udo in die rheinische Provinz zu ziehen. Vor zehn Jahren noch sei ihr großes Ziel gewesen, beruflich etwas zu erreichen. Nun ist Antje im Hauptberuf Mutter und arbeitet gelegentlich von zu Hause aus für eine Unternehmensberatung in Köln. »Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, dass man jemanden hat, der einen liebt und auf den man sich verlassen kann«, sagt sie: viel wichtiger als die Karriere.

»Die Menschen arbeiten global, sind auf Dienstreisen, werden versetzt, und die Lebendigkeit des Lebens schwindet dahin«, analysiert der Frankfurter Psychoanalytiker Michael Lukas Moeller (siehe auch Kasten Seite 310); und irgendwann entdeckten sie »die Leere ihres Alltags und versuchen, sie mit der Beziehung zu füllen«. Der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich erklärt, die Geborgenheit in der Familie sei sogar »unabdingbare Voraussetzung« dafür, dass die Menschen die Dynamik des Fortschritts »in Gang halten« und in den davon verursachten Turbulenzen bestehen können.

Die Symptome der Sehnsucht nach Bindung zeigen sich überall. Wolfgang Lichius, Mitglied der Geschäftsleitung und Partner der Personalberatung Kienbaum Consultants International in Gummersbach, hat beobachtet: Wenn für einen besseren Job oder eine Beförderung ein Umzug ansteht, »nehmen Führungskräfte heute mehr Rücksicht auf ihre berufstätigen Ehefrauen und auf soziale Bindungen wie die Freunde aus dem Tennisclub. Das führt dann oft zu einem leichten Karriereknick«. Der werde eher akzeptiert als noch vor ein paar Jahren. Die Folge: »Die Mobilität optimiert sich nicht«, sagt Lichius.

Damit verweigern sich etliche Deutsche dem, was American Lifestyle im Wirtschaftsleben bedeutet: jedes Mal, wenn die Karriere es verlangt, nicht nur den Job, sondern auch den Ort zu wechseln. Doch auch in den USA gibt es Kritiker der familienfeindlichen Mobilität.

Der amerikanische Ökonom Edward Luttwak vermutet beispielsweise, eine beziehungsfreundlichere Wirtschaftsphilosophie steigere die Produktivität: Menschen mit stabiler Anstellung könnten »schützende Familienbeziehungen aufrechterhalten«. Sie würden deshalb mehr Geld zurücklegen, dies erhöhe die »Kapitalversorgung, was wiederum die Arbeitsproduktivität steigern würde«.

Viele deutsche Firmen nehmen mittlerweile die wachsende Unlust am Umzug von vornherein in Kauf, sagt der Personalberater Lichius - und auch die Tatsache, dass Ehemänner und Familienväter abends auf

die Uhr sehen, während auf den Single niemand zu Hause wartet. Wenn zwei 30-Jährige mit gleicher Qualifikation sich um eine Stelle bewerben, wird tendenziell der Kandidat bevorzugt, der in einer festen Beziehung lebt: »Dem schreibt man mehr soziale Verantwortung zu«, sagt Lichius, »der gilt als gesettelt und wechselt nicht gleich beim nächstbesseren Angebot den Job.« Mit 40 noch Single zu sein sei schon ein Makel: »Bei dem fragt man sich unterschwellig, wie es um dessen soziale Kompetenz bestellt ist.«

Vor ein paar Jahren noch ist der Berliner Politologe Oliver, 32, mit seinen Freunden aus der Werbebranche abenteuerlustig und hungrig durch Kneipen und Clubs gezogen. Heute hat er Frau und zwei Kinder und sagt: »Die anderen Jungs stehen immer noch da, wo ich damals auch war. Sie sind neidisch, weil ich eine funktionierende Beziehung habe.«

Nach zwei Jahrzehnten Single-Kult hat sich das Klima verändert: Mit sexuellen Eroberungen zu prahlen ist out. Jeder kann heute einen Mann oder eine Frau für die Nacht finden, schließlich haben 40 Jahre Aufklärungspropaganda den One-Night-Stand gesellschaftsfähig gemacht. Auch am Angebot mangelt es nicht, notfalls fällt bei den vielen »Fisch sucht Fahrrad«-Kuppelpartys immer eine oder einer ab. Die Kunst ist vielmehr, unter den widrigen Bedingungen der modernen Arbeitsgesellschaft einen Partner fürs Leben zu finden - und ihn dann zu behalten.

Das Image des Singles ist offensichtlich ramponiert. Seit den späten Achtzigern galt er als flott und vergnügt auf seinem Egotrip. Doch mit dieser Vorstellung ist es vorbei, seit immer mehr Einsame in aufgehübschten Apartments veröden. Das zeigt auch die so genannte Frauenliteratur. Erfolgswerke wie die britische Tagebuchgeschichte »Schokolade zum Frühstück« oder der deutsche Roman »Mondscheintarif« porträtieren die Karriere-Singlefrau nicht als befreites, sondern als unglückliches, defizitäres Wesen auf der angestrengten Suche nach dem Mann fürs Glück zu zweit. In Amerika, dem Land des positiven Denkens, sollen schicke New Yorkerinnen in der Erfolgs-Fernsehserie »Sex in the City« mit vielen coolen Bettgeschichten Alleinstehenden Mut machen: Die Botschaft sei, so der Serien-Erfinder Darren Star, »dass es okay ist, Single zu sein«.

Doch wer das so laut verkünden muss, glaubt wohl selbst nicht so recht daran. In Wahrheit gilt der Single mehr und mehr als sozial inkompetent, einsam, labil. Sein existenzielles Elend beschrieb der Franzose Michel Houellebecq 1998 in dem Bestseller »Elementarteilchen": Leer und ratlos treibt der Single von einer traurigen Frau zur nächsten, auf der vergeblichen Suche nach Erlösung von der Einsamkeit.

Das Alleinsein wird gerade noch als Übergangszustand akzeptiert, nicht aber als Lebensform. Ob »Amica«- oder »Fit for Fun«-Single-Aktion, ob »Herzblatt« im Vorabend-Fernsehprogramm, ob Kleinanzeige oder Telefontreff - sämtliche Kuppelinstitutionen sind ausschließlich dazu da, einen unerwünschten Zustand endlich zu beenden.

Selbst das Internet ist eher eine Partnersuchmaschine als ein Informationslieferant: Mehr als zwei Drittel der 1,5 Millionen America-Online-Mitglieder halten sich häufig oder gelegentlich in einem der Tausenden von Chat-Räumen auf. Stolz wie Sieger präsentieren sich auf Schwarzen Brettern Paare, die sich in der virtuellen Welt gefunden haben und in der realen Welt das Leben miteinander teilen wollen.

Für den Münchner Informationstechnologie-Manager Christian, 36, waren in seinen Single-Jahren die Samstagabende »ein Rumhängen auf der Suche nach dem gewissen Kick«, den Sonntag verbrachte er auf dem Bett, allein, die Jalousien heruntergezogen, und im Zweifelsfall dachte er darüber nach, wie viel schöner es wäre, den langen Nachmittag mit Frau und Familie zu verbringen - auch wenn er damals, vor drei Jahren, bereits geschieden war und die Beziehungsrealität kannte.

Inzwischen ist Christian wieder verheiratet, hat mit seiner Frau Christiane, 38, einen Sohn, einen weiteren Sohn hatte sie in die Ehe mitgebracht. »Es ist wunderschön, abends nach Hause zu kommen und meiner Frau zu erzählen, was tagsüber passiert ist«, sagt Christian. Ihren Wünschen nach »Harmonie und Geborgenheit« möchte er »bestmöglich nachkommen, damit Christiane für den Rest des Lebens bei mir bleibt«. In seine Beziehung investiere er, nach der Erfahrung von gescheiterten Partnerschaften und öden Single-Jahren, viel mehr als früher - Blumensträuße, Einladungen ins Restaurant, kleine Geschenke und »körperliche und verbale Streicheleinheiten«, jede kleine Überraschung dient der Beziehungsbestätigung. Geld und Karriere seien es nicht wert, dass die Partnerschaft auf der Strecke bliebe.

Die Leistungsexzesse des Erfolgsmenschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gehören der Vergangenheit an, hat die Heidelberger Delphi-Studie zu Wertorientierungen ergeben: Jenseits von Workaholismus werde das Streben nach einer Balance zwischen Beruf und Privatleben an Bedeutung gewinnen. Genau das ist auch Christians Motto: Statt im Beruf will er sich im privaten Glück verwirklichen. Für den Erhalt seiner Familie, sagt der IT-Experte, »werde ich kämpfen wie eine Löwenmutter um ihr Baby«. Denn er wolle, »um Gottes willen, bloß nie wieder Single sein«.

Für das Fernsehen bedeutet die neue Sehnsucht nach Geborgenheit neue Hoffnung auf hohe Quoten. In den siebziger Jahren amüsierte sich die deutsche Nation bei »Ein Herz und eine Seele« über den Küchentisch-Tyrannen Alfred, der seine Ehefrau Else als »blöde Gans« beschimpfte und dafür sorgte, dass der Haussegen schief hing. Auch der Terrorclan von Al Bundy wirkt wie ein Dokument aus einer anderen, einer schlechteren Zeit, obwohl die gerade mal wenige Jahre her ist.

Heute leuchtet am Vorabend das Familienglück. Das ZDF wagte sich im Januar mit »Nesthocker« ins Herd-und-Couch-Genre, die ARD zog mit »Aus gutem Haus« und »Bei aller Liebe« nach. Die Quoten sind viel versprechend: Die erste »Nesthocker«-Staffel erreichte im Durchschnitt fast 5 Millionen Zuschauer, »Aus gutem Haus« 2,3 Millionen und »Bei aller Liebe« 2,6 Millionen.

Die klassische Kleinfamilie ist in der TV-Wirklichkeit zeitgemäß modernisiert und zur Patchworkfamilie umgearbeitet. Geschiedene Mütter, Geschwister mit mehreren Vätern, Ex-Gatten, alles, was im realen

Familieneintopf schwimmt, kommt im Fernsehen vor. Die Figuren sind aber keine Beziehungsopfer, sondern Unverbesserliche mit dem unbedingten Willen zum Gesamtglück.

Natürlich kommt es Folge für Folge zu Konflikten und zum amüsanten Alltagschaos. Die Harmonie aber wird nie wirklich erschüttert, jeder Zank findet ein gutes Ende. Die Familie bleibt der unzerstörbare emotionale Mittelpunkt - für die Fernsehfiguren wie für den Zuschauer. Die Serie »Aus gutem Haus«, sagt der ARD-Producer Bernhard Gleim, »steht nicht im Zeichen der Familienkritik. Eine positive Message ist angestrebt.«

Auch im Kino lässt sich dieser Wertewechsel beobachten. 1973 beschrieb der schwedische Regisseur Ingmar Bergman in »Szenen einer Ehe«, symptomatisch für die Zeitstimmung, die Auflösung der Institution Ehe. Motto: Die individuellen Wünsche nach Selbstverwirklichung zerstören die Paarbindung. Die Scheidung ist schmerzhaft, aber unvermeidlich.

Rund anderthalb Jahrzehnte später brach dann der Ehekrieg aus. In »Sodbrennen« von 1987 verkümmert das Hochzeitsglück von Meryl Streep und Jack Nicholson bald zum zänkischen Alltag, in dem er sie betrügt und sie ihn mit ihren Neurosen nervt. Am Ende packt sie für immer die Koffer. Zynischer und dramatischer ging es 1989 im »Rosenkrieg« zwischen Kathleen Turner und Michael Douglas zu. Er zersägt ihre Pumps und pinkelt aufs Essen, sie nimmt ihn in die Beinschere und demoliert seinen Sportwagen. Das Ehefiasko endet für beide tödlich, aber damit immerhin unentschieden.

1996 war es der »Club der Teufelinnen«, der die Folgen der Ehezerrüttung persiflierte. In dem Kassenerfolg bringen drei abservierte Gattinnen mit List und Rachsucht ihre Ex-Männer um alles, was denen lieb und teuer ist - um Vermögen und Ansehen wie um die flotte, junge Nachfolgerin.

Doch im Frühjahr 2000 sieht die Ehewelt im Kino plötzlich ganz anders aus, ernster, gereifter und gefühlstief. In »An Deiner Seite« sind der Schriftsteller Ben (Bruce Willis) und die schöne Katie (Michelle Pfeiffer) seit 15 Jahren verheiratet. Nach Tausenden von gewechselten Windeln und ungefähr genauso vielen Ehetherapie-Sitzungen scheint die Liebe verflogen zu sein. Er träumt vom Seitensprung, sie plant den Alltag durch und knispelt ansonsten nervös mit den Fingern. Erschöpft versuchen sie es mit der Trennung auf Probe und verlieren sich bald in sentimentalen Erinnerungen an die Frühzeiten ihrer Verliebtheit. Am Ende entdecken sie das wahre Glück des Mittelklasse-Ehelebens. Zusammengerauft treten sie die nächsten gemeinsamen Jahre an.

Die Liebe ist eine Baustelle, an der Tag und Nacht gearbeitet werden muss, ohne Aussicht auf Vollendung des Werks - von dieser Erkenntnis profitieren auch die Ratgeber-Autoren. 36 Fachbücher über Ehe, Familie und Erziehung hat allein John Gottman, Psychologieprofessor in Seattle, geschrieben. Sein neuester Bestseller »Die sieben Prinzipien einer funktionierenden Ehe« wurde sogar ins Chinesische und Japanische übersetzt.

Auf 50 000 verkaufte Exemplare gebracht hat es der deutsche Paarberater Michael Mary mit seinem Buch »Schluss mit dem Beziehungskrampf - wie Männer Freiheit und Frauen Nähe in ihrer Beziehung finden können«. Der Verlag verspricht »umsetzbare Tipps für den Alltag«, zum Beispiel, wenn eine Frau eine Antwort auf die Frage suche: »Was würden Sie tun, wenn Sie den Partner nicht (so sehr) bräuchten?«

Deutscher König der Ratgeber aber ist der schwäbische Psychotherapeut Hans Jellouschek - er hat etliche Bücher über die so heiß begehrte wie komplizierte Zweierbeziehung geschrieben. In seinem neuesten Werk »Beziehung und Bezauberung« analysiert er Struktur und Verlauf von Paarbeziehungen anhand von Märchen und Mythen. Aus »Othello« soll der Leser lernen, »wann Eifersucht die Liebe zerstört und wann sie sie schützt und belebt«. Aus »Philemon und Baucis« leitet Jellouschek ab, wie zwei Menschen gemeinsam alt werden können, »ohne dass ihnen die Liebe abhanden kommt": mit Offenheit nach außen, Respekt und Teamarbeit.

Wo die Selbsthilfe mit dem, ohnehin meist nur von Frauen gelesenen, Ratgeber nicht gelingt, bleibt noch der Gang zum Paartherapeuten. Tatsächlich sind immer mehr in die Krise geratene Paare motiviert, mit Hilfe Dritter für ihre Beziehung zu kämpfen. 1985 gab es 282 katholische Eheberatungsstellen, heute sind es 349. Auf evangelischer Seite kamen allein zwischen 1996 und 1998 10 Stück dazu: In ebenfalls 349 Einrichtungen bietet das Diakonische Werk kostenlose Beratungen an. Und obwohl auch bei anderen Einrichtungen wie Pro Familia Paare ihre Beziehungen »aufarbeiten« und erneuern können, reicht das Angebot nicht aus. 1993 mussten bei den katholischen Beratungsstellen 40 Prozent der Paare bloß bis zu zwei Wochen auf einen Termin warten; heute müssen sich 40 Prozent bereits zwei bis vier Wochen gedulden. Tendenz steigend.

Oft scheuen Paare das emotionale und soziale Chaos, das eine Trennung nach sich zieht: »Mit einer Scheidung verlieren beide einen großen Teil ihres bisherigen gemeinsamen Lebensumfelds und -inhalts«, sagt der Stuttgarter Paartherapeut Dietmar Luchmann. Sich und sein Verhalten in der Beziehung zu verändern sei oft einfacher, als »immer wieder in einer neuen Beziehung von vorn anzufangen«.

Zu diesem Schluss kommt auch der Psychologe Johannes Rockholt von der katholischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Siegburg: »Wir vermeiden Trennungen und die hohen gesellschaftlichen Kosten, die mit Scheidungen verbunden sind.«

Ben und Katie aus »An Deiner Seite« schaffen den Weg zurück in die Gemeinsamkeit ohne Therapeuten, indem sie sich die großen Gefühle und die sexuelle Ausgelassenheit früherer Tage in Erinnerung rufen. Der Film endet, bevor die alten Probleme sich ihren Weg zurück in den Alltag bahnen: An den wilden Sex ihrer ersten Jahre, der nach der Liberalisierung der Sexualmoral in den Siebzigern geradezu Pflichtprogramm für Aufgeklärte war, werden sie nicht anknüpfen können.

Damals sah guter Sex Partnertausch oder Gruppenspaß vor, und in den achtziger Jahren kamen dann Sonderpraktiken wie sadomasochistische Übungen in Mode. Doch der Spaß schlug bald um in Stress. Der Zwang zum sexuellen Dauerabenteuer erzeugte Leistungsdruck und schließlich entnervte Lustlosigkeit, bei Frauen wie bei Männern. Und so beobachten Sexualtherapeuten zu ihrem eigenen Bedauern schon seit längerem, dass in den Betten eine eher triste Alltagssexualität herrsche. Die Zahl der lustlosen Männer stieg von 4 Prozent in den siebziger Jahren auf 16 Prozent in den Neunzigern.

Heute, wo Untersuchungen zeigen, dass eine hohe sexuelle Anziehungskraft sich nicht über viele Ehejahre aufrechterhalten lässt, fühlen sich die Paare entlastet: Die anderen haben auch nur einmal pro Woche Hausmannssex. Außerdem ist aufwendig inszenierter Fitness-Sex letztendlich unvereinbar mit dem Leben von Doppelverdienern und Eltern, die sich zwischen Büro, Baby und Bügeleisen aufreiben.

Dass Sex nicht nur Spaß macht, sondern auch Arbeit ist, hat sich als Erkenntnis durchgesetzt. »Bevor mein Mann nach Hause kommt, mache ich mich für ihn attraktiv zurecht«, sagt die Rosbacherin Antje, »bei meinem früheren Freund habe ich in der Jogginghose auf der Couch gelegen.« Der Grund: Eine lebendige Beziehung sei ihr nicht so wichtig gewesen.

Nicht nur die Sexfrequenz hat sich, so vermuten die Forscher, reduziert. Sex ist für eine Beziehung anscheinend auch nicht mehr so zentral, wie lange behauptet wurde. Seine Bedeutung wird neu definiert. Das hedonistische Ideal der siebziger und achtziger Jahre hat sich seit den Neunzigern verflüchtigt; es wurde entweder durch ein pragmatisches Verantwortungsbewusstsein oder, bei den Jüngeren, durch das romantische Liebesideal ersetzt. Auf jeden Fall wurde dabei Sexualität moralisch hochgestuft.

»Für junge Frauen wie Männer stehen Gefühle, Zärtlichkeit und emotionale Bindung beim Ausleben ihrer Sexualität an erster Stelle«, sagt der Psychoanalytiker Willi. Nicht schiere Lust ist die treibende Kraft beim Sex, sondern die Selbstbestätigung des Paares, die körperliche Bekräftigung gegenseitiger Zuneigung.

Ein solches geschlossenes Zweiersystem verträgt kaum Seitensprünge. Treue ist, das ergaben jüngst mehrere Umfragen, in der Regel für drei von vier Frauen der wichtigste Wert in einer Partnerschaft. Sie repräsentiert das Ideal, »füreinander da zu sein und alle Probleme des Alltags gemeinsam zu lösen«, heißt es einer Studie.

Die offene Beziehung ist in der Praxis gescheitert, weil die Partner fast nie gleichzeitig Geliebte haben und sich so immer einer von beiden verletzt fühlt. Jedes Jammern über Untreue hätte in den siebziger und achtziger Jahren als reaktionär gegolten. Heute ist der Betrogene der moralische Sieger. Prominente, von Paparazzi beim Seitensprung fotografiert, werden von den Boulevardblättern gescholten.

Einige von jenen, die ihre Jugendnächte in möglichst vielen verschiedenen Betten verbrachten und Sex als lustvollen politischen Protest gegen die »spießigen« Eltern betrachteten, halten die Treuepflicht aber für einen tragischen Rückschritt. So blickt der Hamburger Architekt Ingo, 41, mit Staunen und Unverständnis auf seine 17-jährige Tochter Antonia. Deren Freund hat sie verlassen, nachdem sie einen anderen geküsst hatte. »Antonia sagt, er hat Recht«, erzählt der Vater, »zu meiner Zeit hallte immer noch die Parole nach: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.«

»Die Idealisierung der Zweierbeziehung ist riesig«, bestätigt auch Albrecht Kling, Leiter der psychologischen Beratungsstelle für Jugend-, Ehe- und Familienfragen in Sindelfingen. Sein Siegburger Kollege Rockholt stimmt dem zu: »Die Ehe gilt als heiliger Ort der Geborgenheit gegenüber der rauen Außenwelt und nimmt zuweilen religiöse Dimensionen an.« Und auch die Psychologin Susan Djawari vom Heidelberger Forschungsinstitut A & B beobachtet allerorten eine »Glorifizierung der romantischen Liebe«.

Doch Kling warnt, aus Erfahrung: »Je größer die Idealisierung, desto größer ist auch die Gefahr des Scheiterns.« Der Soziologe Hondrich konstatiert: »Die Dynamik der modernen Gesellschaft steigert und übersteigert nicht nur materielle und moralische Ansprüche, sondern auch die der Gefühle.«

Übersteigerten Ansprüchen ist schwer gerecht zu werden. Jahr für Jahr erhöht sich die Zahl der Scheidungen: Von den in den fünfziger Jahren geschlossenen Ehen scheiterten etwas mehr als 10 Prozent, in den neunziger Jahren waren es schon 36 Prozent. Umgekehrt heiraten jedes Jahr weniger Paare, und den geringen Anstieg von 3,2 Prozent auf 431 000 im Jahr 1999 führen die Rechner vom Statistischen Bundesamt auch auf die Magie des Datums 9. 9. 1999 zurück. Dabei haben Ehen, die an einem Schnapszahl-Termin geschlossen wurden, eine noch schlechtere Prognose. Ironie des Schicksals.

Gerade diejenigen, die als Kinder unter dem Eheunglück gelitten haben, machen es selten besser als ihre Eltern: Scheidungskinder trennen sich anderthalb mal häufiger von ihren Partnern als Kinder aus ungeschiedenen Ehen. »Eine gigantische Sehnsucht nach einer befriedigenden Partnerschaft« hat der Psychologe Kling bei ihnen beobachtet. Wenn Schulklassen die Beratungseinrichtung besuchten, sei die erste Frage: »Wie schaffe ich eine glückliche Beziehung?« Erst danach wollten die Schüler ihr eigenes Familienleben diskutieren.

Die steigende Zahl der Scheidungen beweist aber nicht den Ruin der Institution Ehe. Im Gegenteil. Sie ist Indiz für deren wachsende Bedeutung als ideale, Glück versprechende Lebensform. Haupttrennungsgrund ist nämlich der Seitensprung - jemand bricht aus einer Beziehung aus, um es woanders besser anzutreffen. 80 Prozent der geschiedenen Männer haben nach zehn Monaten eine neue Partnerin. Frauen brauchen allerdings länger: Drei Jahre nach der Scheidung hat erst die Hälfte von ihnen wieder einen Lebensgefährten.

»Wer sich scheiden lässt, bekundet damit weniger, dass er keine Idee von Familie oder diese Idee aufgegeben hätte«, sagt der Soziologe Hondrich, »sondern vielmehr, dass er sie hochhält - so hoch, dass die eigene individuelle Familie am Familienideal scheitert.«

Und wieder machen die Prominenten es vor: Verteidigungsminister Rudolf Scharping trennte sich von Jutta, um mit Gräfin Kristina Pilati-Borggreve in einen neuen Lebensabschnitt zu schreiten. Dann erklärte er der verblüfften Öffentlichkeit per »Bild«-Zeitung: »Mit unserem Glück gibt es keine Heimlichkeiten mehr.« Pilati gab sich hoffnungsstrahlend, und das, obwohl sie zweimal geschieden ist: »Wir sind sehr, sehr glücklich. Und es wird ganz, ganz lange halten.«

Auch TV-Sternchen Jenny Elvers und der »Big Brother«-Promi Alex Jolig zelebrieren ihre große Liebe: Sie wurde gleich beim ersten Mal im Berliner Hyatt schwanger, und nun wollen die beiden Selbstdarsteller sich dem Familienglück ganz verschreiben. Elvers'' Ex-Freund Heiner Lauterbach hingegen wurde von der Klatschpresse dargeboten als traurig-trunkener Verlierer, als abschreckendes Beispiel für alle, deren Zweierbeziehung zerbricht.

Jene Liebesverräter, die sich in ein neues Liebes- und Lebensabenteuer stürzen, können sich als Gewinner fühlen. Als »Urknall« beschrieb die Bestseller-Autorin Hera Lind ihre Begegnung mit dem österreichischen Hotelier Engelbert Lainer. »Ich könnte heulen vor Glück«, jubelte die Schriftstellerin, »jetzt weiß ich, dass die Liebe eine Himmelsmacht ist. Wir gehören zusammen. Für immer.« Ihr Dauerfreund Ulrich Heidenreich und die vier gemeinsamen Kinder blieben verlassen im Kölner Heim zurück - für den jeweils Schwächeren der gesprengten Zweisamkeit kann die Liebe eine Höllenmacht werden. »Ich weiß, der Uli ist sehr, sehr traurig«, sagt Lind, »und auch für die Kinder wird es sehr schwer werden.« Noch im Abschied vom bisherigen Leben wird so dessen Ideal, die Familienstruktur, bestätigt.

Die Politiker Gerhard Schröder, Rudolf Scharping und Joschka Fischer, der Banker Hilmar Kopper, die Sportlerin Heike Henkel, die Komikerin Anke Engelke - sie alle haben sich von Langzeitfreunden oder Ehepartnern getrennt, um mit der nächsten Frau, dem nächsten Mann harmonisch und erfüllt zusammen zu leben: natürlich für immer und ewig. Denn dieses Mal wird sie wirklich gelingen, die Verbindung von Tagtraum und Alltag, von unbedingter Liebe und kompromissreichem Zusammenleben. Wird sie das?

Der Dichter hat das Wort: »Ja, renn nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr, denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.« Bertolt Brecht, der dies schrieb, hatte zwei Ehefrauen - und noch mehr Geliebte.

MARIANNE WELLERSHOFF

* In der Serie »Ein Herz und eine Seele«, 1973.* Aus der amerikanischen Serie »Married with Children«.* Mit Bette Midler, Diane Keaton, Goldie Hawn.* Mit damaligem Partner Heidenreich, Kindern.

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 147
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten