Zur Ausgabe
Artikel 36 / 90

Golfkrieg: Gas auf Großstädte?

Auch mit bisher brutalstem Einsatz von Giftgas konnte der Irak eine Überraschungsoffensive im Norden des Landes nicht stoppen. Die Iraner bedrohen die Ölfelder von Kirkuk, Iraks wichtigste Quellen. Bagdad kündigte darauf einen Geseinsatz gegen iranische Großstädte an, als »Abschreckungs- und Strafmaßnahme«. *
aus DER SPIEGEL 14/1988

Nur selten widerfährt es dem Ajatollah Ruhollah Chomeini, daß sein biblischer Zorn auch außerhalb der engen schiitischen Welt auf Gehör, gar weltweites Verständnis stößt. Solch eine Gelegenheit verschaffte ihm ausgerechnet sein Todfeind, der irakische Staatschef Saddam Hussein.

Der Bagdader Kriegsherr sei ein »Tier, das sein eigenes Volk chemisch bombardiert«, wütete der greise Revolutionsführer vergangene Woche in einer Botschaft anläßlich des iranischen Neujahrsfestes Naurus.

Sein »Ekel und Abscheu« richtete sich gegen ein Massaker, das einen neuen grausigen Höhepunkt in dem an beidseitigen Greueln schon überreichen iranisch-irakischen Krieg markiert: der Senfgas-Angriff auf die nordirakische Bergstadt Halabdscha, bei der Mitte März über 5000 Zivilisten überwiegend kurdischer Abstammung qualvoll erstickten. Es war der schlimmste Einsatz von Kampfgas seit dem Ersten Weltkrieg, als auf den Schlachtfeldern an der Westfront Zehntausende Deutsche, Franzosen und Briten starben, erblindeten oder ihr Leben lang an den Folgen der Gasvergiftung leiden mußten.

Die Bilder von in der Hitze aufgequollenen Leibern und toten Säuglingen in den staubigen Straßen der Stadt gingen in alle Wohnstuben: Die Teheraner Chef-Propagandisten, sonst im Umgang mit westlichen Medien wenig kooperativ, flogen mit Armee-Helikoptern Dutzende Journalisten und Kamera-Crews nach Halabdscha, um, so ein iranischer Funktionär, »der Welt zu zeigen, wie grausam der teuflische Saddam und sein Regime sind«. Die grauenvollen Bilder von Eltern, die sich schützend über ihre Kinder warfen, sich im Sterben mit ihnen verkrampften, erschütterten die Welt.

Die Iraner reizten die Propaganda-Wirkung voll aus: Ein Jumbo der Iran-Air, »Kurdistan« getauft, landete in Wien, Genf, Frankfurt, Paris und New York. Bei jeder Zwischenlandung wurden einige schwerst gasverletzte Zivilisten und Soldaten ausgeladen und in Spezialkliniken transportiert. Zuvor gaben die Überlebenden des Giftgas-Einsatzes, von iranischem Botschaftspersonal wirkungsvoll in Szene gesetzt, bewegende Interviews.

Der Gasangriff der Iraker war nicht der erste seit Ausbruch des Golfkriegs vor fast acht Jahren - doch erstmals richtete er sich nicht gegen Chomeini-Truppen oder iranische Zivilisten in grenznahen Dörfern und Städten, sondern gegen irakische Bürger auf eigenem Territorium.

Saddam Hussein bestrafte die kurdischen Bewohner von Halabdscha, weil

sie sich nicht gegen die »Eroberung der Stadt« durch iranische Truppen gewehrt, sondern die »Invasoren auch noch mit Jubel begrüßt« hätten (so ein Bagdader Regierungssprecher).

Kein Wunder: Denn zusammen mit den iranischen Pasdaran, den Chomeinitreuen Revolutionswächtern, »befreiten« auch kurdische Widerstandskämpfer die Bewohner Halabdschas von der verhaßten Herrschaft der Iraker.

Die Kurden - ein 16-Millionen-Volk ohne eigenes Land, aufgeteilt auf Irak, Iran, Syrien, UdSSR und die Türkeikämpfen seit Jahrzehnten vergebens um einen eigenen, unabhängigen Staat. Jahrelang hielt Saddam Hussein seine über drei Millionen kurdischen Landsleute im Glauben, sie könnten auf ein autonomes Kurdengebiet im Irak hoffen - doch es war praktisch nie mehr als ein Lippenbekenntnis.

Vor zwei Jahren gelang es dem Iran schließlich, die beiden einflußreichsten und bestbewaffnetsten kurdischen Organisationen PUK (Patriotische Union Kurdistans) und DPK (Demokratische Partei Kurdistans) zum gemeinsamen militärischen Kampf gegen Bagdad zu überreden - mit dem Versprechen, nach Kriegsende wieder einmal über eine Autonomie auf iranischem Boden zu verhandeln.

Es war vom ersten Tag an eine brüchige Allianz: Beide Seiten mißtrauen einander tief, die Kurden mit gutem Grund. Als kurdische Rebellen zusammen mit den Mullahs das Schah-Regime bekämpften, erhofften sie sich nach dessen Sturz mehr politische Rechte in der neugegründeten Islamischen Republik. Doch statt Emissären schickte Chomeini Soldaten und seinen legendären »Blutrichter« Ajatollah Chalchali in die zerklüfteten Kurdengebiete.

Dessen Aktionen fielen innerhalb weniger Wochen Tausende kurdischer Krieger zum Opfer - sie wurden nach Gerichtsfarcen exekutiert, bei denen der blutrünstige Funktionär gleichzeitig Richter und Verteidiger war.

Für Teheran rentierte sich die jüngste Waffenbrüderschaft mit den Kurden in jedem Fall: Deren Pe schmerga-Kämpfer, ebenso mutig und entschlossen wie die iranischen Pasdaran, haben bei den zahlreichen Vorstößen auf nordirakisches Gebiet den Vorteil, sich im verkarsteten, von tiefen Schluchten durchfurchten Grenzland genau auszukennen - und sie genießen die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung.

Mit Hilfe ihrer kurdischen Verbündeten gelang den fanatischen iranischen Gotteskriegern Anfang März - für die Armeespitze in Bagdad völlig unerwartet - ein neuer Großangriff: nicht etwa im südlichen Frontabschnitt am Grenzfluß Schatt el-Arab bei der zweitgrößten irakischen Stadt Basra, wie es irakische Strategen lange erwarteten, sondern hoch oben im Nordosten.

Zwei Divisionen der Revolutionswächter eroberten in knapp 48 Stunden ein strategisch bedeutsames irakisches Gebiet, 650 Quadratkilometer groß. Damit standen Ende der Woche Chomeini-Truppen nur noch 100 Kilometer von den Erdölfeldern von Kirkuk entfernt, wo der Irak über die Hälfte seines Öls fördert. Nach iranischen Angaben wurden bei den Kämpfen 11 000 Iraker getötet oder verwundet, 4500 gefangengenommen.

Sturmtrupps der Pasdaran und der Peschmerga drangen nach verlustreichen Gefechten sogar bis ans Ostufer des Darbandi-Chan-Stausees vor, aus dessen Wasserkraft die 250 Kilometer entfernte Hauptstadt Bagdad sowie große Teile Zentral-Iraks mit Elektrizität versorgt werden. Eine Zerstörung des Damms würde den wirtschaftlich ohnehin angeschlagenen Irak noch weiter schwächen, weite Teile des Landes könnten überflutet werden.

Diese neue militärische und ökonomische Bedrohung vor Augen, reagierte Präsident Saddam Hussein, für den die Dollar-Milliarden der Golfanrainer längst nicht mehr so sprudeln wie noch bei Kriegsbeginn: Er verschärfte den Seekrieg im Persischen Golf und ließ von seiner dem Gegner weit überlegenen Luftwaffe iranische Städte, vor allem Teheran, bombardieren.

Mit der erneuten Eskalation im »Tankerkrieg« und im »Städtekrieg«, der überwiegend zivile Opfer fordert, möchte Saddam Hussein den Kriegsgegner Iran endlich an den Verhandlungstisch zwingen. Der irakische Präsident plädiert schon seit langem für einen Waffenstillstand, den auch im vergangenen Juli die Uno-Resolution 598 forderte. Doch der Iran, gegenüber dem nachbarn militärisch trotz der schlechteren Ausrüstung aufgrund der besseren Motivation gleichwertig, will den angebotenen Frieden nicht. Chomeini will Saddam Husseins Sturz.

An einer raschen Beendigung des Golfkriegs, der nun schon länger dauert als der zweite Weltkrieg, sind auch andere

Staaten kaum interessiert - etwa die UdSSR.

Ein Iran im Frieden, so das Kalkül der Kremlherren, könnte bei dem geplanten Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Afghanistan ein erheblicher Störfaktor sein - schon jetzt sind die engen Verbindungen Chomeinis vor allem zum fundamentalistischen Flügel der islamischen Mudschahidin den Russen nicht geheuer.

So wird verständlich, warum die UdSSR den Irakern kürzlich 235 sowjetische Scud-B-Raketen auf dem Umweg über die CSSR lieferte. In einer Waffenfabrik 40 Kilometer südöstlich von Bagdad wurde die Reichweite der Raketen mit nordkoreanischer Zusatzausrüstung vergrößert. Ein Teil der Lieferung hat inzwischen mit tödlicher Ladung seinen Zielort Teheran bereits erreicht.

Da auch die Iraner über knapp zwei Dutzend Scud-B-Raketen verfügen, verfielen die Russen auf einen selbst für orientalische Verhältnisse pfiffigen Trick:

Moskau konnte Libyens Führer Muammar el-Gaddafi, der den befreundeten Mullahs schon vor längerem 15 Scud-B-Raketen »geborgt« hatte, überreden, die Waffen zurückzufordern: Die mißtrauischen Iraner beruhigte Gaddafi, er würde die Raketen nur modernisieren und dann gleich zurücksenden.

Teheran ließ sich auf den Handel ein - und ist jetzt um 15 Raketen ärmer. Ein iranischer Diplomat: »Das iranische Volk weiß in Zukunft, was es von diesem Herrn zu halten hat.«

Doch dieser Betrug beschäftigt die Teheraner Machthaber nur noch am Rande, seit vergangenen Dienstag ein »befugter irakischer Sprecher« offen damit drohte, sein Land erwäge als »Abschreckung und Strafmaßnahme« den Einsatz chemischer Waffen auch auf iranische Großstädte.

Giftgas genug haben die Iraker: Experten der Uno-Abrüstungskonferenz in Genf schätzen, daß der Irak derzeit im Monat etwa 60 Tonnen Senfgas produzieren könne - in Fabriken, die mit deutschem Know-how und Personal gebaut wurden, genug Gas, um Hunderttausende umzubringen.

Eine weitere Eskalation im Einsatz von chemischen Kampfstoffen befürchten Fachleute jedoch nicht von seiten des irakischen Diktators Saddam Hussein, der bereits bewiesen hat, daß er skrupellos genug ist, sich über alle Kriegs- und Menschenrechtskonventionen hinwegzusetzen.

Uno-Experten glauben, daß es nur noch »eine Frage der Zeit« sei, bis auch der Iran im Golfkrieg chemische Waffen einsetzt. Denn auch im Reich der Ajatollahs wird seit Jahren in chemischen Werken, die nach bundesdeutschem Knowhow Schädlingsbekämpfungsmittel und Pestizide produzieren, gleichzeitig Kampfgas erzeugt.

[Grafiktext]

IRAK Bagdad Basra Halabdscha Kirkuk Mosul Tigris Euphrat IRAN Teheran Kermanschah Abadan Staudamm Darbandi-Chan SYRIEN TÜRKEI SAUDI-ARABIEN NEUTRALE ZONE KUWEIT Persischer Golf Kaspisches Meer

[GrafiktextEnde]

Zur Ausgabe
Artikel 36 / 90
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren