Golfkrieg: »Schlangen in der Wüste«
Wenn die Ramadan-Sichel des Mondes am Nachthimmel leuchtet«, gelobten Zehntausende persischer Revolutionswächter bei einem Appell in Ghom vor ihrem Imam Chomeini, »dann werden die islamischen Kämpfer aus dem Dunkel hervorbrechen und den Satan Saddam in die Hölle schicken.«
»Wir beten zu Allah«, sagte auf der anderen Seite des Golfs Scheich Dschabir el-Ahmed el-Sabbah, »daß er Irans Führer erleuchten möge, einer Friedensvermittlung zuzustimmen.«
Dem Kuweit-Herrscher schwebte ein Waffenstillstand im iranisch-irakischen Krieg vor - als Krönung des heiligen Fastenmonats Ramadan. Doch der neunte Monat im islamischen Kalender endete am vergangenen Samstag. Und nichts deutet darauf hin, daß Allah den besorgten Öl- und Wüstenfürsten erhört hat. Im Gegenteil:
Nachdem die Kämpfe zu Lande abgeflaut waren, nach einer 14tägigen Pause im sogenannten »Tankerkrieg«, griffen am Sonntag voriger Woche irakische Flugzeuge nach Bagdader Angaben wieder vier Schiffe im Golf an. Eine Rakete traf zum erstenmal einen Tanker, der am Verladepier der iranischen Ölinsel Chark festgemacht hatte: den griechischen 150 000 Tonner »Alexander der Große«. Teile der für die Perser lebenswichtigen Anlage wurden beschädigt.
Am Mittwoch starben mehrere Seeleute, als ein irakischer Jäger eine Exocet-Rakete in den Maschinenraum des unter liberianischer Flagge fahrenden 260 000-Tonnen-Tankers »Tiburon« feuerte. Am gleichen Tag verjagten die Iraner ein Feindflugzeug, das über ihrer Hauptstadt Teheran die Schallmauer durchbrach.
Der Vorstoß der Luftwaffe des Irak-Präsidenten Saddam Hussein bis Chark und Teheran bedeutete eine Eskalation in dem nun schon 45 Monate alten Golfkrieg - just als Hoffnungen auf Entspannung aufkeimten: Die Londoner Versicherungsgesellschaft Lloyd's hatte eben die Versicherungssätze für Frachtschiffe im Golf von (überhöhten) 7,5 Prozent auf 5 Prozent des Wertes ihrer Ladung gesenkt. Womöglich hat gerade diese »Feststellung einer gewissen Normalität die Iraker veranlaßt, wieder aktiv zu werden«, vermutet die »Neue Zürcher Zeitung«.
Bagdad erklärte seine Luftangriffe als »Vergeltung": Der Iran habe vorher Wohnviertel von Basra beschossen und damit die von der Uno angeregte Beschränkung gebrochen, daß keine der beiden Parteien mehr zivile Ziele angreifen sollte. Solche Rücksichten gaben beide Seiten vorige Woche wieder auf. Wohnblocks in Städten des Feindes und Handelsschiffe aus neutralen Ländern gerieten einmal mehr ins Visier der verfeindeten Golfnachbarn. Und auch das Schreckgespenst vom chemischen Krieg tauchte wieder auf.
So drohte der irakische Generalmajor Mahir Abd el-Raschid die Vernichtung der Angreifer »mit allen Mitteln« an. Frage eines Reporters: »Auch mit Giftgas?« Raschid: »Ich betone: mit allen Mitteln.«
Der Krieg am Golf, der »mit den Waffen der 80er Jahre, der Taktik des Ersten Weltkriegs und dem Fanatismus der Kreuzzüge ausgefochten wird« (so die US-Zeitschrift »The New Republic"), kann so lange nicht enden, solange in Teheran nach Maßstäben religiöser Inspiration entschieden wird. Der einflußreiche Parlamentspräsident Ajatollah Rafsandschani ist die Stimme seines Herrn Chomeini: »Kein billiger Friede mit dem Feind aller guten Menschen. Wer den Kampf aufhält, verrät den Islam.«
»Dieser Krieg«, so Bahreins Industrie- und Entwicklungsminister Jussif Schirawi zum SPIEGEL, »ist irrational. Hier gehen auch nicht jene klugen Gedankenspiele auf, denen zufolge ein Land, das kein Geld und keine finanzstarken
Freunde mehr hat, den Krieg einstellen muß.«
Finanzstarke Freunde fehlen zumal dem Iran. Teherans Geldreserven sinken, seit Bagdads Luftwaffe den Öl-Export des Chomeini-Staates erschwert. Doch das bedeutet mitnichten, daß die Perser auf die Verliererstraße geraten sind. Sie verfügen über mehr Kämpfer und die größere Opferbereitschaft. Sie haben ihr Land von irakischen Truppen befreit und sind an einigen Stellen über die Grenzen vorgedrungen. Fast eine halbe Million Soldaten - das bestätigen amerikanische Satellitenaufnahmen - sind zum Angriff gegen den Irak zusammengezogen worden.
Doch Chomeinis Befehl zur angekündigten großen Ramadan-Offensive war auch Ende voriger Woche noch nicht gegeben worden. Während US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger noch eine »schreckliche Schlacht, eine der schlimmsten seit dem Ersten Weltkrieg« erwartete, glauben andere Experten, daß die Iraner ihre militärische Chance verpaßt haben und die Entscheidung am Golf eher in langen Abnutzungsgefechten und Angriffen auf die Versorgungswege der verfeindeten Staaten fallen werde als in einem allumfassenden Gemetzel.
Eine persische Offfensive im gewohnten Stil - eine Menschenwelle folgt der anderen - können die Iraker heute dank besserer Verteidigungsanlagen und neuer sowjetischer Waffen eher abwehren als noch vor einigen Monaten. Und ohne schlagkräftige Panzer- und Luftunterstützung haben die iranischen Infanteriemassen nur noch eine geringe Siegeschance.
Sicher aber hat der immer wieder angekündigte und permanent hinausgezögerte Großangriff das Ansehen der Iraner geschmälert. »Wann kommen die denn endlich, haben sie vielleicht die Hosen voll?« höhnten irakische Zeitungen. In den Kleinstaaten am Golf, wo man schon nach dem Abschuß der zwei iranischen Phantoms durch Saudi-Flugzeuge ängstlich auf irgendeine Reaktion des Mullah-Regimes gewartet hatte, machte sich Erleichterung breit.
War Chomeini vielleicht nur ein Papiertiger? In einer Weltgegend, in der Worte so viel bedeuten, litt der Nimbus der siegesbewußten Schiiten-Revolutionäre, zumal sie den Luftangriffen der Iraker nichts entgegenzusetzen wissen.
Für die Schlachtverzögerung gibt es viele Erklärungen. Ein iranischer Jungsoldat, der sich per Boot nach Kuweit absetzen konnte, berichtete: Armee-Angehörige, aber auch ältere Revolutionswächter hätten die jugendlichen Eiferer seiner Einheit zurückgehalten, als sie am ersten Ramadan-Morgen nach dem Gebetsruf gegen drei Uhr in Richtung Basra stürmen wollten. Unklar ist, ob ihre Vorgesetzten auf eigene Faust oder auf Befehl aus Teheran handelten.
Von dort freilich kommen widersprüchliche Anweisungen. Iranische Diplomaten am Golf lassen durchblicken, daß die Mullah-Führung nicht mehr imstande sei, wichtige politische und militärische Entscheidungen einmütig zu treffen.
»Keiner weiß mehr, auf wen er hören soll«, sagt ein iranischer Botschaftsangehöriger in einer Golf-Hauptstadt. »Armee-Kommandeure richten sich nicht mehr nach Funksprüchen aus der Hauptstadt.«
In Teheran, so berichtet die kuweitische Zeitung »El Kabas«, unterstützte Staatspräsident Ali Chamenei den Uno-Vorschlag, im Krieg zivile Ziele zu schonen. Ajatollah Rafsandschani habe daraufhin Chamenei attackiert, zumal der Staatspräsident auch eine weitere Großoffensive ablehne.
Solchen Meinungsverschiedenheiten wächst Gewicht zu, weil der oberste Kriegsherr Chomeini nur noch bedingt einsatzbereit zu sein scheint. Der kränkelnde Ajatollah verzichtet immer öfter auf ein klärendes Machtwort; so wird die iranische Theokratie gelähmt. Dennoch steht der Imam fest auf Seiten der Kriegs-Befürworter: »Die Moschee ist ein Schützengraben« (Chomeini). Auf seinen Befehl hin dürfen Freiwillige in Persiens Moscheen mit Karabinern und Maschinengewehren üben.
Äußerungen von Chomeini belegen allerdings, daß unter den Mullahs über die Fortführung des Golfkrieges diskutiert wird. So tadelte der Ajatollah jene Geistlichen, die unter dem »Einfluß imperialistischer Spaltungsversuche« fragen würden: »Warum können wir nicht Frieden schließen? Wie lange noch soll unsere Jugend getötet werden?«
Zu den Fragestellern gehört Ajatollah Ali Montaseri, ein möglicher Nachfolger Chomeinis. Er soll dem Imam vergebens vorgeschlagen haben, sich mit den von Irans Truppen eroberten irakischen Ölquellen auf den Madschnun-Inseln zu begnügen.
Aufgehalten wird der Heilige Krieg zudem von ethnischen Minderheiten im eigenen Land. Statt an der Front zu kämpfen, mußten persische Revolutionswächter in Kurdistan und Belutschistan Aufstände niederschlagen. Und im iranischen Kernland verbreiten die in den Untergrund abgedrängten linken Volksmudschahidin Anti-Regierungspropaganda.
Daß der Golfkrieg einer Kontrolle der beiden Gegner entgleiten könnte, zeigen die Attacken auf mehr als 60 Tanker und Frachter. Sie sind nicht nur im buchstäblichen Sinn ein Spiel mit dem Feuer, wie der - bislang unbekannt gebliebene - Fall des unter saudischer Flagge fahrenden 178 000-Tonnen-Schiffes »Safina Al Arab« beweist.
Der von einer schwedischen Reederei gecharterte Tanker (362 Meter lang, 60 Meter breit) hatte in Chark eine volle Ladung Rohöl aufgenommen und befand sich auf der Reise zu einem französischen Mittelmeerhafen, als er am 25. April südlich der iranischen Verladeinsel von einem irakischen Flugzeug mit einer Rakete getroffen wurde. Das Geschoß riß an der Steuerbordseite ein vier mal fünf Meter großes Loch in die Bordwand. Einer der Seitentanks wurde getroffen.
Im Golf liegende Bergungsschlepper hörten gegen 21 Uhr abends die SOS-Rufe der »Safina«, die ihre Position mit 21 Grad 41 Minuten Nord und 51 Grad
07 Minuten Ost angab - in iranischen Hoheitsgewässern.
Als zwei Bergungsschlepper den Tanker in der Nacht erreichten, brannte er lichterloh, aber die Mannschaft aus schwedischen Offizieren und philippinischen Matrosen war unverletzt in die Rettungsboote gegangen. Sie wurde von einem Bergungsboot aufgenommen.
In den folgenden drei Tagen gelang es den Besatzungen der Bergungsschlepper und einer aus Rotterdam eingeflogenen Spezialtruppe, das Feuer zu löschen. Die westeuropäischen Bergungsleute nahmen die »Safina« auf den Haken - heraus aus iranischen Gewässern, Richtung Bahrein. Persische Schlepperkapitäne, die das Manöver von ihren Schiffen aus beobachtet hatten, forderten die Konkurrenz auf, im persischen Hoheitsgebiet zu bleiben. Als der Geleitzug weiterfuhr, gingen Iraner an Deck der »Safina« und versuchten vergebens, die Verbindung zu kappen.
Die »Safina« konnte am Abend des 28. April in internationalen Gewässern 65 Seemeilen nördlich von Bahrein Anker werfen.
Die Iraner gaben jedoch nicht auf. Am 29. April erschien ein Schiff mit etwa 40 mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffneten Männern - Prügelperser am Golf. Sie bedrohten die westeuropäischen Besatzungen der beiden Bergungsschlepper, die neben der »Safina« festgemacht hatten. Die Bergungsseeleute richteten ihre Wasserkanonen auf die Iraner und funkten schließlich auf UKW-Kanal 16 einen Hilferuf an ein in der Nähe kreuzendes US-Kriegsschiff: »Iraner bedrohen uns, wollen uns die 'Safina' abnehmen.«
Die US-Fregatte »Boone« nahm die Botschaft auf: »Wir kommen. Hoffentlich reicht es, wenn wir uns zeigen.« Bald tauchte das Schiff auf. Ein amerikanischer Hubschrauber kreiste über der Szene. Nach einigen Stunden funkte der Kapitän des iranischen Schiffes, daß er Order habe, nach Chark zurückzukehren. Offenbar hatte die Anwesenheit der US-Fregatte die Kleinkrise gelöst.
Für die westeuropäischen Zeugen des Zwischenfalls stellten sich beunruhigende Fragen: Was wäre geschehen, wenn statt der Schlepper iranische Kriegsschiffe aufgetaucht wären? Was wäre geschehen, wenn sich statt der knüppelschwingenden Hafenarbeiter Revolutionswächter mit Panzerfäusten zum Kampf um den Tanker gestellt hätten?
Die Vereinigten Staaten haben in dem Konflikt inzwischen - nach jahrelangem Zögern - Partei ergriffen. Sie lassen Aufnahmen ihrer Himmelsspione an Bagdad weiterleiten, so daß die Iraker »mindestens zehn Stunden« vor einer neuen iranischen Offensive alamiert wären (so das amerikanische Magazin »Newsweek"). Der irakische Verteidigungsminister Adnan Cheivalla brüstete sich stolz: »Man sieht alles, man sieht sogar die Schlangen in der Wüste.«