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Gorbatschow Besuch: Jetzt kommt der Chef

Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow will,so heißt es in Ost-Berlin, in Bonn seine Aufwartung machen - möglichst noch in der ersten Jahreshälfte. Damit müßte Erich Honecker ein weiteres Mal seine Reise in den Westen, diesmal im Einvernehmen mit Moskau, verschieben - vermutlich auf nächstes Jahr. *
aus DER SPIEGEL 12/1986

Erich Honecker hat mit seinem langgehegten Wunsch, die Bundesrepublik und vor allem seine Heimat an der Saar zu besuchen, kein Glück.

Letzten Monat hatte Horst Sindermann, Präsident der DDR-Volkskammer, in Bonn noch laut und locker kundgetan: »Es wird höchste Zeit, daß Honecker kommt. Und er wird kommen.« Via »Tagesschau'' teilte er den Landsleuten in West und Ost auch gleich den Termin mit: »Ich bin fest davon überzeugt, noch in diesem Jahr.«

Daraus wird wohl nichts. Wieder hat dem SED-Generalsekretär ein Höherer den Terminplan verdorben.

Das erste Mal, im Sommer 1984 zu Zeiten des greisen Kreml-Chefs Konstantin Tschernenko, hintertrieben die Moskauer Hardliner um den damaligen Außenminister Andrej Gromyko den Honecker-Besuch mit einer öffentlichen Kampagne in der Parteizeitung »Prawda« gegen die Dialogpolitik des SED-Generalsekretärs. Zentrale These: Bonn wolle »die sozialistische DDR liquidieren«. Honecker lud sich selbst bei Helmut Kohl wieder aus.

Nach dem Parteitag der KPdSU tauchten letzte Woche in der westdeutschen Presse Berichte mit ähnlicher Tendenz auf. »Honeckers Besuch in der Bundesrepublik«, so die »Frankfurter Allgemeine'' . »ist in Moskau noch nicht gebilligt.« Tenor auch der »Zeit": Honecker und Sindermann hätten »mit ihren positiven _(Links: der jetzige sowjetische ) _(Staatspräsident Gromyko; beim Treffen au ) _(Tschernenkos Begräbnis im März 1985. )

Kommentaren zu den innerdeutschen Beziehungen die Lage falsch eingeschätzt«.

Und die »Welt« taperte am letzten Freitag hinterher: »Es spricht einiges dafür, daß Gorbatschow ... Honeckers Reiseplan wieder einmal gestoppt hat.«

Ausgangspunkt solcher Spekulationen war das Kommunique des offiziellen Treffens zwischen Gorbatschow und Honecker beim Moskauer Parteitag, das entgegen dem üblichen Ritual ohne Photo in der »Prawda« und im »Neuen Deutschland« gedruckt wurde - und das zudem die Bundesregierung wegen ihrer Unterstützung der amerikanischen Sicherheitspolitik deutlich kritisierte.

Angeheizt wurden die Gerüchte über Differenzen zwischen Gorbatschow und Honecker durch Funktionäre in Moskau und Sowjetdiplomaten im Westen.

Doch was solche Informationen taugen, ist höchst fraglich. Tatsächlich druckte die »Prawda« überhaupt keine Photos von Parteitagsbegegnungen der Ostblockführer mit Gorbatschow. Vor allem eine starke Fronde im Umfeld des früheren Außenministers Gromyko sieht jede Form einer deutsch-deutschen Annäherung nach wie vor mit großem Mißtrauen - und sucht sie zu stören. Aber die Machtverhältnisse in Moskau haben sich seit 1984 entscheidend verändert: Gromyko wurde von Gorbatschow auf den Posten des Staatsoberhaupts abgeschoben; der Moskauer Macher traf sich zum ersten Gipfel mit Gegenspieler Ronald Reagan, der zweite wird vorbereitet, die Aussichten für ein Abkommen über die Mittelstreckenwaffen scheinen günstig.

Tatsächlich, so versichern hohe SED-Funktionäre und enge Vertraute Erich Honeckers übereinstimmend, gebe es zwischen Michail Gorbatschow und dem DDR-Vorsteher keinen Dissens.

Dafür spricht nicht nur der Auftritt des Honecker-Herolds Sindermann in Bonn. Nach seinen bösen Erfahrungen von 1984 hätte der SED-Chef seinen Abgesandten kaum so deutlich den baldigen Staatsbesuch ankündigen lassen, wenn er sich nicht zuvor der Zustimmung aus Moskau versichert hätte. Eine zweite Brüskierung wie die von 1984 müßte Honeckers Ansehen gerade im Ostblock schwer beschädigen.

Für die ungebrochene ostdeutsch-sowjetische Brüderschaft spricht noch mehr die Tatsache, daß Gorbatschow Mitte April Honecker beim XI. SED-Parteitag in Berlin Aufwartung macht - eine Ehre, die ein sowjetischer Generalsekretär der sozialistischen Einheitspartei zum letzten Mal 1971 erwiesen hat; damals war Leonid Breschnew nach Ost-Berlin gereist.

Daß der 73jährige SED-Chef und DDR-Staatsratsvorsitzende seine Reise in den Westen, obwohl längst im Rentenalter, nicht wie geplant im Mai oder Juni antreten kann, dafür gibt es einen anderen Grund: Honecker muß dem großen Bruder den Vortritt lassen.

Gorbatschow hat sich nach Informationen aus der SED-Spitze kurzfristig entschlossen, selbst in Bonn Visite zu machen, und das möglichst noch vor Jahresmitte. Er will damit den Druck auf die Bundesregierung verstärken, sich in der Sicherheitspolitik deutlicher von den Amerikanern abzusetzen.

Vor diesem Hintergrund bekommt auch jener Satz aus dem Kommunique des Treffens Honecker/Gorbatschow einen (nicht gegen Ost-Berlin gerichteten) Sinn, die Bundesregierung erschwere mit ihrer Unterstützung der USA ihre eigenen Beziehungen zu den sozialistischen Ländern.

Um Bonn auf Distanz zu Washington zu bringen, nähme Gorbatschow sogar in Kauf, durch seinen Besuch bei Helmut Kohl den CDU-Kanzler im aufziehenden Wahlkampf aufzuwerten.

Den Bonnern käme die Visite höchst gelegen. Zwar hat die Bundesregierung bislang keine offiziellen Hinweise auf Reisepläne Gorbatschows, aber die Sowjets haben die Westdeutschen in den letzten Wochen mehrfach wissen lassen sie seien an einer Intensivierung der unterkühlten Beziehungen zum Kabinett Kohl interessiert. »Es sieht so aus« so ein Bonner Kabinettsmitglied, »als kehren wir nun in den Kreis der friedliebenden Nationen zurück.«

Noch im letzten Sommer hatte Bonns Botschafter Hansjörg Kastl in Moskau den deutlichen Eindruck, die christliberale Koalition sei bei den Sowjets »im Bierverschiß«. Und nach einem Arbeitsgespräch beim neuen Außenminister Eduard Schewardnadse noch im vergangenen Dezember meldete Kastl ans Auswärtige Amt, auch 1986 werde es nicht zu dem von Kohl gewünschten Besuch Gorbatschows kommen.

Gegenüber Kastl beschwerte sich Schewardnadse vor allem über die westdeutsche Haltung zum amerikanischen SDI-Projekt. Bonn betreibe dabei ein »Spiel mit dem Feuer«.

Bei jeder Gelegenheit ließen die Sowjets seit dem Amtsantritt Gorbatschows die Bonner ihre Einschätzung spüren, die Kohl-Regierung verfolge keine eigenständige Außenpolitik, sondern exekutiere blindlings die Politik Ronald Reagans. Anzeichen eines Sinneswandels machten die Ostexperten im Bonner Auswärtigen Amt erstmals nach dem 15. Januar aus. An diesem Tag veröffentlichte Gorbatschow seine jüngsten Abrüstungsvorschläge. Die positivste Reaktion im Westen kam aus Bonn.

Auch die Tatsache, daß die Sowjets als Nachfolger für den 75jährigen Wladimir Semjonow den Genfer Unterhändler und vorzüglichen Deutschland-Kenner Julij Kwizinski, der am 22. Januar in Bonn Gorbatschows Vorschläge erläuterte, als Botschafter an den Rhein schicken, gilt dort als Indiz der Aufwertung.

Daß Gorbatschow sich persönlich nach Bonn bemühen will, kam selbst für Honecker überraschend: Als sein Sindermann in Bonn gut Wetter für die Nummer eins der DDR machte, war von sowjetischen Reiseplänen offenbar noch nicht die Rede. Fährt aber die Moskauer Nummer eins nach Bonn, muß der DDR-Mann schon aus Protokollgründen zurückstehen.

Vor Gorbatschow darf er nicht reisen, direkt nach dem Sowjetrussen kann er nicht, weil er sonst als dessen Handpuppe dastünde. In der zweiten Jahreshälfte geht es nicht, weil er mitten in den westdeutschen Wahlkampf käme.

Doch politisch könnte der SED-Chef mit einer Verschiebung seiner West-Reise auf 1987 gut leben, denn die Rücksicht auf Gorbatschow beschädigt sein Ansehen nicht.

Im Gegenteil. Honecker, so ein Bonner Regierungsmitglied, sei gut beraten, wenn er dem Generalsekretär aus Moskau den Vortritt lasse - nach der Devise: »Hier kocht der Chef persönlich.«

Links: der jetzige sowjetische Staatspräsident Gromyko; beim Treffenau Tschernenkos Begräbnis im März 1985.

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