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NORDIRLAND Gott spielen

Mit Femejustiz und Strafkommandos maßt sich die IRA in den katholischen Vierteln Nordirlands eine eigene Gerichtsbarkeit an - nun auch gegen Kriminelle. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Edward Taggart entdeckte das Bestrafungskommando, als er seine Freundin besuchen wollte. Der Teenager hatte die Wohnung der Familie im zweiten Stock des heruntergekommenen Sozialbauprojekts »Divis Flats« im katholischen West-Belfast verlassen und war etwa 50 Meter den Balkongang entlanggelaufen.

Da traten ihm zwei Männer mit Pistolen entgegen.

Edward drehte sich um und rannte zurück. Kurz bevor er die Wohnung erreichte, streckte ihn ein Schuß in den Rücken nieder. Die beiden Männer beugten sich über den Getroffenen. Der bat um Gnade: »Please, please.« Ungerührt schossen die Verfolger dem am Boden Liegenden aus kurzer Entfernung in beide Knie. Dann eilten sie davon.

Die Familie des Verwundeten kümmerte sich sofort um Hilfe. Schwester Theresa rief eine Ambulanz; die Brüder Gerry und Tommy schleppten Edward die Betontreppe hinunter, denn die Fahrstühle in dem Gebäude funktionierten nicht. Der Angeschossene verlor soviel Blut, daß er acht Stunden später im Royal Victoria Hospital starb.

Edward Taggart war Katholik wie die Männer, die ihn töteten. Er kam aus einem Slum, in dem die IRA-Kämpfer als Helden gelten und sich deshalb wie Fische im Wasser bewegen. Sein Fall wirft ein Schlaglicht auf einen wenig bekannten Aspekt des Bürgerkriegs.

In den katholischen Wohnvierteln Nordirlands maßt sich die IRA eine eigene Gerichtsbarkeit an. Femegerichte der radikalen Katholiken urteilen nicht nur über Gegner und Verräter, sondern oft genug auch über Glaubensbrüder, die krimineller Handlungen verdächtig sind. Die übliche Strafe besteht in »knee capping": Bestrafungskommandos ("punishment squads") durchschießen den Verurteilten die Knie. Seit 1969 wurden rund 1000 Menschen Opfer dieser rituellen Verstümmelung.

Taggarts Schicksal legt aber auch Zeugnis ab von den Jugendlichen in Nordirlands katholischen Gettos. Sie lernten gerade laufen, als der Bürgerkrieg zwischen Protestanten und Katholiken wiederauflebte, der die herkömmlichen Maßstäbe von Recht und Unrecht durcheinanderbrachte und seit 1969 auf beiden Seiten über 2500 Todesopfer forderte. Sie wuchsen auf inmitten von Gewalt und Tod, besuchten die Schule unregelmäßig und stießen schließlich - wie Taggart - zum Heer der Arbeitslosen.

Edward, 19, war das jüngste von elf Geschwistern, die alle keine Arbeit fanden. Die Langeweile in den Divis Flats, einer verfallenden Miniversion von Berlins Märkischem Viertel, vertrieb er sich tagsüber mit Videofilmen vor dem Fernsehgerät. Nachts suchte er das Abenteuer aus erster Hand - als »joyrider«, wie Jugendliche genannt werden, die Autos aufbrechen und zum Spaß damit herumrasen, solange der Sprit reicht.

Über 90 Prozent von rund 7000 Autodiebstählen jährlich gehen in Nordirland auf das Konto von Jugendlichen, die auf ihren Spritzfahrten den Tod herausfordern: In Ulster stehen überall Straßensperren, die Sicherheitskräfte schießen scharf, wenn ein Fahrzeug nicht stoppt.

Taggarts beste Freunde, Paul Kelly, 17, und Gerard Logue, 20, starben so im vergangenen Jahr im Kugelhagel der Polizei. Der Tod der Kumpel schreckte Edward nicht ab, er glitt vom Autoknacken in schwerere Vergehen ab, die im nordirischen Getto-Jargon »hooding« heißen: Verbrechen gegen die eigene Gemeinschaft, etwa Einbrüche und Überfälle. Wenn die IRA eine Bank ausraubt, gilt das freilich nicht als »hooding«.

Taggarts Abrutschen in die Kriminalität hätte normalerweise Polizei, Jugendamt

und Gerichte mobilisiert. In Belfasts katholischen Gegenden rief es die allgegenwärtige IRA auf den Plan. Die Untergrundorganisation und ihr zugelassener politischer Flügel, die Sinn-Fein-Partei, haben dort die Aufgaben von Verwaltungs- und Ordnungskräften an sich gerissen.

Ein Femegericht erklärte den Jungen zum »antisozialen Element« und ließ dem »hood« (Kriminellen) Warnungen zukommen. Die IRA, so erzählte Edward im November seiner Mutter, habe gedroht, ihn »steifzumachen« - der Slangausdruck für Kniedurchschüsse.

Diese brutale Strafe hatten Irlands revolutionäre Nationalisten schon in den zwanziger Jahren eingeführt, obwohl damals eine andere Züchtigung beliebter war: Verräter oder Kriminelle wurden mit Teer beschmiert, in Federn gewälzt und an den Pranger, meist eine Straßenlaterne, gebunden.

Seit dem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in Nordirland wurden bislang zehn Menschen geteert und gefedert.

Dagegen berichtete Professor Douglas Roy vom Royal Victoria Hospital in Belfast schon Mitte 1982 von rund 700 Knieverstümmelungen. Fünf Prozent der Verwundeten mußten die Beine amputiert werden; anderen seien nur Fleischwunden zugefügt worden.

Die unterschiedlich schweren Verletzungen sind kein Zufall. Denn die mit Polizeiaufgaben betrauten IRA-Bestrafungskommandos dosieren ihre grausame Strafe ganz bewußt: Bei leichteren Vergehen schießen sie ihre Opfer nur ins Fleisch der Ober- oder Unterschenkel, sonst in ein Knie oder in beide. Tödliche Unfälle nehmen sie in Kauf.

Der Jugendliche aus den Divis Flats, so ließ die IRA entschuldigend verbreiten, sei nur deshalb zu Tode gekommen, weil er versucht habe, einem Mitglied des Bestrafungskommandos die Waffe zu entreißen. Katholische Kirchenführer und Politiker aber halten sich nicht beim Streit um Details auf und attackieren prinzipiell die Selbstjustiz der IRA.

»Edward Taggart gehörte einer Generation an, der das Zerstören, Plündern und Stehlen von den gleichen Männern beigebracht worden ist, die ihn nun dafür erschossen haben«, sagt Pater Pat Buckley, der den Toten gekannt hat.

Auch Joe Hendron von der gemäßigten Sozialdemokratischen und Arbeitspartei SDLP empörte sich darüber, daß »ein junger Mann wie ein Hund abgeknallt« worden sei.

Doch Gerry Adams, 37, Chef der Sinn-Fein-Partei und Abgeordneter von West-Belfast im Londoner Unterhaus, gibt sich ungerührt. »Ich verstehe die Trauer und Wut der Taggart-Familie. Edward sollte nicht sterben«, erklärte er in seinem festungsgleich verbarrikadierten Hauptquartier in Belfasts Falls Road. »Aber wir leben in einer belagerten Gesellschaft, die ihr Zusammenleben selbst regulieren muß.« Unter den gegenwärtigen Umständen, so Adams, habe er Verständnis für Femegerichte und Strafkommandos.

Der Sinn-Fein-Führer steht mit dieser Meinung unter den Katholiken ziemlich allein. »Es ist schlimmste Barbarei«, predigte Pater Joe McGurnaghan bei Taggarts Beerdigung, »wenn Menschen Gott spielen und sich anmaßen, darüber zu entscheiden, wer leben soll und wer sterben muß.«

Als der Trauerzug vom Friedhof zurückkehrte, prangten in Taggarts Straße frische IRA-Losungen an einer Mauer: »Touts will be shot«, »Hoods will be shot« - Verräter und Kriminelle werden erschossen.

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