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FRANKREICH / DE GAULLE Grenzenlose Feigheit

aus DER SPIEGEL 18/1969

Was zu tun bleibt. bleibt zu tun, und was getan werden muß, muß getan werden.

Charles de Gaulle, 1960

In einer atemberaubend sinnlosen unbegreiflich waghalsigen, doch keineswegs verzweifelten Kaprice tänzelte der König am Abgrund.

Ob er dabei fallen oder mirakulös wiederaufstehen würde, wollte Ende letzter Woche selbst an den Stufen seines Thrones niemand sagen. Die Furcht vor einem bevorstehenden »fin de règne« lähmte die Gaullisten, die Erfahrung mit zu vielen -- eingebildeten -- »fins de règne« die Antigaullisten:

Würde der Autokrat fallen, so an seiner unautokratischen Sucht, das Volk zu befragen, das er doch für ein Kälbervolk hält. Der Präsident-Philsoph im Ruhestand würde sich dann zu Colombey wieder von der »Nichtigkeit der Dinge ergreifen« lassen und tun, was er immer am besten konnte: am Essay seines Lebens schreiben.

Würde der Autokrat wiederauferstehen, so dank der bei Literaten wie Generälen gleichermaßen seltenen Fähigkeit, die Menschen zu führen -- und selbst so kälberhaft unregierbare wie es nach seiner Ansicht die Franzosen sind.

Zwei Tage vor dem Volksentscheid wußte niemand, weshalb Charles de Gaulle das Risiko eingegangen war, das er nicht brauchte, weshalb er dafür seine eigene politische Existenz aufs Spiel setzte und seine Anhänger zwang, die Franzosen in einer jählings dramatisierten Kampagne wieder vor die Wahl zwischen Heil und Untergang zu stellen: Wenn die Nein-Sager siegen würden, ·so verkündeten die Gaullisten landauf, landab, drohten Barrikaden und Franc-Abwertung, Kommunismus und Verlust der nationalen Unabhängigkeit -- eines schrecklicher als das andere.

Es gibt nur einen Grund für das Schauerstück: De Gaulle wollte einmal mehr Rache nehmen für die Demütigung, die ihm letztes Jahr im Mai zugefügt wurde.

Nach Zeugenberichten steht der General unter der Obsession, daß die Mai-Revolte von 1968 nur habe ausbrechen können, weil die Regierung zu »commode« gewesen sei -- daß man das Volk mithin immer wieder »fordern« müsse. Im März beim intimen Diner im Elysee-Palast gewann Georges Pompidou diesen Eindruck. Das Referendum sollte also Volkserziehung sein, seine Dramatisierung war beabsichtigt, sie ist sein bestes Siegesrezept.

Doch letzte Woche schien der Ausgang des Referendums am Sonntag so ungewiß wie nie zuvor eine Entscheidung in der Geschichte der V. Republik. Am Dienstag überwogen bei Meinungsumfragen erstmals die Nein-Stimmen mit 53 zu 47 Prozent -- aber gut ein Drittel der Franzosen hatte sich noch nicht entschieden.

Am Dienstag berichtete »Le Monde« über ein internes Gutachten von Präfekten, der Sùreté nationale und von gaullistischen Organisationen im ganzen Land. Ergebnis: leichtes Überwiegen der Nein-Stimmen, vor allem in Paris, Lilie und Toulouse, selbst in der traditionell gaullistischen Bretagne nur ein schwaches Ja.

Am Mittwoch drohte Kulturminister Malraux, die Norne des Regimes, im Pariser Sportpalast: »Es gibt keinen Nachgaullismus gegen de Gaulle.« Einer unter den tosenden Gaullisten, Ex-Premier Georges Pompidou, applaudierte nur verhalten.

Eine gefährliche Situation war entstanden: Viele Wähler erklärten, sie wollten mit Nein stimmen, weil sie so gute Gaullisten seien und Pompidou den Gaullismus fortführen werde.

Fünf führende Gaullisten marschierten zu Pompidou und verlangten eine öffentliche Erklärung, daß er nach einem eventuellen Sieg der Nein-Sager nicht Präsidentschafts-Kandidat sein werde. Pompidou lehnte ab.

Etliche Parteipolitiker machten sich wie üblich daran, die Bärenhaut zu verteilen, obschon das majestätische Exemplar wiederum noch nicht gefangen war. Nur die Gewerkschaften hielten sich zurück, um die Massen nicht wieder -- wie hei den Wahlen im Juni -- in die Arme der Gaullisten zu treiben. Doch für alle Fälle setzte die kommunistische CGT auf Sonntag abend eine Vorstands-Sitzung an.

Scherzhaft hatte de Gaulle seinem Freund, dem linksgaullistischen Abgeordneten Louis Vallon, gesagt: »Alors, Vallon, vous viendrez me voir à Colombey?« (Na, Vallon, Sie besuchen mich doch wohl in Colombey?). Die nächste Kabinettssitzung beraumte er -- nur »im Prinzip« -- auf diesen Mittwoch an.

Doch ob die Franzosen im April 1969 wagen würden, was sie im Juni 1968 verweigerten -- »de Gaulle ins Museum« zu schicken, wie die Studenten gefordert hatten -, blieb bis zuletzt zweifelhaft.

»Angesichts des ungewöhnlichen, einsamen Kampfes, den der alte Mann gegen das Schicksal führt, ergreift uns eine grenzenlose Feigheit« (une immense lâcheté), schrieb der Soziologe Michel Crozier in »Le Monde«. Der »Figaro« stellte »fortdauernde Perplexität« in der Wählerschaft fest. Dann, Freitag abend, sprach de Gaulle.

Er drohte noch einmal, daß er »unverzüglich« (aussitôt) zurücktreten werde, wenn das Land ihn desavouiere. Er prophezeite für diesen Fall den »nationalen Zusammenbruch«. Er versprach erstmals« am Ende seiner Amtszeit« also im Dezember 1972, wolle er seinem Nachfolger Platz machen. Darauf fuhr er nach Colombey.

Charles de Gaulle ist der vielleicht bedeutendste Restaurator der Nachkriegszeit. Von der Preisgabe Algeriens bis zur Proklamation des Europas der Vaterländer heilte er das in glücklosen Kriegen verletzte Selbstbewußtsein der Franzosen. Er zwang seiner Umwelt die beunruhigende Erkenntnis auf, daß ein restauratives Werk selbst noch groß sein kann, wo es zerstörerisch wirkt.

Die Mai-Revolte des letzten Jahres machte den Helden ratlos. Als er gleichwohl versuchte, als Revolution zu verkaufen, was wie christliches Sozialwerk aus der Zeit der Jahrhundertwende anmutet, irritierte er viele, die ihm bislang gefolgt waren.

An die Wände der Pariser Metro-Schächte schrieben sie in diesen Wochen vor dem Referendum ihre Verzweiflung über den traurigen Alltag der nicht von Visionen lebenden Existenzen: »Métro, Boulot, Télé, Dodo« (Metrofahren, schuften, fernsehen, schlafen).

Kein de Gaulle, kein gefallener, kein wiederauferstandener, kann ihnen helfen.

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