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Gretchen in der Warteschleife

aus DER SPIEGEL 46/1993

Der Traum vom »Leben für die Kunst« hat sich erfüllt - fast: Der junge Schauspieler bekommt Hauptrollen, Kritiker loben ihn, das Publikum applaudiert entzückt, und das Theater ist sowieso fast immer ausverkauft. Und doch kann Christian Schodos, 28, nur schwer von seinem Beruf existieren. Wenn er Glück hat, steht der Berliner 20mal im Monat auf der Bühne des kleinen Kreuzberger Kama-Theaters - für 75 Mark am Abend.

Sein Kontostand, klagt Schodos, bewegt sich »immer nur im Bereich des Dispositionskredits«. Um wenigstens manchmal in die schwarzen Zahlen zu kommen, jobbt er ein paarmal im Jahr als Verkäufer in einem Berliner Plattenladen.

Schodos hofft, vom Privattheater Kama aus, das von der Selbstausbeutung aller Mitarbeiter lebt, den großen Karrieresprung zu schaffen.

So wie ihm geht es vielen Künstlern: Der Glaube an das eigene Talent und die Hoffnung auf Ruhm allein ernähren die wenigsten. Mit rund 20 Prozent liegt die Arbeitslosenquote bei Schauspielern extrem hoch: Im September 1992 waren bei den Arbeitsämtern in den alten Bundesländern 1743 Romeos und Gretchen in der Warteschleife registriert. Die Dunkelziffer, so vermuten Experten, ist groß.

Dabei schätzt Ursula Geller von der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung »die Zahl der seriösen Schauspieler in ganz Deutschland auf höchstens 8000 bis 10 000«. Der Kampf um die wenigen Vakanzen in allen Theater-Sparten ist inzwischen so heftig, daß etwa das Stadttheater Bielefeld seine Absagen nur noch hektographiert verschickt: »Bei über 2100 Bewerbungen pro Spielzeit« sei es unmöglich, »jeden Brief persönlich abzufassen«.

Das Klima für die Kunst in Deutschland war nie so kalt wie jetzt. Die Kommunen kämpfen mit wachsenden Defiziten und kappen nun auch die Subventionen für den städtischen Kulturbetrieb. Ob Oper, Ballett oder Museen, ob Bibliotheken oder Orchester: Die Zeit des kalkulierbaren Wachstums ist dahin. Schlimmer noch: Einstige Prestige-Objekte werden bedenkenlos abgewickelt.

Die Schließung des Berliner Schiller Theaters Anfang Oktober wirkte in der deutschen Kulturszene daher wie ein erstes, fatales Signal. Das Theater als geschlossene Anstalt ist nun kein Tabu mehr. Die Subventionsempfänger müssen plötzlich Leistungsnachweise in Form von Quoten bei der Platzausnutzung erbringen - Lean-Management bei den Musen.

Bochum, Lübeck und Kassel wollen beispielsweise ihre Tanztheater liquidieren, dem Leipziger Gewandhausorchester droht eine Subventionskürzung um fünf Millionen Mark. In Frankfurt am Main müssen die kostenintensiven Theater und Museen mittelfristig mit Kürzungen der Zuschüsse um ein Viertel rechnen. In Stralsund und Greifswald fusionieren die Stadttheater. »Es wird massenhaft abgebaut, vor allem in den neuen Ländern«, beschreibt Knut Lennartz vom Deutschen Bühnenverein in Köln den schleichenden Theatertod.

Doch nicht nur die staatlichen Geldquellen versiegen, auch die private Kunstszene leidet unter der Rezession. Immer weniger Sammler investieren in junge, unbekannte Maler oder Bildhauer. Die Goldgräberstimmung, die dem Kunstmarkt der achtziger Jahre gigantisches Wachstum bescherte, ist verflogen.

Die Folge: Galerien, die einzig auf die aktuellen Strömungen der Gegenwartskunst gesetzt haben, schließen, junge Künstler finden keine Beachtung mehr. Sie leben von der Wand in den Mund.

Dem rapide schrumpfenden Markt zum Trotz drängt es immer mehr Schulabgänger zur Kunst. Die Berliner Hochschule der Künste (HdK), die größte Talentschmiede im Lande, zählte voriges Jahr allein 800 Bewerber für die zwölf Plätze im Studiengang Theater. Von 1980 bis 1992 stieg die Zahl der Bewerber an der HdK in allen Bühnenberufen (Schauspiel, Bühnenbild, Musical, Komposition, Gesang) um 172,5 Prozent. Und dennoch steht das Problem der Arbeitslosigkeit an den Hochschulen nicht auf dem Lehrplan.

Olaf Schwencke, Präsident der HdK, beschreibt die Rolle seines Instituts ungetrübt philosophisch: »Ökonomisch gesehen, bilden wir vielleicht zu viele Künstler aus; gesellschaftlich betrachtet, kann man gar nicht genug ausbilden.«

Und auch der Maler Georg Baselitz, einer der Großverdiener im internationalen Kunst-Business, pinselt unverdrossen am alten Spitzweg-Idyll vom Hungerkünstler, der erst im Verzicht wahres Genie entwickelt: »Wenn ein Student zu mir in die Klasse kommt und gleich davon redet, daß er möglichst viel Geld mit der Kunst verdienen will, dann finde ich das einfach vulgär.«

Der Kölner Galerist Max Hetzler schätzt, »daß heute vielleicht 3 von 100 Künstlern ausschließlich von ihrer Kunst leben können« - Mönchtum aus Not. Die Ursache sieht Hetzler in den »überlaufenen Akademien«, die »viel zu viele ausbilden«.

Künstler werden solle nur, »wer fest an sein Talent glaubt und eine Mission erfüllen will«, meint deshalb Hermann Rauhe, Präsident der Hamburger Hochschule für Musik und Theater.

Um den Missionaren in eigener Kunst-Sache die Arbeitslosigkeit zu ersparen, stellt Rauhe sie auf »ein zweites Bein«. Im obligatorischen Wahlpflichtbereich müssen die angehenden Sänger und Instrumentalisten Seminare für Musikpädagogik, Medienkunde oder - Rauhes Lieblingsprojekt - Kulturmanagement belegen. Ihn ärgert, daß »wir Konzertmanager in Deutschland haben, die früher mit Autos gehandelt haben. Diese Typen müssen verschwinden«.

Ersetzen will Rauhe die Universal-Verkäufer, die keine »Geige von einer Bratsche unterscheiden können«, durch Typen wie Jens Cording, einen ausgebildeten Geiger mit Diplom zum Musikpädagogen.

Cording, 29, ließ sich in fünf Semestern zusätzlich zum Diplom-Kulturmanager ausbilden - das war sein »Traumberuf«. Schon vor dem Abschluß (Thema der Diplomarbeit: »Marketing für Kulturarbeit in Senioren-Wohneinrichtungen") hat er einen Job gefunden: Im Kulturprogramm des Münchner Siemens-Konzerns wird er freiberuflicher Projektleiter für Musik und organisiert künftig mit unbekannten Künstlern Konzertreihen vor allem in den neuen Ländern.

Der Künstler als Kulturmanager. Für Cording ist das »ein Schritt in die richtige Richtung, auch gegen die Arbeitslosigkeit«. Von den Kunst-Kommilitonen seines Semesters haben immerhin »alle eine Berufsperspektive, die meisten sogar schon Arbeitsverträge«.

So verdingen sich die diplomierten Sänger, Pianisten, Schauspieler oder Dirigenten inzwischen als Schallplattenproduzenten, Orchestermanager oder Musikschulleiter. »Denn auch so was«, sagt Initiator Rauhe, »kann genauso befriedigend sein wie ein Auftritt auf der Bühne.«

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