Griff zur Schrotflinte
Muss man sich neuerdings daran gewöhnen, dass es neben dem augenzwinkernd sogenannten Dritten Senat der wissenschaftlichen Mitarbeiter noch einen »Vierten Senat« des Bundesverfassungsgerichts gibt, nämlich den ehemaliger Bundesverfassungsrichter? Ein Gremium, das ungefragt und in beliebiger Zusammensetzung, bis hin zum Einzelrichter, urteilen kann. Und das schon dann ein Votum verkünden darf, wenn die Karlsruher Richter selbst noch gar nicht tätig werden könnten. Die zunehmenden Wortmeldungen ehemaliger Verfassungsrichter zu aktuellen strittigen Fragen nähren diese Vermutung stark.
Das Interesse der früheren Karlsruher Richter Karin Graßhof und Hans Hugo Klein, den unabhängigen Wahlorganen zu befehlen, alle Landeslisten der Linkspartei zurückzuweisen, lässt sich leicht mit dem Interesse jener Parteien identifizieren, denen sie angehören und denen sie ihr Richteramt zu verdanken haben. Denn SPD wie CDU wollen am liebsten verhindern, dass die Kandidaten der Linkspartei zur Wahl zugelassen werden. Die einen wünschen dies, weil die neufirmierende Partei im Wesentlichen in ihrem Wählerreservoir fischt, und die anderen, weil die absolute Mehrheit der sogenannten bürgerlichen Parteien in Gefahr sein könnte.
Graßhof wie Klein wissen zudem, dass Entscheidungen der Wahlausschüsse vor dem Urnengang juristisch nicht angefochten werden können - obwohl das Grundgesetz garantiert, dass gegen alle Entscheidungen der öffentlichen Gewalt, also auch gegen die der Wahlorgane, der Rechtsweg offen stehen muss. Diese bedauerliche Lücke nutzen Graßhof und Klein für ihre Argumentation; während ihrer Amtszeit als Verfassungsrichter hätten sie allerdings mithelfen können, sie zu schließen.
Nun braucht man wahrlich keine Sympathie für die altneue Formation der Linkspartei zu haben. Ich denke aber, die etablierten Parteien sollten sich schon die Mühe machen, sie zu bekämpfen, statt sie mit Hilfe ihrer Vertreter in den Wahlorganen kaltzustellen. Dafür das gute Gewissen zu liefern, ist ersichtlich Sinn jener Wortmeldung der beiden ehemaligen Verfassungsrichter.
Aber sind sie wenigstens im Recht?
Es geht um das Wahlgesetz, das die Bedingungen des wichtigsten Machtkampfes definiert, den die Demokratie kennt. Notwendigerweise ist es stark formalisiert. Es muss nicht nur von Ermessensentscheidungen frei sein, sondern möglichst auch von Beurteilungsspielräumen. Seine Kriterien sind hier aber erfüllt - anders als es die beiden Ehemaligen suggerieren.
Sie werfen Linkspartei und WASG vor, getrickst zu haben: Zwar sehen auch Graßhof und Klein keine nach dem Parteiengesetz unzulässige »förmliche« Listenvereinigung; sie unterstellen aber, dass es sich materiell, also im Ergebnis, gleichwohl um eine solche handele. Das Wahlrecht kennt freilich den Begriff der nur materiellen Listenvereinigung nicht. Und auch das von den Ehemaligen bemühte Verbot eines derartigen Bündnisses ist ihm fremd. Dagegen besteht bei den Listen ein Monopol der politischen Parteien. Das Wahlrecht geht selbstverständlich davon aus, dass eine Partei nur eine Liste bilden kann. Verantwortlich für sie ist ausschließlich die aufstellende Partei.
Natürlich ist die Mitgliedschaft keine wahlrechtliche Bedingung, um auf der Liste einer Partei zu kandidieren. Das Wahlrecht schreibt nicht einmal vor, die Parteizugehörigkeit eines Bewerbers anzugeben, wenn die Landesliste eingereicht wird. Sie kann daher auch nicht zum Prüfungsprogramm von Landeswahlausschüssen gehören. Die Parteizugehörigkeit bleibt sogar dem Wähler verborgen. Als Sperre gegen Missbrauch genügt dem Gesetz offensichtlich, dass die Liste ausschließlich durch Mitglieder der einreichenden Partei bestimmt werden darf, um als Aufstellung dieser Partei anerkannt zu werden.
Eine Listenvereinigung setzte voraus, dass die wahlrechtlich zuständigen Organe beider Parteien über Kandidaten und Reihenfolge förmlich entscheiden. Die Ehemaligen behaupten zwar nicht, dies sei hier geschehen. Sie unterstellen aber, es sei aufgrund informeller, »bundesweit geltender Absprachen« zwischen Linkspartei und WASG dazu gekommen. Da unterschätzen die beiden wohl das Wahlrecht.
Den früheren Besatzungsmächten haben wir es zu verdanken, dass es bei der Wahl zum Bundesparlament keine nationalen Listen gibt, sondern nur voneinander unabhängige Landeslisten. Diese werden durch die Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen der Landesverbände souverän und ohne Bindung an irgendwelche Absprachen gebildet - das hat schon manche Parteiführung auf Bundesebene gehörig geärgert. Was immer Gysi und Lafontaine vereinbart haben mögen, eine »bundesweit geltende Absprache« konnte es nicht geben.
Ganz offenkundig haben sich die Nominationsorgane ja auch nicht an alle (gewiss vorhandenen) Wünsche der Zentralen gehalten. Die WASG-Mitglieder waren bei der Vergabe der Listenplätze ausschließlich auf die Delegierten der Linkspartei angewiesen. Die für eine förmliche Listenvereinigung entscheidende Übereinstimmung der Nominationsorgane beider Parteien ist also auch nicht durch informelle, bindende Absprachen im Vorfeld ersetzt worden.
Die einzureichenden Listen sind ausschließlich solche der Linkspartei und folglich keine Umgehung des Wahlrechts. Dessen Möglichkeiten wurden lediglich genutzt, indem auch WASG-Mitglieder einige Plätze fanden. Ob solche gescheckten Landeslisten bundesweit insgesamt die Fünfprozenthürde nehmen, haben allein die Wähler zu entscheiden.
Das Wahlrecht verlangt auch keine »Homogenität« der jeweiligen Landesliste, geschweige denn ein gemeinsames Wahlprogramm, was immer man von Wahlprogrammen halten mag. Im Gegenteil geht es davon aus, dass die einzelnen Bewerber in der Delegiertenversammlung »ihr Programm« in angemessener Zeit vorstellen können und nicht ein Bekenntnis zum Parteiprogramm abgeben müssen. Auch werden nicht Parteien in das Parlament gewählt, sondern Abgeordnete.
In ihrem Eifer genügt den Ehemaligen nicht der Blattschuss, den sie einzelnen Landeslisten der Linkspartei verpasst zu haben glauben, sie greifen auch noch zur Schrotflinte: Nicht nur die Listen, auf denen WASG-Mitglieder stehen, »müssen« die Landeswahlausschüsse nach ihrem Urteil zurückweisen, sondern auch solche, auf denen es keine gibt. Zur Begründung wird eine Missbrauchsvirus-Theorie entwickelt, die abenteuerlicher nicht sein kann: Der böse Wille beider Parteien, ihr vermutetes Wählerreservoir auszuschöpfen, wird zum alles vernichtenden Erreger.
Sollte das ernsthaft auch gelten, wenn die ÖDP ihren Anhängern raten sollte, Bündnis 90/Die Grünen zu wählen, weil einige ihrer Mitglieder auf deren Listen stehen?
Die höchst dringliche Regieanweisung von Graßhof und Klein an die Wahlausschüsse, die Landeslisten zurückzuweisen, wird mit apokalyptischen Folgen eines Ungehorsams untermalt: Zunächst würde die Wahl angefochten und dann für ungültig erklärt.
Die Ehemaligen müssten aus der eigenen Rechtsprechung wissen, dass Wahlanfechtungen traditionell schon im Parlament eher schleppend behandelt werden. Ein sich im Wahlprüfungsverfahren selbst auflösendes Parlament müsste ebenfalls noch gefunden werden.
Auch das Bundesverfassungsgericht pflegt Beschwerden gegen Wahlprüfungsentscheidungen des Parlaments nicht gerade als Eilsachen zu betrachten. Zwei bis drei Jahre wird man allemal mit dem gewählten Bundestag zu leben haben, zumal das Gericht selbst die merkwürdige These aufgestellt hat, bei der Wahlprüfung sei möglichst zu Gunsten des gewählten Parlaments zu entscheiden. Kassandra ist hier wohl doch etwas zu schrill.
Vielleicht wäre es zudem nicht schlecht, den gesunden Menschenverstand zu bemühen. Falls ein Landeswahlausschuss eine Liste zurückweisen sollte, dürfte es für die WASG-nahen Kandidaten ein Leichtes sein, in die Linkspartei einzutreten, bevor der Bundeswahlausschuss entscheidet.
Und wollen wir ernsthaft die immer noch stattliche Anhängerschaft der ehemaligen PDS in den neuen Bundesländern ohne Wahlchance lassen - von der Legitimation eines so gewählten Parlaments einmal abgesehen?
Manch einer, der sich über das Urteil des »Vierten Senats« freut, würde das wohl beim nächsten Landtagswahlkampf im Osten bereuen.