Zur Ausgabe
Artikel 68 / 110

INDIEN Großangriff auf Shir Khan

850 Dollar für einen Tiger-Penis: Wilderer rotten im Auftrag einer chinesischen Mafia die Riesenkatzen in den Nationalparks aus. Die Trophäen werden als Potenzmittel verkauft.
Von Olaf Ihlau
aus DER SPIEGEL 33/2005

Die Misere begann mit dem vorigen Monsun. Tag um Tag entdeckten die Wildhüter im Nationalpark Sariska weniger Tigerspuren. »In der Trockenzeit werden sie schon wieder auftauchen«, versuchte Arun Sen, der Chef der Tierschützer im indischen Bundesstaat Rajasthan, Sorgen um die Großkatzen zu zerstreuen: »Dann kommt der Tiger aus dem tiefen Dschungel heraus.«

Aber auch ein halbes Jahr nach der Regenflut war in Sariska das Gebrüll des geschmeidigen Räubers nicht wieder zu hören. Nicht eine einzige Tigerfährte ließ sich in dem 866 Quadratkilometer großen Waldgelände finden, einem fünf Autostunden von der indischen Hauptstadt Neu-Delhi entfernten Vorzeigepark für eilige Staatsbesucher und Touristen.

Vor einem Jahr ließen sich hier noch bis zu 20 Tiger zählen. Jetzt gibt es nicht einmal mehr Reste von Kadavern. Wilderer hatten die Raubtiere abgeschlachtet und mit ihren Fellen, Knochen, Krallen und Tatzen bei fernöstlichen Abnehmern ein Vermögen gemacht. Denn vor allem reiche Chinesen glauben auch im Zeitalter von Viagra noch immer an die potenzfördernde Kraft des Tigers in Wundertinkturen.

»Was hier passiert, ist ein Skandal«, sagt Belinda Wright, die Chefin der Wildlife Protection Society. Sie ist die in Kalkutta geborene Tochter eines britischen Kolonialoffiziers und muss bei Einsätzen im Gelände auch mit Messer- und Schussattacken fertig werden. Selbst Neu-Delhis eher dröger Premierminister Manmohan Singh spricht »von der größten Krise unseres Tierschutz-Managements« und will nun eine Task-Force zur Rettung des nationalen Symbols einsetzen.

Wilderei und Korruption, dazu Gleichgültigkeit und Misswirtschaft der Tierschutzbehörden ließen in den 28 Nationalparks den Bestand an Tigern dramatisch zurückgehen. Wie in Sariska gibt es in sechs weiteren Schutzzonen keinen oder kaum Tiger mehr, in gut der Hälfte weniger als drei Dutzend. Noch 2002, dem letzten Jahr einer offiziellen Zählung, hatten die Tierschutz-Bürokraten exakt 3723 Exemplare registriert. »Wir könnten schon von Glück sagen«, meint Belinda Wright, »wenn es heute in ganz Indien noch 2000 Tiger gibt.«

Der Nationalpark Ranthambhore liegt nicht weit von Sariska entfernt. Tamarisken, Pipal- und prächtige Banyan-Bäume umschlingen die Reste einer alten Festung. Auf ihren Felsblöcken pflegten Dschingis und Kublai, zwei mächtige Tiger, jahrelang majestätisch wie die Mogulherrscher zu posieren.

»Mein Mann Bill hatte vor zwei Jahren das Glück, in Ranthambhore zwei Tiger zu sehen«, berichtete vor kurzem die New Yorker Senatorin Hillary Clinton auf einem Zukunftsforum in Delhi. Sie verband damit, von Belinda Wright instruiert, die freundliche Mahnung, »dass Fortschritt nicht bedeuten darf, sein nationales Erbe zu verlieren«.

Dschingis und Kublai sind von ihren Steinthronen verschwunden. Weniger als 20 der vormals 35 Tiger Ranthambhores sollen nach jüngsten Angaben noch im Park verblieben

sein. Die Wilderer-Mafia hat auch hier zum finalen Schlag ausgeholt.

Vor allem zur Kolonialzeit des »British Raj« galt die Trophäenjagd als feudales Privileg, das die weißen Sahibs ebenso zelebrierten wie die einheimischen Fürsten und Nabobs. Der Tiger, das war »Shir Khan«, der verschlagene »Gewaltige«, wie ihn Rudyard Kipling in seinem »Dschungelbuch« als sinistren Herrscher der Wildnis beschrieb. Mit ihm musste niemand Mitleid haben.

Kein Wunder, dass die Jagdpartien zur Massenschlächterei wurden. Den Weltrekord im Abschuss von Tigern sicherte sich der 1958 gestorbene Maharadscha von Surguja. Er brachte 1150 Exemplare zur Strecke.

Doch es gab auch Profi-Jäger, »Schikari« genannt, die sich zu schwärmerischen Beschützern der bedrohten Spezies läuterten. Der berühmte Jim Corbett etwa, der in den Vorbergen des Himalaja zwölf »man-eater« erlegte, die - diese Zahl ist verbürgt - immerhin 1500 Menschen gefressen hatten. Der gewandelte Schikari erblickte fortan im Dschungelherrscher einen »großherzigen Gentleman« und warnte: »Wenn der Tiger ausgerottet ist, wird Indien das schönste Stück seiner Fauna verloren haben.«

1970 verbot die indische Regierung die Jagd nach den lohfarben-schwarz gestreiften Großkatzen. Das war bitter nötig, denn der Bestand war von einst 40 000 auf 1800 Tiere geschrumpft. Premierministerin Indira Gandhi rief das »Projekt Tiger« mit der Einrichtung erster Schutzgebiete ins Leben.

Rigoros setzten Indira Gandhi, ein leidenschaftlicher Tiger-Fan, und später ihr Sohn Rajiv durch, dass Schutzzonen ausgeweitet und deswegen sogar viele Dörfer umgesiedelt wurden. Das konnte nicht sonderlich populär sein in einem Land, in dem inzwischen über eine Milliarde Menschen leben. Vor allem Kleinbauern und Kastenlose führen in den Randzonen der Tigerparks ein Kümmer-Dasein und haben wenig Verständnis für den Tierschutz.

»Wer so im Elend vegetiert, für den sind 5000 Rupien eine höllische Versuchung«, muss auch Belinda Wright nach ihrem jüngsten Sariska-Besuch einräumen. 5000 Rupien, nicht mal 90 Euro, verdient ein Wildhüter im Monat und mancher Dorfbewohner nicht einmal im gesamten Jahr. Deshalb schauen sie schon mal weg oder überhören einen Schuss, wenn die Wilderer-Gangs zuschlagen.

Ohnehin haben die schlecht ausgerüsteten Wildhüter gegen die Wilderer nur selten eine Chance. »Die tragen Gewehre, wir besitzen meist nur Bambusknüppel«, beklagt sich einer der Forstwächter von Sariska.

Hinzu kommt der Frust darüber, dass viele der geschnappten Wilderer entweder gar nicht belangt werden oder mit lächerlichen Strafen davonkommen. In 748 Gerichtsprozessen, notierte der »Telegraph« in Kalkutta, gab es lediglich 14 Verurteilungen für Tigerschlächter. Bei einem Gericht in Delhi stehen 250 Fälle an, die Verfahren werden verschleppt, dauern im Schnitt acht bis zehn Jahre. Zwar wurde Ende Juni mit Sansar Chand einer der meistgesuchten Tigerjäger gefasst. Aber an die Köpfe der Katis und Samalkhas, der beiden Gangs, die sich die Wilderei in den Tigerparks aufgeteilt haben, traut sich ohnehin niemand heran.

Denn Geld, verhängnisvoll viel Geld, lässt sich mit einem ausgeweideten Tiger bei Aufkäufern in Hongkong, Taipeh oder Singapur machen. Dort herrscht eine chinesische Potenz-Mafia. Sie verwendet nicht nur die Knochen, sondern sämtliche Organe und Innereien für lendenstärkende Pillen, Salben, Tinkturen. Selbst die Barthaare werden noch als Zusatz für einen auf Taiwan abgefüllten Wein benötigt. Ein Tiger-Penis bringt derzeit etwa 850 Dollar, ein prachtvolles Fell bis zu 50 000.

»In 20 Jahren wird es auf dem Subkontinent keine freilebenden Tiger mehr geben«, so die düstere Prognose von Arjan »Billy« Singh, 87, dem Nestor der indischen Tierschützer. Auch in Singhs Revier, dem an Nepal grenzenden Dudhwa-Park, zeigen sich die Raubkatzen nur noch selten. Von einst 90 sind heute wohl nicht mehr als 25 übrig. Nepal ist eine der Hauptrouten des Tigerschmuggels.

Auch Dudhwas letzte Exemplare werden verschwinden, so befürchtet Indiens bekanntester Tigerschützer, wenn die Menschen dem Dschungelherrscher keine Nische zugestehen. Singh sagt es mit viel Pathos: »Der Mensch müsste den Tiger wie eine Gottheit behandeln.«

Würde die Raubkatze wirklich konsequent geschützt, könnte sie in Großparks wie den Sunderbans im Ganges-Delta (270 Exemplare) oder in Kanha (über 100) gewiss überleben. Und wohl auch im Corbett-Schutzgebiet, dem ältesten, noch zur britischen Kolonialzeit gegründeten Nationalpark des Subkontinents: gut 1300 Quadratkilometer Dschungel, grandios gelegen am Fuß des Himalaja. Hier ließen sich zuletzt die Fährten von mehr als 100 Tigern finden.

»Auch bei uns geht es dem Tier in den Randzonen an den Kragen«, räumt der Wildhüter Jogi Bishdr ein, »aber ins Zentrum des Parks schaffen es die Wilderer nicht, da passen wir auf.«

Dort ist der König des Dschungels mit ein wenig Fortune weiterhin zu sehen. Beim morgendlichen Ausritt etwa mit dem Elefanten am Ramganga-Fluss. Denn wenn er will, dann zeigt der Gewaltige sich noch immer in seiner Majestät - stolz, kraftvoll und souverän den Menschen, seinen Feind, ignorierend. OLAF IHLAU

Zur Ausgabe
Artikel 68 / 110
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten