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MEMOIREN Große Aufregung

Aus Albert Speers »Spandauer Tagebüchern« will der Ullstein-Verlag einen Superseller machen. Den Versuch einiger Kritiker, das Speer-Bild zu korrigieren, wußte der Verlag rechtzeitig zu stoppen.
aus DER SPIEGEL 16/1975

Der Häftling hatte »einen abenteuerlichen Gedanken": Trotz der schaffen Bewachung im Spandauer Kriegsverbrecher-Gefängnis wollte er heimlich »die Niederschrift eines großen Werkes« beginnen und sie an den Wachen vorbeischmuggeln lassen. Inhalt der Notizen: Meditationen über Adolf Hitler und seinen Hofstaat.

Der Autor, Großdeutschlands ehemaliger Rüstungsminister Albert Speer, hatte seit Monaten -- im Oktober 1946 wegen Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Haft verurteilt -- untätig in seiner Zelle gehockt, fast fatalistisch dem Kleinkrieg der Wächter und den Querelen der sechs Mithäftlinge ausgeliefert.

Ein holländischer Krankenwärter namens Anton Vlaer brachte plötzlich im Oktober 1947 Hoffnung in die Speer-Zelle. Er bot dem Häftling seine Hilfe an, falls es Freunde und Verwandte gebe, denen er unzensierte Post zukommen lassen wolle. Speer kannte solche Menschen: Da gab es seine Familie in Heidelberg, den Freund und Mitstreiter Rudolf Wolters in Westfalen, die einstige Sekretärin in Schleswig-Holstein.

Bald war Speer »wie besessen von der Idee«, die Geschichte seiner Erfahrungen und Erkenntnisse an der Seite Hitlers zu erzählen. Umsichtig tarnte er sein Unternehmen. Keiner der Mithäftlinge erfuhr von den Speer-Kassibern, die beschriebenen Blätter (meist Toilettenpapier) ließ Speer als Einlagen in seinen Stiefeln verschwinden. Hielt er beim Schichtwechsel einen Füllfederhalter in der Hand, so wußte Vlaer, daß der Häftling neues Papier haben oder Kassiber »abwerfen« wolle.

Beinahe wäre er ertappt worden. Am 22. Dezember 1947 schrieb er sich hastig auf: »Große Aufregung.« Er wollte gerade Zettel in seiner Schuhsohle verstauen, als Stimmen vor der Zellentür ertönten. Er konnte noch im letzten Augenblick das Papier zerknüllen und in die Toilette werfen.

Je weiter jedoch die Zeit voranschritt, desto perfekter wurde Speers Tarnungssystem. Er schrieb Blatt um Blatt: Erinnerungen, Meditationen, Momentaufnahmen aus dem Gefängnisleben. Im März 1953 begann er mit der Niederschrift seiner Memoiren, im Dezember 1954 hatte er 2000 Blatt vollgeschrieben -- Grundlage der »Erinnerungen«, die nach Speers Entlassung im Herbst 1966 zu einem der spektakulärsten Bestseller-Erfolge zeitgeschichtlicher Nachkriegs-Literatur wurden.

Ungedruckt aber blieben 25 000 Blatt jener Tagebuch-Notizen, in denen Speer über die Spandauer Gefängniszeit berichtet. Erst jetzt rüstet sich der Ullstein- Verlag, sie in einer bearbeiteten Fassung zu veröffentlichen -- in der Hoffnung, den Erfolg der »Erinnerungen« noch zu übertrumpfen. »Es sieht so aus«, sagt Ullstein-Chef Wolf Jobst Siedler, »als ob es unser erfolgreichstes Buch werden würde.«

Die Nachfrage nach den Tagebüchern ist in der Tat bereits so stark, daß Ullstein das neue Speer-Buch mit einer Erstauflage von 200 000 Exemplaren starten will. Schon jetzt zeichnet sich ein ungewöhnlicher Geschäftserfolg ab: »Die Welt« erwarb die Serialisierungsrechte für 600 000 Mark, der Macmillan-Verlag in New York gab für die inneramerikanischen Buchrechte 350 000 Dollar aus -- laut Siedler »die höchste Summe, die jemals für ein deutsches Buchrecht bezahlt worden ist«.

Siedler ist sich sicher: »Das wird ein gutes Buch.« Zumindest sind die Tagebücher des Häftlings Speer ein einmaliges Dokument; zum erstenmal beschreibt einer der Spandauer Sieben detailliert das Leben hinter den Mauern des Kriegsverbrecher-Gefängnisses, wird der Haft-Alltag mit all seinen Gewissenskonflikten, Banalitäten und Verquertheiten lebendig -- aufgezeichnet von einem unsentimentalen, frühzeitig zum Außenseiter gewordenen Beobachter.

Schon sein Bekenntnis vor den alliierten Richtern in Nürnberg, er fühle sich als ehemaliger Minister Hitlers für alle NS-Verbrechen mitverantwortlich, stempelte ihn zum Paria unter den Verurteilten. Speer berichtet in seinen »Spandauer Tagebüchern«, wie »sie zusammen wisperten und zur Seite traten, wenn ich mich näherte«.

Ungerührt ließ sich Speer zur Reinigung des Raums im Nürnberger Gefängnis einsetzen, in dem die zum Tod verurteilten Angeklagten hingerichtet worden waren, und sah zu, wie Rudolf Heß an einer blutgetränkten Stelle am Boden Haltung annahm und die Hand zum Parteigruß erhob. Speer aber überkam »fast so etwas wie Neid: Die haben es hinter sich«.

Auch nach der Überführung ins Spandauer Gefängnis besserte sich das Verhältnis zwischen Speer und den übrigen Häftlingen nicht. Sie waren so zerstritten, daß Speer das gemeinsame Mittagessen mied, obwohl er oft dem immer hungrigen Ex-Großadmiral Dönitz etwas Brot zuschob und »ein gewisses Maß an bürgerlichen Umgangsformen« wahrte.

Doch immer wieder kam es zu Zusammenstößen. Schirach beschuldigte Speer vor den Mithäftlingen, sie beim Gefängnispersonal zu denunzieren, und an der von Dönitz beanspruchten Badewanne spielten sich erbitterte Wortgefechte zwischen dem Großadmiral und Speer ab.

Sie waren sich meist nur einig. wenn Heß wieder einmal sein Gedächtnis verlor. Plötzlich kannte er den NS-Chefideologen Rosenberg nicht mehr und wußte auch nicht, wer Bismarck war. Speer: »Das wissen Sie nicht, Herr Heß? Doch der Erfinder des Bismarckherings!«

Die kurzen Augenblicke der Gemeinsamkeit aber brachen jäh ab, wenn die Vergangenheit zur Sprache kam. Speer notierte: »Diese Menschen werden nie begreifen, was eigentlich geschehen ist.« Anfangs fiel es auch ihm schwer; das Selbstmitleid verstellte ihm nicht selten tiefere Einsichten in die eigene Schuld.

Da gaukelte sich Speer vor, mit Wendigkeit und Schläue könne man sich vielleicht doch der Vergangenheitsbewältigung entziehen, zumal ihn der »platte Moralismus, der nun -- ja, ich glaube doch eine Art Mode ist«, abstieß. Bald genügten ihm jedoch solche Formeln nicht mehr. Er stieß zur zentralen Frage durch: Hitler und die Verbrechen seines Regimes.

Allmählich erkannte Speer, daß ihn seine »perspektivische Blindheit« lange Zeit daran gehindert habe, »die Elemente meiner Schuld« zu begreifen. Nicht die Himmlers und Bormanns hätten Hitlers Regime erst möglich gemacht, sondern »ich und meinesgleichen waren es viel eher, von deren Idealismus und Hingegebenheit Hitler sich tragen ließ«.

Je mehr Speer aber darüber nachdachte, desto düsterer geriet sein Hitler-Bild. Am Ende empfand er keine Spur von Loyalität gegenüber dem einstigen Freund und Förderer mehr.

Doch dann prüfte er sich in qualvollen Stunden und Nächten, ob er sich nicht wieder einmal kritiklos dem Zeitgeist anpasse und bequem die allgemeine Hitler-Verdammung mitmache. Aber er blieb dabei: »Auch ich kann heute keine gute Seite an ihm entdecken; keine jedenfalls, die seinen ungeheuerlichen Verbrechen die Waage hielte. Was heißt da Treulosigkeit?!«

Speer war von Stund an entschlossen, die Wahrheit über Hitler zu verbreiten. Doch in der Freiheit erlebte er eine arge Enttäuschung: Die Freunde und Verwandten, die seine Kassiber gelesen hatten, verstanden ihn nicht.

Vor allem der einstige Studienfreund Wolters, engster Mitarbeiter Speers im Rüstungsministerium und Autor einer Speer-Biographie (1943), mochte den Urteilen des Ex-Häftlings nicht zustimmen. Die »positiven Leistungen« des Regimes schienen ihm nicht genügend berücksichtigt, Speers »Büßertum« allzu perfekt.

Schon bei ihrer ersten Wiederbegegnung hatten sich die Freunde nicht mehr viel zu sagen, obwohl es noch immer das Papier gab, auf dem Speer bestimmt hatte, im Falle seines Ablebens solle Wolters die Tagebücher herausgeben. Das Erscheinen der »Erinnerungen« vergrößerte den Graben. Speer ahnte: »Ich sehe dich schon die Stirn runzeln und kann mir ungefähr vorstellen, an welchen Stellen das sein wird.«

Als sich Speer 1971 in einem Interview mit Amerikas »Playboy« zu seinem Nürnberger Urteil bekannte, kam es zum zeitweiligen Bruch. Wolters protestiert noch heute: »Im Falle Speers liegt doch überhaupt keine Schuld vor. Nürnberg war reines Siegerrecht. Wer so wie Speer spricht, belastet ja das ganze deutsche Volk -- und das geht nicht.«

Zu Wolters stieß ein anderer Kritiker: der Industriephotograph Hermann Speer, Alberts älterer und erfolgloser Bruder, nach eigenem Zeugnis »manchmal etwas neidisch und voller Selbstzweifel«. Er warf dem Memoirenschreiber vor, Hitler nie freundschaftliche Gefühle entgegengebracht und ihn im Stich gelassen zu haben; es wäre Alberts Pflicht gewesen, den Freund von seinem katastrophalen Kurs abzubringen.

Der Bruder, so Hermann, habe ja »diesen dummen Judenhaß« vorbehaltlos mitgemacht. Er wollte sich sogar erinnern, Albert habe Himmler 1938 den Einsatz von Juden für den Umbau Berlins vorgeschlagen und dabei gesagt: »Die Judde haben ja schon in der ägyptischen Gefangenschaft Ziegel gestrichen.« Dazu Albert Speer: »Ich habe das nie gesagt.«

Als es schließlich 1973 wegen eines Hauses in Mannheim zu einem vermögensrechtlichen Streit zwischen den beiden Brüdern kam, kontaktierte Hermann Speer den renommierten Hitler-Biographen Werner Maser, der entdeckt hatte, daß manche Angaben in Speers »Erinnerungen« nicht mit den Fakten in Einklang zu bringen waren. Er sah sich auch bestätigt durch neue historiographische Arbeiten, so Gregor Janssens »Das Ministerium Speer« und die von Willi A. Boelcke herausgegebenen Protokolle der Hitler-Speer-Besprechungen, die nach dem Urteil des Historikers Wilhelm Treue Teile der Speer-Memoiren »in die Makulatur« verwiesen.

Hermann Speer bot nun Maser an, mit seiner Hilfe ebenfalls Memoiren herauszugeben. Titel: »Mein kleiner Bruder Albert.« Hermann interpretierte: »Etwas Wahrheit über ihn ist längst fällig.«

Auch den ehemaligen Speer-Biographen Wolters, der noch immer Speer-Kassiber besitzt, hoffte Hermann Speer für sein Projekt gewinnen zu können. Doch kaum waren solche Pläne ruchbar geworden, da intervenierte der Ullstein-Verlag bei Maser.

Am 5. November 1973 drohte ihm der Verlag an, er werde sich »gerichtlicher Hilfe bedienen, falls Sie sich tatsächlich darauf berufen sollten, Ihnen stünden an den Memoiren Albert Speers irgendwelche Rechte zu«. Tatsächlich hatte Speer inzwischen die Wolters erteilte Ermächtigung rückgängig gemacht, nach seinem Tod die Papiere veröffentlichen zu lassen.

Gleichwohl sah Ullstein-Chef Siedler Anlaß, die Bearbeitung des Tagebuch-Materials zu beschleunigen. Er wird es nicht ungern gesehen haben, daß sich sein Star-Autor inzwischen mit dem Bruder versöhnte: Albert erfüllte weitgehend die finanziellen Forderungen Hermann Speers.

Siedler ließ sogar Hermann Speer ermuntern, seine Memoiren zu schreiben. Er darf sicher sein, daß keine unangebrachte Erinnerung in Zukunft das Verhältnis der beiden trüben wird. Denn der ältere Speer weiß inzwischen: »Mein Bruder war kein Antisemit.«

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