SPORTLER Große Herzen
Herzforscher Herbert Reindell aus Freiburg kann direkt böse werden, wenn er die Zuschauer beim Radrennen sagen hört: »Die Leute machen sich ja kaputt!« Mit Röntgenkamera und Stethoskop hat der hühnenhafte, 42jährige Professor Jahre auf Aschenbahnen und Fußballplätzen und in Trainingslagern deutscher Olympia- und Nationalmannschaften zugebracht. Deshalb ist Reindell jetzt nach sorgfältiger Auswertung seiner Untersuchungen überzeugt: »Die Leute machen sich gar nicht kaputt. Das ist nur eine dumme Redensart!«
Hauptsächlich interessierte der Professor sich für die Herzen der Sportkanonen. Mit wissenschaftlicher Methodik untersuchte er während des Trainings, vor und unmittelbar nach Wettkämpfen die Herzen von
* 20 Olympiasiegern und Weltmeistern,
* 16 Europameistern,
* 83 deutschen Meistern und
* 116 Jugendsportlern.
Seine Herz-Beobachtungen erstreckten sich über Jahre, die Auswertung über 494 Seiten eines medizinischen Fachberichts.*) Reindell führt darin den Beweis, daß die verschiedenen Sportarten unterschiedliche Herzvergrößerungen ("Sportherzen") verursachen.
Auf seinen Tabellen lassen Sprinter und Springer, Geher und Amateurboxer, also Sportler, die ihr Herz in Training und Wettkampf nicht zu sehr beanspruchen müssen, kaum Herzvergrößerungen erkennen. Ausgeprägte Sportherzen weisen dagegen Radrennfahrer, Rennruderer, Marathonläufer und Berufsringer und -boxer auf. »Also Sportler, die von ihren Herzen hohe Dauerleistungen fordern.«
Als Reindell hörte, daß die Strapazen der Großen Deutschland-Rundfahrt 1949 geradezu »unüberbietbar gewaltig« gewesen seien, wollte er selbst sehen, wie die Herzen der »Giganten der Landstraße« die 14tägige, mörderische Jagd durchhalten. Die Fahrt über 3900 kräftefressende Straßenkilometer, die zu den höchsten sportlichen Dauerleistungen zählt wurde damit in diesem Jahr für den massigen Graukopf aus Freiburg zu einer reinen Herzensangelegenheit.
Die Rennfahrer, traditionsgemäß ärztescheu, machten zuerst unerwartete Schwierigkeiten, als Reindell mit drei Kollegen und einem Pkw. voll medizinisch-technischer Instrumente vor dem Start in Hannover auftauchte. Sie wollten nicht vor die Röntgenkamera und die elektrischen Meßapparate des Professors. »Da war es Ex-Weltmeister Möller - ein alter Patient von mir - der eine große Rede schwang und mich in den Kreis einführte.«
Eine sportkameradschaftliche Ansprache, die dem gemütlichen Schwerathletentyp und ehemaligen Sportstudenten Reindell leicht von der badischen Zunge floß, beseitigte die letzten Hemmungen. »Ich brachte sie schließlich so weit, daß sie sich nach jeder Etappe freiwillig zur Untersuchung stellten.«
In Hannover vor dem Start, in Gießen am ersten Ruhetag und wieder in Hannover innerhalb zwei Stunden nach Zerreißen des Zielbandes holte Reindell die
*) Herbert Reindell: »Diagnostik der Kreislauffrühschäden«. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart. Giganten vor den Röntgenapparat. Er und seine Assistenten fanden die Anforderungen der Rundfahrt übereinstimmend wirklich »gigantisch«.
Das Endresultat überraschte selbst den Sportherz-Experten Reindell: »Unter etwa 270 Untersuchungen war nicht ein einziges Mal der Beweis zu erbringen, daß selbst diese sportliche Höchstleistung das vergrößerte Herz zu schädigen vermag.« In seiner Wohnung in der Freiburger Haydnstraße bewahrt der Professor die Belege dafür auf, die Röntgenbilder, die Elektrokardiogramme*) und medizinischen Untersuchungsbefunde. Für Reindell erbrachten sie die wertvolle Bestätigung seiner bisherigen Forschungsergebnisse.
»Die Untersuchungen lassen einfach den Schluß zu, daß wir im vergrößerten Herzen des Sportlers die von der Natur bewirkte Anpassung an die Anforderungen sehen müssen. Der Kreislauf sorgt durch Umstellung dafür, daß eine Störung ausgeschlossen ist.«
Die Aerzte wissen: Der Kreislauf wird im wesentlichen durch das vegetative Nervensystem, eine Art unbewußt-automatischen Befehlsapparat, gesteuert. Dieser Befehls- und Kontrollapparat reguliert über Nerven und Hormone auch die Anpassung
*) Elektrokardiogramm (EKG) = Die graphische Uebertragung des bei jeder Zusammenziehung (Pumpbewegung) des Herzens erzeugten schwachen elektrischen Stromstoßes. Dieser Stromstoß wird mit Hilfe von Elektronen registriert, die an Arm und Unterschenke) des Patienten angebracht sind. An der Kurve des Elektrokardiogramms kann der Arzt Herzstörungen mit großer Genauigkeit ablesen. der Organe an neue Situationen, die gesteigerte Leistungen fordern. So gleicht, das vegetative Nervensystem zum Beispiel Herzklappenfehler oder Einengungen der Blutbahn automatisch durch Verstärkung der Herzmuskel und Erhöhung des Blutdruckes aus.
Nur der ungestörte Kreislauf kann die von der Sauerstoffzufuhr abhängigen Gewebe genügend ernähren. Bei körperlicher Belastung benötigen die beanspruchten Gewebe einen entsprechend erhöhten Blutzustrom. Also muß die Kreislaufleistung erhöht werden. Das vegetative Nervensystem veranlaßt automatisch über Nerven und Hormonausschüttung gewisse ruhende Organe und Gewebeabschnitte, vor allem die Blutspeicher Milz und Leber, Blutreserven abzugeben und der Zirkulation zuzuführen. Durch die Venen gelangen diese Blutreserven zum Herzen, das so zu einem erhöhten »Produktionsausstoß« (Volumenleistung) befähigt wird.
Den Aerzten ist bekannt, daß sich dieser Ausstoß bei kurzdauernder, mittlerer Arbeitsleistung von durchschnittlich 4,7 Litern auf 12 bis 16 Liter und bei starker Anforderung sogar auf 25 bis 30 Liter in der Minute erhöht. Diese Mehrleistung kann das Herz nur durch eine Erhöhung der Schlagzahl und des Schlagvolumens bewältigen. Dazu muß aber auch das Fassungsvermögen der Herzhöhlen gesteigert werden.
Ständige körperliche Mehrarbeit, vor allem der Sport, führen deshalb zu der als »Sportherz« bekannten Herzvergrößerung. Professor Reindell stellte im Laufe seiner Untersuchungen fest, daß diese Herzvergrößerung beim Sportler jedoch immer erst nach Jahren gesteigerten Trainings auftritt. Darum warnt er konsequent: »Stellt sich schon nach kurzfristiger sportlicher Betätigung (1 bis 2 Jahren) eine Herzvergrößerung ein, dann besteht Verdacht auf Herzmuskelschädigung.«
Er begründet auch, daß das trainierte (also große Herz) mehr als die durchgearbeitete Muskulatur Voraussetzung für die Leistungskraft des Sportlers ist: »Mit der Größenzunahme ändert sich auch grundlegend die Arbeitsweise des Herzens. Die gesamte Kreislaufregulation wird umgestellt. Das Sportherz bringt in Ruhe nur einen Teil des Körperbluts zur Zirkulation. Eine große Restblutmenge wird zurückgehalten und erst bei stärkster Belastung abgegeben.« Das Sportherz ist fähig, seine Tätigkeit schlagartig von Schon- auf Arbeitsgang umzustellen und die Blutreserven auszuwerfen.
Je vollständiger diese späte Entleerung vor sich gehe, desto größer sei dann auch das Fassungsvermögen der Herzhöhlen zur Aufnahme des zurückflutenden Blutes. »Ohne wesentliche Zunahme der Schlagzahl vermag dieses Herz bei stärkster Belastung dadurch das Minutenvolumen ganz beträchtlich zu erhöhen.«
Dagegen: Das krankhaft vergrößerte Herz wirft kein oder fast kein Restblut aus. Der Blutrückfluß bewirkt bei Beanspruchung eine weitere Herzvergrößerung, da hier die Herzhöhlen vom Blutzustrom gedehnt werden. Beim Herz des Trainierten ist das anders: Es vergrößert sich nicht, sondern verkleinert sich sogar, wenn das Restblut völlig ausgeworfen ist.
Das Sportherz ist also eine Art »Blutdepot«, das mit dem Restblut eine beträchtliche Menge bereits arterialisierten (erneuerten) Blutes als »Kraftspritze« zur Verfügung hält. Zu dieser Disposition kommt noch eine besonders günstige Sauerstoffausnützung. Die Muskulatur des Trainierten ist durchgearbeitet und vergrößert. Sie weist eine außerordentlicheKapillardichte auf. Das heißt, das Muskelfleisch ist von einer Unzahl feinster Aederchen durchzogen, die dem arteriellen Blut den Sauerstoffgehalt fast völlig nehmen. Das bedeutet: das Herz braucht sein Minutenvolumen kaum zu erhöhen.
Der Professor zitiert in seinem Buch den Wissenschaftler Robinson, der schon vor 200 Jahren das Herzgewicht proportional mit dem Körpergewicht von Mensch und Tier verglich. Danach haben schnelle, wild lebende Tiere entsprechend ihrer »körperlichen Mehrleistung« größere Herzen als geruhsame Haustiere. Der Mensch hat ein verhältnismäßig kleines Herz. Er steht nach Schwein und Rind an kümmerlicher dritter Stelle. Sogar Hasen haben relativ größere Herzen (s. Graphik).
»Diese Beobachtungen über den Einfluß der Lebensweise auf das Herz sind für die Bewertung des durch den Sport vergrößerten Herzens bisher nur wenig herangezogen worden«, bedauert Reindell. Er plädiert für das Sportherz. »Warum soll das vergrößerte Herz des Sportlers unbedingt ein geschädigtes Herz sein?« Es behaupte auch niemand, die vermehrte Muskulatur des Schwerathleten sei eine »geschädigte Muskulatur«.
»Rekordleute sind also keine Wundermenschen und sportliche Großleistungen keine medizinischen Wunder«, zieht Herzanalytiker Reindell das Fazit. »Natürlich sind auch dem leistungsstarken Herzen Grenzen gesetzt.« Reindell fand auch Gefahrenmomente: »Dies alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Sport mit steigender Belastung das Herz gefährden kann«. Einschränkend: »Unter gewissen Umständen.«
»Gewisse Umstände« sind nach Reindell gegeben, wenn beispielsweise Jugendliche durch unvernünftige Trainer zu hohen Leistungen angespornt werden, ohne daß berücksichtigt wird, welche Uebergangszeit der Kreislauf benötigt, um sich der Leistung anzupassen.
Die bereits »Trainierten« warnt der Professor vor Beanspruchung bei Erkältungskrankheiten und Entzündungen. Diese Infekte gehen immer mit einer zeitlichen Herzschädigung und Kraftminderung Hand in Hand. Sie müssen erst beseitigt sein, bevor das Herz beansprucht wird. »Nicht die Anstrengung ist dann schädigend, sondern das Zusammenwirken von körperlicher Belastung und infektiösen Einflüssen.«
So entdeckte Arzt Reindell bei einem Fahrer der Deutschland-Rundfahrt über die Leistungsminderung des Herzens ein Zahngranulom. Diese entzündliche Geschwulst an der Zahnwurzel zwang den Spitzenfahrer schließlich (über das Herz) zum Ausscheiden aus dem Rennen.
Reindell macht einschränkend geltend, daß die Leistungsfähigkeit an sich am Herzen allein nicht erkannt werden kann. »Es kann einer ein Bombenherz haben und doch nichts leisten, wenn zum Beispiel sein Stoffwechsel nicht in Ordnung ist«. Hier und nicht im Nachlassen der Herzkraft glaubt der Sportprofessor die Gründe dafür zu sehen, daß es für gewisse Höchstleistungen Altersgrenzen gibt. »Diese Grenze ist freilich schwimmend.«
Bei den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften in Stuttgart untersuchte er auch den Sieger über 10000 Meter, Eberlein (31:32,4), und über 3000 Meter, Dompert (9:28,6). Er hatte sie schon einmal, zwölf Jahre zuvor, untersucht. Ein Vergleich der medizinischen Bilder ließ kaum Veränderungen erkennen. »Und dies trotz Kriegsschrecken, Gefangenennot, Hungerzeit und ewiger Lebensangst.« Reindell bezeichnet das als Phänomenund für wissenschaftlich noch nicht ausgewertet.
Normalerweise ist es so, daß bei allen Sportlern die durch langes Training erreichte günstige Kreislaufregulation verschwindet, sobald sie den Sport aufgeben. Ungewöhnte körperliche und seelische Strapazen können dann, wie bei allen Normalen, Fehlregulationen im Kreislauf verursachen.
Aber auch Jahre nach Beendigung des Trainings konnte Reindell bei den Rekordleuten keine Schädigung der Herzmuskulatur durch den Sport feststellen. Das Herz bildet sich dann zur Normalgröße zurück, wie der Professor es am Herzen des Altmeisters der Sechstage-Fahrer, Walter Rütt, sehen konnte.
Herzbesorgt findet Reindell den Nikotingenuß (verständlich, aber) schädlich. Die Wirkung auf den Kreislauf erklärt er mit dem Einfluß des Nikotins auf das vegetative Nervensystem, dessen Erregbarkeitverändert und gesteigert werde. »Das mag bei ruhiger beruflicher Betätigung von untergeordneter Bedeutung sein. Es ist aber nicht mehr belanglos, wenn der Organismus durch körperliche und seelische Belastungen besonders beansprucht wird.«
Professor Reindell, zur Zeit Oberarzt im Röntgenkeller der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg, glaubt wie viele seiner Kollegen, daß vor allem die heutigen »unsicheren Lebensbedingungen« ernsthafte Kreislaufstörungen hervorrufen können. Um die Wechselbeziehung von Organ und Psyche (Seele) zu beweisen, versetzte der 42jährige Riese 25 Versuchspersonen in rund 130 Sitzungen in hypnotischen Schlaf und suggerierte ihnen Vorgänge aus ihrer (einstigen) Erlebniswelt ein.
In dieser Hypnose erlebten die Versuchspersonen noch einmal den Beschuß ihres Wohnhauses durch Artillerie, Bombenangriffe, das plötzliche Auftauchen von Panzern, körperliche Mißhandlungen und ähnliche Schocks. Reindells Erfolg als Hypnotiseur war verblüffend. Ohne nachweisbaren Organbefund konnte der Professor erhebliche Funktionsstörungen und Blutdruckerhöhungen feststellen. Sie waren durch eine vorübergehende Versteifung in den Blutleitungen und durch Verhärtung der Gefäße verursacht worden. Nach Abschluß der Versuchsreihe stand für Reindell fest: »Psychische Vorgänge müssen für die Entstehung der heute so häufigen Kreislaufstörungen als besonders bedeutungsvoll angesehen werden.«
Der Professor glaubt, daß psychische Vorgänge auch die Selbststeuerung durch das vegetative Nervensystem in Unordnung bringen. Schon leichte Gefühlsschwankungen könnten sich also im Kreislauf auswirken. Heftige Erregung wirke besonders stark auf den Blutdruck. Bei gefäßgesunden Soldaten, die längere Zeit im Trommelfeuer lagen, konnte Reindell beträchtliche Blutdrucksteigerungen beobachten. Deshalb ist er überzeugt: »Der Organismus der heute unter großen seelischen Belastungen lebenden Menschen leidet an Fehlsteuerung.« Die Folge sei: Kreislaufstörungen und Herzkrankheiten, die zum Tod führen können.
Dem Herztod möchte Reindell durch sportliches Training, durch Leistungskräftigung des Herzens und Kreislaufumstellung begegnen. Den Sportlern sagt er immer wieder: »Schafft euch große Herzen an!«
[Grafiktext]
HERZGEWICHT im Verhältnis zum Körpergewicht
(in Prozent)
REH 11,55
HASE 7,7
PFERD 6,77
MENSCH 5,88
RIND 5,35
SCHWEIN 4,52
[GrafiktextEnde]