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POLEN Großer Dschungel

Liberale Hochschullehrer und Studenten lassen eine alte polnische Tradition aufleben: Universitäten im Untergrund.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Der Angriff der Polizei war gründlich vorbereitet: die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet, die Durchfahrt für alle zivilen Fahrzeuge und Passanten gesperrt.

Dann stürmten 20 Polizisten und Geheimdienstier die Wohnung des Studenten Boguslaw Sonik in der Krakauer Florianskastraße, stießen die Tür auf und schossen mit Tränengas.

Ziel des nächtlichen Angriffs polnischer Polizisten Mitte Februar war ein privater Gast aus Warschau: Adam Michnik, 30, Historiker und als Mitglied des »Komitees für gesellschaftliche Selbstverteidigung« (KOR) einer der prominentesten Systemkritiker in Polen.

Michnik war nach Krakau gekommen, um vor kleiner Gemeinde, überwiegend Studenten der ehrwürdigen Krakauer Jagiellonen-Universität, eine Vorlesung über die politische Nachkriegsgeschichte Polens zu halten -- nach Behauptung der Polizei illegal.

Doch an den Dozenten Hand anzulegen gelang den Ordnungshütern nicht im ersten Anlauf. Gegen das Tränengas stießen die in der Wohnung versammelten jungen Leute die Fenster auf, und gegen die Polizei bildeten sie um Michnik eine lebende Mauer.

Als sie gar anfingen, die Eindringlinge in Sprechchören weit hörbar »Gesta-po!« zu nennen und ein historisches Kirchenlied mit der Bitte an Gott um die Befreiung des Vaterlandes zu singen, verzog sich das uniformierte Aufgebot.

Weder durch Einschüchterung noch durch massiven Polizeieinsatz lassen sich Lehrveranstaltungen wie die Michnik-Vorlesung, die systemkritische Lehrer und Schüler privat organisieren, noch unterdrücken. Polens »Fliegende Universitäten« (Uniwersytet latajacy), jüngstes Phänomen im Kampf um mehr geistige Freiheiten in Polen, wirken bereits als institutionalisierte Kraft im ganzen Land.

Liberale Hochschullehrer, auch kritische Studenten und Schüler beklagen seit langem das unzureichende Lehrangebot der staatlich kontrollierten Universitäten. Vor allem im geisteswissenschaftlichen Bereich beherrscht in Polen, wie auch in den anderen sozialistischen Ländern, die von der Partei zensierte Sprachregelung Lehre und Forschung.

Erst kürzlich klagte der parteilose Professor Janusz Groszkowski, bis 1976 als Vize des Staatschefs, Vorsitzender der Nationalen Einheitsfront, Präsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Seim-Abgeordneter einer der einflußreichsten Spitzenfunktionäre, in einem offenen Brief: Alle moralischen Werte und Kriterien verkümmern. Die Lüge breitet sich aus und damit Servilität und Schläue ... Es besteht eine große Gefahr, daß in dieser Situation die Gesellschaft sich in eine Herde wilder Bestien und das Land in einen großen Dschungel verwandelt ... Die allgemein praktizierte Unterdrückung der Wahrheit, die Verdrehung der Ereignisse und Tatsachen, zwingt zur dringenden Notwendigkeit, die Fälschungen zu korrigieren und das Wissen der Menschen zu ergänzen ...

Schon im vorigen Jahr begannen KOR und die mit ihm sympathisierenden Studenten-Komitees, die an den Universitäten zu Tabus erklärten Fragen der Studenten, meist zu Vorgängen der aktuellen Politik, auf privat organisierten Vorlesungen durch Experten zu beantworten.

An Stelle dieser eher zufälligen Treffen wurde jetzt eine Organisation mit dem Namen »Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse« gegründet, die sich als Dachverband für Polens Fliegende Universitäten versteht.

In der vorletzten Woche bot die Gesellschaft für das zweite Semester bereits dreizehn Vorlesungsreihen an, in den Fachbereichen Zeitgeschichte, Soziologie, Volkswirtschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Pädagogik Themen sind etwa »Politische Ideologien in der Zeit der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg« bis zu »Erziehung und Gesellschaft«.

Die Dozenten arbeiten unentgeltlich, die Zuhörer, meist Studenten und Schüler, zahlen keine Gebühren. Die Kurse werden grundsätzlich in Privatwohnungen abgehalten, jeder; der einen Platz findet, kann daran teilnehmen, Um den Anschein der Illegalität zu vermeiden, werden sogar die Beamten der Geheimpolizei aufgefordert, an den Veranstaltungen teilzunehmen. Ein »fliegender« Dozent: »Die können nur dazulernen.«

Als Mitglieder eines Programm-Beirats, der für die Themenauswahl verantwortlich zeichnet, haben sich bislang 63 Wissenschaftler zur Verfügung gestellt -- Polens geistige Elite. Dazu gehören KOR-Mitglieder wie der ehemalige Ökonomie-Ordinarius Edward Lipinski und der Pädagoge Jacek Kuron ebenso wie der ehemalige Bildungsminister Wladyslaw Bienkowski, der Genetiker Waclaw Gajewski, der Mikrobiologe Wladyslaw Kunicki-Goldfinger und der Schriftsteller Julian Stryjkowski.

Sogar Professor Jan Józef Szczepanski, bis vor kurzem Präsident der Internationalen Soziologen-Vereinigung und persönlicher Freund des Parteichefs Edward Gierek, arbeitet im Programmrat mit, obgleich er die Aktivitäten des KOR kritisch beurteilt.

Daß es der Parteiführung so besonders schwer fällt, gegen die emanzipierte Alma Mater wirksam vorzugehen, liegt in Polens Tradition begründet: Unter dem gleichen Namen wie heute entstand schon vor fast hundert Jahren, 1885, in dem vom zaristischen Rußland besetzten Warschau Polens erste Fliegende Universität, aufgebaut als Widerstandsnest gegen die Besetzer.

Prominente Natur- und Sozialwissenschaftler gaben, oftmals unter Lebensgefahr, an wechselnden geheimen Orten Unterricht und sabotierten damit die vom Zaren verordnete Russifizierung der Schulen.

Als im Zweiten Weltkrieg die Deutschen das Land besetzten und die Nazis die polnische Elite liquidierten, besannen sich mutige Patrioten erneut auf die konspirative Tradition.

Schon Ende 1939 gab es im besetzten Polen etwa 10000, im dritten Kriegsjahr sogar über eine Million polnischer Kinder, die in Volksschulen und Gymnasien im Untergrund unterrichtet wurden.

Ein großer Teil der aktiven Widerstandsführer lehrte an den vier Universitäten der polnischen Résistance in Warschau, Krakau, Lemberg und Wilna. Der Strafrechtler und Politiker Professor Stanislaw Stomma, im Nachkriegspolen als langjähriger Deutschlandexperte und Sprecher der katholischen Gruppe »Znak« im Parlament bekannt, war einer der Gründer der Untergrunds-Uni in Wilna.

Damals wie heute bemüht sich die Geheimpolizei, den unkontrollierten Gedankenaustausch so weit wie möglich zu verhindern -- im Fall des Historikers Adam Michnik zunächst ohne Erfolg.

Die gestörte Michnik-Vorlesung in Krakau wurde zuendegeführt. Erst nach Mitternacht, als Michnik mit kleinem Begleitschutz wieder auf dem Weg zum Bahnhof war, blieben die Polizisten Sieger. Sie schlugen den Systemkritiker und seine Begleiter mit Fausthieben und Fußtritten zusammen, bevor ein Wagen der Funkstreife die Festgenommenen zur Kommandantur brachte.

Dort bekam Michnik, den die Polizei mangels Anklagegrund nach vier Stunden wieder freilassen mußte, von einem Geheimpolizisten zu hören: »Wenn du dich noch einmal in Krakau zeigst, wirst du hier krepieren« -- eine ernst zu nehmende Warnung: Noch immer sind die Umstände, unter denen im Mai des Vorjahres der Student und KOR-Mitarbeiter Stanislaw Pyjas ums Leben kam, nicht restlos geklärt.

Der in Krakau verprügelte Michnik wurde schon am übernächsten Tag auf dem Weg zu einer weiteren Vorlesung erneut gestoppt.

Die Polizisten stellten den mobilen Dozenten auf den Posener Bahnhof und schickten ihn, mit einer Gratisfahrkarte versehen, nach Warschau zurUck.

Doch auch In der Hauptstadt wollten die Geheimen den aufsässigen Historiker nicht zu Wort kommen lassen. Auf dem Weg zur Vorlesung in einer Privatwohnung nahm die Polizei ihn und seinen Kollegen Kuron am vorletzten Freitag fest.

Am gleichen Tag steckte die Geheimpolizei in Krakau, Lublin, Breslau, Zoppot und Radom zwölf weitere fliegende Universitätslehrer in die Zelle und ließ sie erst nach 48 Stunden, der gesetzlichen Höchstfrist für Festnahmen ohne Anklagebegründung, wieder frei.

Die Warschauer Michnik-Gemeinde kam freilich trotz des Zugriffs der Polizei zu ihrer Vorlesung: Der Dozent hatte seinen Vortrag vorsichtshalber auf Tonband gesprochen, und das wurde vor 125 Zuhörern ohne Störung abgespielt.

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