LANDWIRTSCHAFT Großes Grausen
Wenn das so weitergeht«, klagt Charlotte Stegmüller. Gemüsehändlerin auf dem Münchner Viktualienmarkt »kann ich zumachen« Ihre frische Ware sei nicht mehr gefragt. Die Kunden verlangten nach »alten deutschen Kartoffeln«.
Der Milch- und Käsehändler Johann Pittrich nebenan hat ein Schild aufgehängt: »Unsere Milch wird jeden Tag mehrmals auf Strahlung untersucht. Ihr Genuß ist völlig unbedenklich« Niemand kauft.
»Beim Obst«, so Markthändler Helmut Breu, »achtzig Prozent Minus, Gemüse wird praktisch nicht verkauft, reine Dekoration«
Wie in München ergeht es Händlern auf Wochenmärkten und in Großmarkthallen landauf, landab: Die Deutschen kaufen die Tiefkühltruhen leer, von womöglich verstrahltem Frühjahrsgemüse und radioaktiver Milch lassen sie die Finger, auch wenn die Belastung unter den öffentlich gehandelten Richtwerten liegt.
Der Großteil der diesjährigen Frühgemüse-Ernte wird gar nicht erst zum Verkauf angeboten. Der Gemüsebauer Werner Köbele aus dem baden-württembergischen
Breisach-Gündlingen, der seinen Salat nicht verkaufen darf, rechnet mit Verlusten bis zu 9000 Mark pro Hektar. Nach Schatzung des Gartenbaufachhandels werden in der Bundesrepublik jährlich für drei Milliarden Mark Salat und Spinat, Wirsingkohl und Kräuter verkauft - wegen Tschernobyl sei nun ein Drittel bis mehr als die Hälfte nicht abzusetzen.
Auf der Insel Reichenau im Bodensee, dem größten geschlossenen Anbaugebiet im Süden Baden-Württembergs, müssen 2,5 Millionen Stück Kopfsalat, 250000 Kopf Eisberg- und Eichblattsalat, große Mengen Spinat, Schnittlauch und Petersilie untergepflügt werden. Die Jahresarbeit von 260 Familien und ihren Angestellten ist zunichte; Folien, Samen. Jungpflanzen, Torf und Heizkosten für die Gewächshäuser müssen trotzdem bezahlt werden. Walter Blüm, Vorsitzender der Gemüsegenossenschaft Reichenau: »Wenn es keine Unterstützung gibt, können wir zum Jahresende schließen«
In deutschen Landen herrscht immer noch totale Verwirrung, was wieder frisch auf den Tisch darf, ob die Kühe wieder weiden dürfen, welche Produkte besonders betroffen sind, ob die strengeren hessischen Grenzwerte für die Strahlenbelastung gelten oder die lockeren aus Bonn. Die Konsequenz: eine verständliche allgemeine Vorsicht der Verbraucher, die auch Produkte trifft, die unzweifelhaft unschädlich sind.
Obgleich der weiße deutsche Spargel. der zur Zeit der Ernte nur mit der Spitze aus dem Boden herauslugt, keine nennenswerte Belastung aufweist, ist der Markt zusammengebrochen. Die vielen Gaststätten etwa in und um Schrobenhausen, dem bayrischen Spargelzentrum, in denen sonst um diese Jahreszeit kein Stuhl frei ist, bleiben leer.
Auf 30 Millionen Mark schätzt Josef Plöckl, Vorsitzender der Spargelerzeuger
Südbayerns, den Schaden allein für dieses Gebiet. Einst im Mai kostete der Spargel zehn Mark pro Kilo und mehr. Jetzt ist die höchste Qualitätsstufe für 4,50 Mark zu haben.
Den rund 230 Gartenbaubetrieben im Bereich Kitzingen, die fast ausschließlich von der Gemüseproduktion leben, droht ohne Hilfe der Ruin. Im fränkischen »Knoblauchsland«, dem größten zusammenhängenden Gemüseanbaugebiet Bayerns, sackte der Umsatz um 80 Prozent. Die Nürnberger SPD-Stadtratsfraktion rechnet damit, »daß in den nächsten Wochen im Knoblauchsland fast die Hälfte der rund 250 landwirtschaftlichen Betriebe in Existenznot« gerät.
Da braut sich im Lande etwas zusammen, und weil allenthalben Wahlen bevorstehen, merkten es auch die Regierenden in Bonn. Schließlich zählten die Betroffenen - Landwirte und Ladenbesitzer - bislang zur Klientel der Konservativen. »Die Leute müssen entschädigt werden«, forderte CDU-Generalsekretär Heiner Geißler.
Am vorigen Montagabend beriet die Koalition über Hilfe für die Strahlengeschädigten. So großzügig wie möglich. unbürokratisch und schnell soll es Geld geben. Wenn schon gezahlt werde, empfahl Außenminister Hans-Dietrich Genscher, »dann gleich nach dem Motto: Wer sofort gibt, gibt doppelt«.
Stumm und steif hörte Finanzminister Gerhard Stoltenberg die Versprechungen, die seine Ministerkollegen gegenseitig machten. »Daß dem das große Grausen kommt«, fühlt Agrarminister Kiechles Staatssekretär Georg Gallus mit, »das kann man sich schon vorstellen«
Im Kabinett beschrieb Justizminister Hans Engelhard tags darauf, gestützt auf ein zwölf Seiten langes »Positionspapier betr. Entschädigungsfragen nach Tschernobyl«, den Kollegen Inhalt und Umfang der Ansprüche, die auf den Bonner Finanzminister zukommen.
Ohne Frage müsse, so die Analyse aus dem Hause Engelhard, nach Paragraph 38 des Atomgesetzes der Bund für Schäden im Inland, die durch ein nukleares Ereignis im Ausland entstünden, einen Ausgleich bis zum Höchstbetrag von insgesamt einer Milliarde Mark gewähren. Alle Schäden in der landwirtschaftlichen Produktion, die durch Auflagen staatlicher Stellen - etwa durch die Empfehlung, die Kühe im Stall zu füttern - anfielen, müßten ausgeglichen werden.
Auch dort, wo juristischer Streit einsetzen könnte etwa bei »Einbußen im Bereich der verarbeitenden Betriebe und des Handels«, raten die Bonner Juristen zu einer großzügigen Lösung. Aus »Billigkeitsgründen« sollte dann finanzielle Hilfe geleistet werden, wenn die Rechtslage zweifelhaft sei.
Unklar ist, wie jene Schäden behandelt werden, die wegen einer Änderung des Kaufverhaltens entstehen - wie etwa im Spargel-Fall. Da es »an einem Nachweis der Kausalität zwischen nuklearem Ereignis und konkreter Einbuße« fehle. so die Regierungsjuristen, kämen Ansprüche nicht in Betracht.
Nordrhein-Westfalens Agrarminister Klaus Matthiesen ist da ganz anderer Ansicht. Seine Fachleute haben ihm dargelegt, daß bei einer »weiten Fassung des Atomgesetzes« auch für die indirekten Schäden, wie etwa die Kaufzurückhaltung, gehaftet wird.
Damit noch nicht genug. Schon am 2. Mai habe ein Reiseunternehmer, so berichtete Engelhard im Kabinett, Umsatzeinbußen von 200000 Mark angemeldet - die Firma mußte eine Reise in die gefährdeten russischen Gebiete absagen Die Lufthansa berichtete, bei ihren Osteuropa-Flügen gäbe es Buchungsrückgänge bis zu einem Drittel.
Auch in diesen Fällen, so die Analyse, bestände wohl kein Rechtsanspruch. »Unter Billigkeitsgesichtspunkten« seien diese Schäden aber durchaus zu prüfen.
Wie hoch die Verluste sein werden, ist bislang kaum abschätzbar. Vorvorige Woche, als sich das Kabinett zum ersten Mal mit den finanziellen Folgen der Strahlenbelastung beschäftigte, fragte Stoltenbergs Finanzstaatssekretär Günter Obert für seinen nach Tokio verreisten Chef nach Zahlen. Im Atomgesetz sei eine Haftungsobergrenze von einer Milliarde Mark genannt, so Stoltenbergs Haushaltsspezialist. Obert mißtrauisch: »Reicht das?«
Wohl nicht. Schon die unmittelbaren Schäden der Landwirte und Gärtner können leicht auf diese Summe anschwellen. Die Bayern allein rechnen mit einer halben Milliarde: 300 Millionen Umsatzverlust des Einzelhandels und 200 Millionen Schaden bei Milch und Gemüse.
Jetzt werden republikweit Beamte mit dem Einsammeln der Schadensmeldungen beschäftigt. »Ohne Prüfung«, so Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle, sollen die Bundesländer erst mal Abschlagszahlungen leisten.
Zum Wohlbefinden Stoltenbergs wird dieses Procedere nicht beitragen: Er muß die Endrechnung bezahlen. Großzügig, allzu großzügig, so die Befürchtung des Finanzministers, werden die Ministerpräsidenten sich mit seinem Geld politischen Ärger mit Bauern und Händlern vom Halse schaffen.
Mit einem Trick versuchen die Bonner, etwas von ihrer im Atomgesetz eindeutig festgelegten finanziellen Verpflichtung loszuwerden. Der Bund, so argumentieren Engelhards Juristen, könne nur für solche »adäquaten« Schäden haften, die aufgrund eigener Anordnung eingetreten seien. Wenn etwa, wie im Fall Hessen, ein Land eigene, niedrigere Grenzwerte festlege, dann sei es »Sache der Länder, für eine angemessene Hilfeleistung zu sorgen«.
Klaus Matthiesen sieht das ganz anders. Die Zuständigkeit, so der Mann aus Nordrhein-Westfalen, liege »ausschließlich beim Bund«. Und wenn irgend jemand versuchen sollte, bei ihm etwas abzuladen, dann werde er »jeden Rechtsweg ausschöpfen«. _(Vor dem Hochtemperatur-Reaktor ) _(Schmehausen bei Hamm. )
Vor dem Hochtemperatur-Reaktor Schmehausen bei Hamm.